Kochen. Michael Pollan

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Kochen - Michael Pollan


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gerne daran, wie sie früher in der Küche ihrer Mutter bei der Arbeit zuschauten. Ihre Kochkünste sahen manchmal aus wie Hexerei, und das Ergebnis war üblicherweise ein leckeres Essen. Im alten Griechenland gab es für »Koch«, »Metzger« und »Priester« nur ein Wort – mageiros. Es hat eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort »Magie«. Ich jedenfalls sah immer fasziniert zu, wenn meine Mutter ihre magischsten Gerichte zauberte, zum Beispiel ihre panierten Hähnchenrouladen Kiew. Wenn man sie mit einem scharfen Messer aufschnitt, quollen geschmolzene Butter und würzige Kräuter heraus. Selbst wenn meine Mutter nur gewöhnliches Rührei machte, fand ich es fesselnd, wie der klebrige gelbe Schleim die Form von duftenden Goldnuggets annahm. Noch das alltäglichste Gericht durchläuft einen magischen Verwandlungsprozess, nach dem es etwas mehr ist als die Summe seiner Zutaten. Und in fast jedem Gericht finden sich neben den kulinarischen Zutaten auch die Bestandteile einer Geschichte: ein Anfang, eine Mitte und ein Ende.

      Dann sind da noch die Köche selbst, die Helden, die diese kleinen Verwandlungsschauspiele aufführen. Die Rhythmen und Abläufe ihrer Arbeit verschwinden zwar allmählich aus unserem eigenen Alltag, dennoch ziehen sie uns an. Diese Arbeit wirkt so viel konkreter und befriedigender als die eher abstrakten Tätigkeiten, die die meisten von uns heutzutage in ihren Jobs ausführen. Köche haben es nicht nur mit Tastaturen oder Bildschirmen zu tun, sondern nehmen so ursprüngliche Dinge wie Pflanzen, Tiere und Pilze in die Hände. Und sie arbeiten mit den Urelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Sie beherrschen sie und nutzen sie für ihre köstliche Alchemie. Wie viele von uns üben noch Tätigkeiten aus, bei denen sie in so direktem Kontakt zur materiellen Welt stehen, der – vorausgesetzt, die Hähnchenrouladen Kiew laufen nicht vorzeitig aus oder das Soufflé fällt zusammen – am Ende zu einem so befriedigenden und appetitlichen Ergebnis führt?

      Der Grund, warum wir gerne Kochsendungen ansehen und Bücher übers Kochen lesen, könnte also sein, dass das Kochen einige Aspekte hat, die wir wirklich vermissen. Wir denken vielleicht, wir hätten nicht genug Zeit, Energie oder Kochkenntnisse, um jeden Tag selbst zu kochen, wir wollen das Kochen jedoch nicht vollständig aus unserem Leben verschwinden sehen. Wenn es, wie Anthropologen meinen, eine prägende menschliche Tätigkeit ist – der Akt, mit dem nach Lévi-Strauss Kultur überhaupt beginnt –, dann sollte es uns nicht überraschen, dass es tiefe emotionale Saiten in uns berührt, wenn wir zusehen, wie sich die Prozesse des Kochens vor uns offenbaren.

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      Die Vorstellung, das Kochen sei eine entscheidende menschliche Tätigkeit, ist nicht neu. So schrieb der schottische Autor James Boswell 1773 den Satz »Kein Tier ist ein Koch« und nannte den Homo sapiens »das kochende Tier«. Womöglich hätte er diese Definition noch einmal überdacht, wenn er die Tiefkühlabteilungen unserer heutigen Supermärkte hätte sehen können. Fünfzig Jahre später behauptete der französische Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin in seiner Physiologie des Geschmacks, das Kochen mache uns zu dem, was wir sind. Indem es die Menschen lehrte, das Feuer zu nutzen, habe es am stärksten zur Entwicklung der Zivilisation beigetragen. 1964 berichtete Lévi-Strauss in Das Rohe und das Gekochte, dass in vielen Kulturen der Welt eine ganz ähnliche Auffassung herrscht, wonach das Kochen als symbolische Handlung den Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht.

      Für Lévi-Strauss war das Kochen eine Metapher für die Verwandlung von roher in gekochte Natur durch den Menschen. In den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von Das Rohe und das Gekochte griffen andere Anthropologen seine Vorstellung auf, die Erfindung des Kochens könne der evolutionäre Schlüssel zu unserer Menschlichkeit sein. Vor einigen Jahren veröffentlichte Richard Wrangham, ein Anthropologe und Primatenforscher von der Harvard-Universität, ein bestechendes Buch mit dem Titel Feuer fangen, in dem er argumentierte, es sei die Erfindung des Kochens durch unsere frühen Vorfahren – und nicht die Herstellung von Werkzeugen, der Verzehr von Fleisch oder die Sprache – gewesen, die uns vom Affen abhob und menschlich machte. Seiner »Kochhypothese« zufolge veränderte das Aufkommen gekochter Nahrung den Verlauf der menschlichen Evolution. Weil diese Kost energiereicher und leichter verdaulich war, konnten die Gehirne unserer Vorfahren wachsen (denn Gehirne sind notorische Energiefresser) und ihre Verdauungsorgane schrumpfen. Da es viel mehr Zeit und Energie kostet, rohe Nahrung zu kauen und zu verdauen, haben Primaten unserer Größe einen deutlich größeren Verdauungstrakt als wir und verbringen viel mehr Zeit mit Kauen – etwa sechs Stunden am Tag.

