Die Intelligenz der Pflanzen. Stefano Mancuso
Читать онлайн книгу.von Aristoteles und Demokrit galten Pflanzen im antiken Griechenland – allem Widerspruch zum Trotz – vielfach als gleichermaßen unbeseelt wie intelligent.
Und selbst Mitte des 18. Jahrhunderts wirkten beide Konzepte noch in der Gedankenwelt des Mannes fort, der als Vater der botanischen Systematik gilt: Carl Nilsson Linnæus.
Die Väter der Botanik: Linné und Darwin
Die Klassifizierung der Pflanzen machte den Arzt, Forschungsreisenden und Naturkundler, der besser unter dem Namen Carl von Linné (1707–1778) bekannt ist, weltberühmt – und brachte ihm den Ruf des »großen Systematikers« ein. Allerdings wird ihm der Ruf nur teilweise gerecht, denn Linné widmete sich, neben seiner bedeutenden Klassifizierungstätigkeit, ein Leben lang der Forschung.
Linné war ein überaus origineller Denker. So bestimmte er die »Fortpflanzungsorgane« und das »Sexualsystem« der Pflanzen als grundlegendes Kriterium seiner Taxonomie – was ihm kurioserweise zugleich einen Universitätslehrstuhl und eine Verurteilung wegen »Unmoral« einbrachte. Denn es war zwar bekannt, dass Pflanzen ein Geschlecht besitzen, doch die Erforschung desselben zu Klassifizierungszwecken löste einen Skandal aus. Und Linné vertrat noch eine andere neuartige Theorie, die nur aus purem Zufall nicht ebenso angegriffen wurde. Er behauptete nämlich schlicht und einfach, dass Pflanzen schlafen.
Nicht einmal im Titel der kurzen Abhandlung Somnus plantarum (Der Schlaf der Pflanzen) von 1755 ließ Linné die übliche Vorsicht walten, mit der Wissenschaftler sich damals vor möglichen Angriffen schützten. In dem Werk ging er einfach vom damaligen Forschungsstand und eigenen Beobachtungen der veränderten nächtlichen Blattstellung aus und folgerte lapidar, dass Pflanzen schlafen. Anmerken muss man vielleicht, dass Wissenschaftler erst heute im Schlaf eine grundlegende biologische Funktion sehen, die mit hoch entwickelten Gehirnaktivitäten zusammenhängt. Doch wie auch immer – Linnés Idee stieß jedenfalls auf keinerlei Widerspruch. Heute dagegen wird seine Theorie vielfach angezweifelt; und wären Linné die vielfältigen Funktionen des Schlafes bekannt gewesen, wer weiß, ob er seine Beobachtungen nicht selbst anders interpretiert und Pflanzen jede mit Tieren vergleichbare Aktivität abgesprochen hätte. In einem Fall hat er zumindest genau das getan: nämlich bei den fleischfressenden Pflanzen. Linné kannte einige fleischfressende Pflanzen sehr gut, beispielsweise die Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula), und hat zweifellos beobachtet, wie sich die Pflanze über einem Insekt schließt und es verdaut. Eine insektenfressende Pflanze war für ihn jedoch so wenig mit der starren Rangordnung der Natur – und der niederen Stufe der Pflanzen – vereinbar, dass er wie andere seiner Zeitgenossen zahllose Erklärungen ersann, um nicht zugeben zu müssen, was offensichtlich war. Er stellte, ohne irgendeinen wissenschaftlichen Nachweis, die abenteuerlichsten Behauptungen auf: Die Insekten sterben gar nicht, sie halten sich freiwillig oder aus Bequemlichkeit im Inneren der Pflanze auf, sie besuchen die Pflanze aus purem Zufall und nicht, weil sie bewusst angelockt werden, oder die Pflanzenfalle klappt rein zufällig zu. Nie und nimmer sei die Pflanze jedenfalls in der Lage, ein Tier zu erbeuten. Ganz offensichtlich war das widersprüchliche Bild der Pflanzenwelt im Kopf des großen schwedischen Botanikers noch höchst lebendig.
