Elbkiller: 7 Hamburg Krimis. Alfred Bekker
Читать онлайн книгу.warf einen Blick auf die andere Seite des Bettes. Doch dort war niemand. Sie hatten am Vorabend den Geburtstag eines Kollegen gefeiert, und Brock war sich nicht sicher, wie das Ganze geendet hatte. Glücklicherweise nicht mit einem unerwarteten Besucher in seinem Bett. Er dachte kurz darüber nach, wann ein solches Ereignis zum letzten Mal stattgefunden hatte.
Ist lange her, schoss es ihm durch den Kopf.
„Ich komme“, krächzte er in den Hörer und schwang die Füße auf den Boden. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, und er überlegte, ob das bei seinem Alter von vierzig Jahren normal war.
Er brauchte zehn Minuten im Bad und warf sich anschließend in seine Freizeitklamotten. Zuletzt steckte er die Brieftasche mit seinem Ausweis ein. Erst kurz vor der Tür bemerkte er, dass er die Schuhe vergessen hatte.
Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, nach dem Frühstück zu joggen und anschließend eine Jazz-Aufnahme aus seiner umfangreichen Sammlung von Vinyl-Platten auf den Plattenteller zu legen und entspannt die Musik zu genießen.
Als er aus der Haustür trat, wartete der Streifenwagen schon. Er durchquerte die paar Meter durch den Vorgarten und warf sich wortlos auf den Rücksitz. Die uniformierten Kollegen waren so rücksichtsvoll, ihn während der Fahrt nicht zu behelligen, und Brock verlor sich wieder in seinem so abrupt unterbrochenen Traum, in dem es wie so oft um seine geschiedene Frau ging.
Sie hatten die hübsche Wohnung in der Alsterdorfer Straße vor vier Jahren zusammen angemietet. Es dauerte nur zwei Jahre, bis sie feststellten, dass sie nicht zueinander passten. Das heißt, seine Frau hatte das festgestellt. Sie hatten sich freundschaftlich voneinander getrennt und sahen sich immer noch gelegentlich. Nach dem Auszug seiner Frau hatte Brock die Wohnung behalten. Er empfand sie eine Zeit lang kalt und leer, doch inzwischen fühlte er sich dort wieder wohl. Die Wohnung war zu seinem Rückzugsort geworden, und auch die Vermieter im Erdgeschoss waren so rücksichtsvoll, ihn nicht zu belästigen.
Dennoch empfand er einen gewissen Schmerz, wenn er an die gemeinsame Zeit dachte, und er fragte sich, ob es jemals wieder so werden könnte.
„Wir sind da, Herr Hauptkommissar“, riss ihn die Stimme des Fahrers aus seinen Gedanken.
Der Streifenwagen stoppte auf dem kleinen Platz direkt vor dem riesigen Bau der Elbphilharmonie. Brock erkannte einige Polizeifahrzeuge. Auch der Gerichtsmediziner war bereits eingetroffen.
Jetzt, Mitte Juni, war es trotz der frühen Stunde bereits taghell. Der Himmel strahlte in einem sanften Blau, und nur wenige faserige Cirruswölkchen waren zu sehen. Es würde ein schöner Tag werden, und in wenigen Stunden würde es hier vor Touristen wimmeln.
Die während der Bauphase so geschmähte Philharmonie war zu einem absoluten Anziehungspunkt für Touristen geworden und hatte schon Millionen von Besuchern angezogen.
Der Blick von der Besuchergalerie über die Stadt und den Hafen war allerdings auch spektakulär.
Brock starrte an der Fassade hoch. Er hatte sich ursprünglich auch nicht für den Bau begeistern können, doch jetzt empfand er einen gewissen Stolz darauf, dass seine Heimatstadt ein neues Wahrzeichen besaß.
„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar!“
Sein Assistent stand vor ihm, zwei Becher Kaffee in der Hand. Brock nahm einen davon dankend entgegen. Schließlich hatte er noch nicht gefrühstückt. Dunkel erinnerte er sich, dass Spengler in der letzten Nacht Bereitschaftsdienst gehabt hatte. Das erklärte sein frühes Erscheinen.
Er trug über seinen dunkelblauen Jeans ein offenes Hemd und eine beige Popeline Jacke. Rentnerjacken nannte Brock sie insgeheim.
„Was haben wir?“, fragte er mit rauer Stimme.