      Das Kochen nahm uns also sozusagen einen Teil der Arbeit des Kauens und Verdauens ab und vollzog ihn außerhalb unseres Körpers, unter Verwendung äußerer Energiequellen. Zudem konnten wir mit dieser neuen Technologie viele mögliche Kalorienlieferanten entgiften und uns dadurch neue Nahrungsquellen erschließen, die andere Lebewesen nicht nutzen konnten. Als die Menschen nicht mehr den ganzen Tag lang große Mengen roher Nahrung sammeln und stundenlang kauen mussten, konnten sie die so gesparte Zeit und Energie für andere Zwecke wie die Entwicklung einer Kultur nutzen.

      Tatsächlich bescherte uns das Kochen aber nicht nur die Mahlzeit, sondern auch die Möglichkeit, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gemeinsam zu essen. Das war etwas Neues unter der Sonne, denn als wir noch den ganzen Tag mit der Suche nach roher Nahrung beschäftigt waren, aßen wir wahrscheinlich unterwegs und allein, wie alle anderen Tiere – beziehungsweise wie die Konsumenten industriell verarbeiteter Nahrung, zu denen wir in den letzten Jahrzehnten geworden sind, die sich an einer Tankstelle Fertigsnacks besorgen und sie allein futtern, wann immer und wo immer sie wollen. Doch als wir uns zu gemeinsamen Mahlzeiten ums Feuer versammelten, Augenkontakt herstellten, Essen teilten und Selbstbeherrschung übten, förderte dies unsere Zivilisierung. Um dieses Feuer herum »wurden wir zahmer«, schrieb Wrangham.

      So veränderte uns das Kochen, und zwar nicht nur, indem es uns geselliger und umgänglicher machte. Sobald es uns erlaubte, unsere kognitive Kapazität auf Kosten der Kapazität unseres Verdauungssystems zu erweitern, gab es kein Zurück mehr: Unsere großen Gehirne und kleinen Verdauungsorgane machten uns von gekochtem Essen abhängig. (Rohköstler aufgemerkt!) Das bedeutet, dass das Kochen nun eine Notwendigkeit ist – es wurde sozusagen in unsere Biologie einprogrammiert. Was Winston Churchill einmal über Architektur sagte – »Zuerst gestalten wir Gebäude, dann gestalten sie uns« –, könnte auch übers Kochen gesagt werden. Zuerst veränderten wir unsere Nahrung, dann veränderte sie uns.

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      Sollte das Kochen für die menschliche Identität, Biologie und Kultur von so entscheidender Bedeutung sein, wie Wrangham annimmt, leuchtet es ein, dass sein Rückgang beträchtliche Konsequenzen für das moderne Leben hat. Sind diese Konsequenzen alle negativ? Keineswegs. Die Möglichkeit, einen großen Teil der Kocharbeit Unternehmen zu überlassen, befreite die Frauen von ihrer traditionell alleinigen Verantwortung für die Ernährung der Familie und erleichterte es ihnen, außer Haus zu arbeiten und Karriere zu machen. Diese Alternative zum Selbstkochen verhinderte oder entschärfte viele der Konflikte und häuslichen Streitigkeiten, die eine derart große Veränderung der Geschlechterrollen und der Familiendynamik auslösen musste. Sie half uns, alle möglichen anderen Belastungen des Familienlebens – wie längere Arbeitstage oder übervolle Terminkalender der Kinder – zu bewältigen, und sparte uns Zeit, die wir nun in andere Aktivitäten investieren konnten. Überdies brachte sie erheblich mehr Abwechslung in unseren Speiseplan. Selbst Leute ohne Kochkenntnisse und mit wenig Geld können an jedem Abend der Woche eine andere Küche genießen. Alles, was es dazu braucht, ist eine Mikrowelle.

      Das sind große Vorteile. Doch was sie uns kosten, beginnen wir erst jetzt zu begreifen. Das industrielle Kochen hat gravierende Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Unternehmen kochen ganz anders als Privatleute oder Profiköche, weshalb wir ihre Tätigkeit auch nicht kochen nennen, sondern »Lebensmittelverarbeitung«. Sie verwenden in der Regel viel mehr Zucker, Fett und Salz als Leute, die für andere Leute kochen. Und sie setzen neue chemische Zutaten ein, die in privaten Speisekammern kaum zu finden sind, um ihre Lebensmittel haltbarer zu machen und frischer aussehen zu lassen, als sie sind. Deshalb überrascht es nicht, dass der Rückgang des Selbstkochens mit einer Zunahme von Fettleibigkeit und aller ernährungsbedingten chronischen Krankheiten einhergeht.

      Der


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