Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp

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Philosophie der Wissenschaft - Georg Römpp


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einwenden, dass die Erfolge des neuen Denkens zunächst auf Spezialprobleme beschränkt waren, die winzig kleine Wissenschaftlergemeinden beschäftigten. Wenn wir heute an die Erfolge der Wissenschaft denken, dann kommt uns in der Regel der Fortschritt der Medizin in den Sinn und darüber hinaus die technische Anwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Mondlandung über die Erfindung von CD- und DVD-Playern bis hin zur Entwicklung von Nuklearwaffen. Diese Anwendungen sind aber eine Erscheinung erst aus der jüngsten Geschichte, und selbst die medizinische Verwertbarkeit der Wissenschaft begann eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erfolge zu zeigen. Vor der Entdeckung von Antibiotika, Anästhetika und den Erkenntnissen der Virologie und Bakteriologie hatten Ärzte nicht viel mehr Möglichkeiten zur Heilung von Krankheiten als in den vorangegangenen Jahrhunderten.

      Es könnte deshalb plausibler sein, die Veränderungen in der Auffassung des Wissens und seiner Begründbarkeit weg von einem Buchwissen hin zum Erfahrungswissen nicht durch den besseren Erfolg des letzteren zu erklären, sondern durch eine neue Definition von Erfolg, die mit der neuen Orientierung des Wissens an der Sinneserfahrung untrennbar verbunden war. Das alte Wissen wies sich im Grunde überhaupt nicht dadurch aus, dass es Erfolge in der Veränderung und Verbesserung der Welt des Menschen ermöglichte. Es fand seine Beglaubigung vielmehr schon darin, dass es sich auf den Willen Gottes, wie er in als heilig angesehenen Büchern niedergeschrieben war, und auf rein vernunftgegründete Argumentationen stützte, wie sie von den scholastischen Philosophen und Theologen auf der Grundlage des aristotelischen Denkens ausgearbeitet worden waren. Ein Erfolg des Wissens in unserem Sinne war in dieser Konzeption des Wissens überhaupt nicht vorgesehen, sondern ein solcher Erfolg wurde durch Kriterien bestimmt, die im Denken der Wissenschaft heute überhaupt nicht mehr vorkommen.

      Die Wissenschaft beendet den Regress des Begründens, indem sie ihr Wissen durch seinen Bezug auf die Erfahrung ausweist, weshalb neuzeitliche Wissenschaft gleichbedeutend ist mit empirischer Wissenschaft. Diese Minimaldefinition von Wissenschaft im Sinne von ‚science‘ wird heute nur an dem Rand der Wissenschaft nicht als selbstverständlich angesehen, wo die sog. ‚string theory‘ sich in der theoretischen Physik berechtigt sieht, ein kosmologisches Modell zu entwerfen, dessen Aussagen prinzipiell keine empirische Bestätigung oder Widerlegung zulassen. Eine solche ‚nicht-empirische‘ Wissenschaft wird überall sonst als ein Begriff angesehen, der dem eines ‚schwarzen Schimmels‘ gleicht. Möglicherweise ist der Hinweis nicht überflüssig, dass dies natürlich auch für die Quantenphysik und die Relativitätstheorie gilt. Die erfahrungsgeleitete Wissenschaft begründet ihr Wissen ‚letztlich‘ durch den Kontakt unserer Sinne mit der Welt, also durch Wahrnehmung. Ihre Grundlage ist die Annahme, dass unsere fünf Sinne in der Wahrnehmung eine solche Beziehung zur Welt aufnehmen, dass wir eine Grundlage für solche Aussagen und Aussagensysteme über sie finden, die der Definition von ‚Wissen‘ genügen.

      Wir haben zu Beginn dieses Kapitels einen einfachen Begriff von ‚Wissenschaft‘ als ‚science‘ skizziert, der auf weite Akzeptanz Anspruch erheben kann, um diesen Begriff dann mit Blick auf die Philosophie der Wissenschaft durch denjenigen des ‚Wissens‘ zu erläutern und im ‚Begründen‘ zentrieren zu lassen. Auf dieser Grundlage können wir das Problem, das sich einer Wissenschaftsphilosophie stellt, nun dadurch erläutern, dass wir das Begründen in den Zusammenhang des Begriffs des Wissens zurückstellen. Dazu müssen wir einige Beziehungen zwischen dem ‚Begründetsein‘, dem ‚Für-wahr-halten‘ (Glauben) und dem ‚Wahrsein‘ als den Elementen des Wissens verdeutlichen.

