Verändere dein Bewusstsein. Michael Pollan

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Verändere dein Bewusstsein - Michael Pollan


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von uns entwickelt solche vereinfachenden Wege, alltägliche Erfahrungen einzuordnen und zu verarbeiten oder Probleme zu lösen, und obwohl das zweifellos eine Anpassungsleistung ist – es hilft uns, unsere Aufgaben ohne viel Aufhebens zu erledigen –, wird es irgendwann mechanisch. Es stumpft uns ab. Die Muskeln der Aufmerksamkeit verkümmern.

      Gewohnheiten sind unbestreitbar nützliche Hilfsmittel, die uns von der Notwendigkeit befreien, jedes Mal eine komplexe geistige Tätigkeit auszuführen, wenn wir vor einer neuen Aufgabe oder Situation stehen. Doch sie befreien uns auch von der Notwendigkeit, der Welt gegenüber wach zu bleiben: daran teilzunehmen, zu fühlen, zu denken und dann wohlüberlegt zu handeln. (Das heißt, eher aus freiem Willen als unter Zwang.) Um sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sehr geistige Gewohnheiten uns blind gegenüber Erfahrungen machen, muss man bloß in ein fremdes Land reisen. Plötzlich wacht man auf! Und die Algorithmen des täglichen Lebens fangen gewissermaßen bei null an. Das ist der Grund, warum die verschiedenen Reisemetaphern für die psychedelische Erfahrung so treffend sind. So nützlich die Effizienz des erwachsenen Geistes auch sein mag, sie macht uns blind für den gegenwärtigen Augenblick. Wir springen ständig zur nächsten Sache. Wir behandeln Erfahrungen wie ein Programm künstlicher Intelligenz (KI), denn unser Gehirn übersetzt ständig Daten aus der Gegenwart in Begriffe der Vergangenheit, sucht dort nach der maßgeblichen Erfahrung und benutzt diese, um möglichst gut einzuschätzen, wie man die Zukunft vorhersagt und bewältigt.

      Eins der Dinge, das für Reise, Kunst, Natur, Arbeit und bestimmte Drogen spricht, ist die Art, wie diese Erfahrungen im günstigsten Fall jeden geistigen Pfad in Vergangenheit und Zukunft abriegeln und uns in den Strom der Gegenwart tauchen, der wahrhaft erstaunlich ist – denn Staunen ist die Nebenwirkung des unbelasteten ersten oder jungfräulichen Blicks, dem sich das erwachsene Gehirn verschlossen hat. (Das ist so ineffizient!) Wenn ich meine Zeit in der nahen Zukunft verbringe, ist mein psychisches Thermostat leider Gottes größtenteils auf ein niedriges Simmern von Erwartung und allzu oft auf Sorge eingestellt. Das Gute ist, ich werde nur selten überrascht. Was wiederum zugleich das Schlechte ist.

      Was ich hier zu beschreiben versuche, ist die Voreinstellung meines Bewusstseins. Sie funktioniert recht gut, erledigt alle Aufgaben, aber was, wenn sie nicht die einzige oder zwangsläufig beste Art ist, durchs Leben zu gehen? Die Prämisse der Psychedelik-Forschung ist, dass diese spezielle Gruppe von Molekülen uns Zugang zu anderen Bewusstseinsformen verschaffen kann, die uns spezielle Vorteile bringen könnten, ob therapeutischer, spiritueller oder kreativer Natur. Psychedelika sind bestimmt nicht die einzige Tür zu diesen anderen Bewusstseinsformen – ich erforsche in diesem Buch auch nichtpharmakologische Alternativen –, doch an diesem Knopf lässt sich offenbar am leichtesten drehen.

      Der Gedanke, das Repertoire unserer Bewusstseinszustände zu erweitern, ist keine völlig neue Idee – Hinduismus und Buddhismus sind davon durchdrungen, und auch in der westlichen Wissenschaft gibt es faszinierende Beispiele. William James, der wegweisende amerikanische Psychologe und Autor von Die Vielfalt religiöser Erfahrung, wagte sich schon vor mehr als einem Jahrhundert in diese Welt. Er kehrte mit der Überzeugung zurück, dass unser normales Wachbewusstsein «nur ein besonderer Typ von Bewußtsein ist, während um ihn herum, von ihm durch den dünnsten Schirm getrennt, mögliche Bewußtseinsformen liegen, die ganz andersartig sind».9

      Mir war klar, dass James von den ungeöffneten Türen in unserem Denken spricht. Für ihn war Lachgas der «Kontakt», der die Tür aufstoßen und die Welt auf der anderen Seite enthüllen konnte. (Meskalin, die psychedelische Substanz, die aus dem Peyote-Kaktus gewonnen wird, stand den Forschern damals bereits zur Verfügung, doch James hatte offenbar zu große Angst, es auszuprobieren.)