„Kommen Sie hoch, ich zeige es Ihnen. Sie werden es nicht glauben.“
Der Hauptkommissar nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Das Getränk war lauwarm und besaß einen leichten Geschmack von Spülwasser. Angewidert verzog er das Gesicht. Er legte Wert auf einen guten Kaffee zum Frühstück. In seiner Abteilung hatte er auf eigene Kosten einen teuren Kaffeeautomaten angeschafft. Doch erst als er auch den Kaffee dazu besorgte, schmeckte er, wie er ihn mochte.
Sie identifizierten sich bei dem uniformierten Polizisten, der den Eingang bewachte. Er trug ihre Namen sorgfältig auf einer Liste ein.
Brock warf einen Blick auf die Liste. „Erstaunlich, dass unser Doktor schon anwesend ist. Normalerweise kommt er doch als Letzter.“
Spengler beugte sich zu ihm herüber und raunte: „Er kommt direkt vom Fischmarkt. Hat wohl mit seinen Freunden durchgemacht. Stellen Sie ihm keine Fragen. Er ist ziemlich angesäuert.“
Brock sah seinen Assistenten misstrauisch an, doch der meinte es offenbar ernst.
Auf dem Vorplatz hatten einige Uniformierte inzwischen Flatterband gespannt. Brock deutete auf die Garageneinfahrt. „Da darf auch keiner rein oder raus, bis wir hier fertig sind!“
Spengler zupfte an seinem Ärmel, und sie gingen zu der endlos langen Rolltreppe, die nach oben führte.
Brock war schon einmal hier gewesen. Mit einer kurzfristigen Freundin, wie er sich erinnerte. Einer sehr kurzfristigen, eigentlich nur für eine Nacht und den folgenden Tag, einen Sonntag. Er hatte sie bei einem Abendessen mit Kollegen aus verschiedenen Städten kennengelernt. Sie stammte aus Köln und wollte unbedingt die Elbphilharmonie sehen.
Damals waren viele Menschen hier gewesen, die den gleichen Wunsch verspürten. Sie waren auf der Außengalerie herumspaziert und hatten Hamburg von oben betrachtet.
Ihr Abschied war unspektakulär gewesen. Sie hatten beide gewusst, dass sich die gemeinsamen Stunden nicht wiederholen würden.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, ganz allein auf dieser Rolltreppe zu fahren.
„Es ist das große Fenster unterhalb der Plaza“, meldete sich Spengler zu Wort. „Es befindet sich im ursprünglichen Speicherbau, auf dem das moderne Konstrukt errichtet ist. Wir sind gleich da.“
„Ich weiß, wo das ist“, knurrte Brock. Die Müdigkeit hing ihm immer noch in den Knochen, und für einen Augenblick verspürte er das dringende Bedürfnis nach seinem Bett oder nach einem vernünftigen Frühstück.
Sie hatten das Ende der Rolltreppe erreicht. Dort stand ein weiterer Uniformierter und reichte ihnen Plastikbeutel, die sie über die Schuhe streifen konnten, um den Tatort nicht zu verunreinigen.
Spengler schritt eilig vor ihm her. Dann standen sie wenige Meter vor dem besagten Fenster, und Brock wurde schlagartig wach.
So etwas hatte er in der Tat noch nicht gesehen!
Mit dem Fenster hatten sich die Architekten einen besonderen Effekt einfallen lassen. Es war so in die große Öffnung eingepasst worden, dass es direkt mit der umgebenden Mauer abschloss. Dadurch war das Glas kaum zu erkennen, und man hatte den Eindruck, man könnte mit einem weiteren Schritt ins Freie treten und in die Tiefe stürzen. Viele Besucher hielten deshalb respektvollen Abstand von der Scheibe. Die Illusion war ziemlich überzeugend.
Insofern schien es, als würde der Mann in der Luft schweben, Arme und Beine weit ausgebreitet. Sein Kopf war schräg an die Scheibe gesunken.
Brock trat ein paar Schritte näher, um sich zu überzeugen, dass es real war, was er da sah.
Der Mann war offensichtlich tot. Seine Hände und Füße waren an merkwürdige Geräte gefesselt, die Brock erst aus der Nähe identifizieren konnte.
„Das sind industrielle Saugheber, mit denen Glasscheiben transportiert werden“, erklärte Doktor Fischer, der neben dem Toten stand und breit grinste.
Brock musterte den Pathologen. Er war Mitte fünfzig und machte diesen Job schon sehr lange. Er war außerordentlich gewissenhaft und übersah selten etwas. Vor Gericht war er für jeden Staatsanwalt ein Geschenk. Er ließ sich von keinem Verteidiger aus der Ruhe bringen.
Fischer war heute nicht wie üblich