      Das Wissen der Wissenschaft liegt in der Form von Sätzen und Zusammenhängen von Sätzen vor, für die Geltung beansprucht wird. Niemand kann behaupten, über wissenschaftliches Wissen zu verfügen, wenn er es nicht sprachlich zum Ausdruck bringen kann. Ein solches Wissen muss also selbst als ein Teil der Welt darstellbar sein, sei es auf Papier oder anderen Materialien, mithilfe elektrochemischer Zustandsveränderungen auf einem Bildschirm oder als akustische Ereignisse in der gesprochenen Sprache. Als wissenschaftliches muss das Wissen mithilfe von Objekten in der Welt repräsentierbar sein. Eine solche Repräsentation muss es erlauben, das Wissen zu reproduzieren. Die Reproduktion muss nach zwei Richtungen möglich sein: zum einen muss sich das Wissen aufbewahren lassen, so dass es mithilfe von Objekten in der Welt, die als Zeichen fungieren, im Prinzip jederzeit als Wissen in einem Subjekt des Wissens wiederhergestellt werden kann; zum anderen muss es sich übertragen lassen, so dass andere Menschen es durch das Verstehen von Zeichen als ihr eigenes Wissen ansehen können, obwohl sie es nicht selbst erzeugt oder gewonnen haben. Ein wissenschaftliches Wissen muss dauerhaft sein und es muss intersubjektiv gelten.

      Auf diese Weise stellt es sich als eine besondere Form des Erklärens dar. Eine wissenschaftliche Erklärung unterscheidet sich also von alltäglichen Erklärungen. Für eine wissenschaftliche Erklärung genügt das subjektive Gefühl nicht, dass etwas für den Augenblick und die gegebene Situation befriedigend klar geworden ist. Eine wissenschaftliche Erklärung soll also nicht nur (1) für gerade den oder die Menschen gelten, denen (2) hier und (3) jetzt in der gegebenen Situation etwas so klar wird, dass es ihnen genügt. Sie soll vielmehr (a) für alle Menschen und (b) überall und (c) immer gelten. Sie soll nicht ein bestimmtes Gefühl beschreiben und sie soll nicht den Zustand eines bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation angeben.

      Solche Erklärungen sind nicht beliebig durch andere Erklärungen ersetzbar. Im Alltag können wir die beklagenswerte Tatsache, dass der Champagner zu warm ist, wahlweise dadurch erklären, dass er zu lange auf dem Tisch stand, oder, wenn wir der Unzufriedenheit mit den schlechten Leistungen des Hauspersonals Ausdruck geben wollen, auch dadurch, dass der Butler nachlässig war. Natürlich sind diese beiden Erklärungen kompatibel. Aber für eine Alltagserklärung kommt es nur darauf an, dass ein ausreichendes Gefühl für das Klarwerden eines Ereignisses oder eines Phänomens entsteht, und dafür können wir zwischen der einen und der anderen Erklärung (und sicher noch vielen anderen) wählen. Es gibt hier eigentlich keine richtigen und falschen Erklärungen, sondern eine Erklärung gelingt, wenn sie uns das befriedigende Gefühl des genügenden Klarwerdens verschafft, und sie misslingt, wenn sie uns in dieser Hinsicht unbefriedigt lässt.

      Wissenschaftliche Erklärungen sind also deshalb nicht beliebig ersetzbar durch andere Erklärungen, weil ihr Gelingen nicht durch das Kriterium der Erzeugung eines subjektiven Gefühls oder Zustandes beim Adressaten der Erklärung (der auch derjenige selbst sein kann, der die Erklärung gibt) bestimmt wird. Es mag viele Menschen geben, deren subjektiver Erklärungsbedarf dadurch befriedigt wird, dass der im Vergleich zu Menschen, die schon länger in Deutschland leben, geringere Bildungserfolg von Migranten auf genetische Faktoren zurückgeführt wird. Die wissenschaftliche Erklärung dagegen, welche die Ursache für diese Tatsache im vergleichsweise geringeren Bildungsstand der Herkunftsfamilien erkennt und weiß, dass der Bildungsstand der Eltern der wichtigste Faktor für die Prognose von Bildungserfolg darstellt, mag für eben diese Menschen gerade keine befriedigende Erklärung liefern, d. h. sie versetzt sie nicht in den entsprechenden Zustand, in dem sie ein Gefühl des ‚Klarwerdens‘ bzw. des ‚Erklärtseins‘ erleben. Aber solche Beispiele lassen sich auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft finden. Wer die kontraintuitive Idee eines Raum-Zeit-Kontinuums zum Besten gibt und dafür – wissenschaftlich korrekt – die Relativitätstheorie als Erklärung heranzieht, wird bei den meisten Menschen keinen Zustand des ‚Klarwerdens‘ mit dem Gefühl einer zufriedenstellenden Erklärung erreichen.

      Diese fundamentalen Ansprüche an eine wissenschaftliche Erklärung, mit der wissenschaftliches Wissen sich von anderem und nicht wissenschaftlich erklärendem Wissen unterscheidet, werden in der Wissenschaft auf verschiedene Weise eingelöst. Hauptsächlich lassen sich vier verschiedene Typen der wissenschaftlichen Erklärung unterscheiden:

      1) Die deduktiv-nomologische Erklärung, bei der die Ereignisse aus einem allgemeinen Gesetz abgeleitet werden. Der Erklärungserfolg hängt hier von der Geltung deterministischer Gesetze und von der richtigen Subsumtion einzelner Ereignisse ab. Es ist allerdings nicht richtig zu sagen, dass damit kausale Erklärungen vorgenommen werden. Eine kausale Erklärung beruht auf einem Unterschied in der Zeit nach früher und später, weshalb sie nur auf irreversible Vorgänge anzuwenden ist. Dagegen spielt


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