      «Keine Betrachtung des Universums kann abschließend sein, die diese anderen Bewußtseinsformen ganz außer Betracht läßt.10 Auf jeden Fall», folgerte James, verböten diese anderen Zustände, deren Existenz er für so real wie die Tinte auf dieser Seite hielt, «einen voreiligen Abschluß unserer Rechnung mit der Realität».11

      Als ich diese Sätze zum ersten Mal las, begriff ich, dass James mich durchschaute: Als überzeugter Materialist und Erwachsener in einem gewissen Alter hatte ich meine Rechnung mit der Realität abgeschlossen. Vielleicht war das voreilig gewesen. Tja, hier war die Aufforderung, sie wieder aufzumachen.

      Wenn das normale Wachbewusstsein nur eine von mehreren möglichen Arten ist, eine Welt zu konstruieren, dann ist es vielleicht sinnvoll, eine größere neuronale Vielfalt auszubilden. In diesem Sinne nähert sich Verändere dein Bewusstsein dem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln und setzt verschiedene Darstellungsformen ein: Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte, Naturkunde, Memoir, Wissenschaftsjournalismus und Fallstudien von Versuchspersonen und Patienten. In der Mitte der Reise liefere ich einen Bericht von meiner eigenen Erkundung (oder vielleicht sollte ich Suche sagen) in Form einer geistigen Reisebeschreibung.

      Bei der Schilderung der Geschichte der Psychedelik-Forschung in Vergangenheit und Gegenwart versuche ich nicht, umfassend zu sein. Das Thema Psychedelika als Gegenstand der Wissenschaft und der Gesellschaftsgeschichte ist zu umfangreich, um zwischen die Deckel eines einzigen Buchs zu passen. Statt zu versuchen, den Leser mit all den Menschen bekannt zu machen, die für die Psychedelik-Renaissance verantwortlich sind, konzentriert sich meine Schilderung auf eine kleine Anzahl von Pionieren, die eine bestimmte wissenschaftliche Linie vertreten, mit dem unvermeidlichen Resultat, dass die Beiträge vieler anderer nur kurz abgehandelt werden. Und im Interesse einer stringenten Erzählung habe ich mich auf bestimmte Drogen konzentriert und andere ausgeschlossen. MDMA (auch bekannt als Ecstasy), das bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen vielversprechende Ergebnisse zeigt, kommt hier beispielsweise kaum vor. Manche Forscher zählen MDMA zu den Psychedelika, die meisten jedoch nicht, und darin folge ich ihnen. MDMA wirkt im Gehirn auf andere Weise und hat im Wesentlichen einen anderen gesellschaftlichen Hintergrund als die sogenannten klassischen Psychedelika. Von diesen konzentriere ich mich vornehmlich auf die Substanzen, denen die Wissenschaft die größte Aufmerksamkeit widmet – Psilocybin und LSD –, das heißt, dass andere Psychedelika, die ebenso interessant und wirksam, aber im Labor schwieriger zu testen sind – wie beispielweise Ayahuasca –, weniger Aufmerksamkeit erhalten.

      Ein letztes Wort zu Fachausdrücken. Der Klasse von Molekülen, zu der Psilocybin und LSD (sowie Meskalin, DMT und eine Handvoll andere) gehören, wurden seit ihrem Bekanntwerden viele Namen gegeben. Anfangs wurden sie Halluzinogene genannt. Doch sie haben so viele andere Eigenschaften (und richtiggehende Halluzinationen sind eher ungewöhnlich), dass die Forschung schon bald nach präziseren, aussagekräftigeren Begriffen suchte, wie ich im dritten Kapitel ausführe. Der Begriff «Psychedelika», den ich größtenteils verwende, hat seine Nachteile.12 In den 1960er Jahren bereitwillig angenommen, schleppt der Begriff den unseligen Ballast der Gegenkultur mit sich herum. In der Hoffnung, diesen Assoziationen zu entkommen und die spirituelle Dimension dieser Drogen hervorzuheben, haben einige Forscher vorgeschlagen, sie stattdessen «Entheogene» zu nennen – was im Griechischen «das Göttliche im Innern» heißt. Das erscheint mir zu hochgestochen. Trotz der 1960er-Jahre-Symbolik ist der 1956 geprägte Begriff «Psychedelikum» etymologisch korrekt. Abgeleitet aus dem Griechischen, bedeutet es einfach «den Geist offenbarend» – und genau das bringen diese außergewöhnlichen Moleküle zustande.

      * Die Inuit scheinen die Ausnahme zu sein, die die Regel bestätigt, aber nur weil dort, wo sie leben, keine psychoaktiven Pflanzen wachsen. (Zumindest noch nicht.)

      * David J. Nutt: Drugs Without the Hot Air: Minimising the Harms of Legal and Illegal Drugs. Cambridge, U.K.: UIT 2012. Das ist der der Grund, warum Leute, die Psychedelika «mikrodosieren», sie nie an aufeinanderfolgenden Tagen nehmen.

      * Theresa M. Carbonaro et al.: «Survey Study of Challenging Experiences After Ingesting Psilocybin Mushrooms: Acute and Enduring Positive and Negative Consequences.» In: Journal of Psychopharmacology (2016), S. 1268–1278. Die Umfrage ergab, dass 7,6% der befragten Personen sich wegen «eines oder mehrerer psychologischer Symptome, die sie ihrer schlimmen Psilocybin-Erfahrung zuschrieben», in Behandlung begaben.

       Eine Renaissance

      Wenn


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