Erst mit Charles Darwin und seiner Abhandlung Insectenfressende Pflanzen von 1875 sollten sich die Dinge wandeln. Darwin erkannte schließlich an, dass sich pflanzliche Organismen auch von Tieren ernähren. Mit der ihm eigenen Vorsicht ging er allerdings nicht so weit, solche Pflanzen, wie heute, als »fleischfressend« zu bezeichnen – obwohl er sogar Mega-Fleischfresser wie Nepenthes-Arten kannte, die Kleintiere wie Ratten und andere verspeisen. Von wegen »Insektenfresser«!
Doch wir sollten uns nicht über Darwin und seine Vorsicht mokieren – ebenso wenig wie über Galileo Galilei und andere Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte. Gerade ihre »Diplomatie« sorgte nämlich dafür, dass sich manch revolutionäre Idee langsam, aber sicher ihren Weg ins allgemeine Bewusstsein – und das der extrem konservativen Wissenschaftszirkel – bahnen konnte.
Was Linné betrifft, stellt sich natürlich die Frage, warum er für seine dreiste Behauptung, dass Pflanzen schlafen, nicht angegriffen oder aus der Wissenschaftswelt ausgeschlossen wurde. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Seine Theorie galt lange Zeit als dermaßen unsinnig, dass man es nicht für nötig befand, sie anzufechten. Und wen interessierte schon, ob Pflanzen schlafen oder nicht, wenn dem Schlaf keine besondere Funktion zukam?
Heute kennen wir die lebenswichtigen zerebralen Funktionen, die mit diesem physiologischen Vorgang zusammenhängen. Doch noch vor zehn Jahren dachte selbst die Wissenschaft, nur höher entwickelte Tiere würden schlafen. Bis der italienische Neurowissenschaftler Giulio Tononi den Gegenbeweis erbrachte: Im Jahr 2000 wies er nach, dass sogar ein einfaches Insekt wie die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) in einen wohlverdienten Schlaf fällt.
Nur Pflanzen sollen also nicht schlafen? Die einzig plausible Erklärung dafür ist, dass schlafende Pflanzen nicht in das Bild passen, das wir uns vom Pflanzenreich machen.
Der Mensch ist das höchstentwickelte Lebewesen. Oder?
Unsere Vorstellung vom Pflanzenreich und der »Hierarchie der Lebewesen«, der wir nunmehr seit Jahrhunderten anhängen, geht bis auf Charles de Bouelles (1479–1567) und seine Schrift De sapiente (Vom Wissen) von 1509 zurück.
Die »Hierarchie der Lebewesen« im Liber de sapiente (1509) von Charles de Bouelles: Sie prägt noch heute unsere Vorstellung von der Natur.
Eine Abbildung aus dem Werk verrät mehr als tausend Worte: Sie zeigt, auf Treppenstufen angeordnet, die belebte und unbelebte Natur. Auf den Fels – der lapidar »est«, also einfach existiert – folgen die Pflanzenwelt – die »est et vivit«, also existiert und lebt – und die Tierwelt – die »sentit«, Empfindungsvermögen besitzt – und schließlich der Mensch, der »intelligit« und damit als Einziger vernunftbegabt ist. Die Vorstellung der Renaissance, Lebewesen seien unterschiedlich entwickelt und beseelt, wirkt bis heute fort und gehört zu unserem kulturellen Erbe, von dem wir uns nur schwer lösen können. Da nützt es wenig, dass uns Charles Darwin bereits 1859, vor über 150 Jahren, in seinem Grundlagenwerk Über die Entstehung der Arten das Leben auf der Erde erklärt hat. Mit Blick auf Darwins Werk stellte der große Biologe Theodosius Dobzhansky übrigens fest: »Nichts in der Biologie hat Sinn, außer im Lichte der Evolution.«
Die Theorien des großen Charles Darwin, der zugleich Biologe, Botaniker, Geologe und Zoologe war, gehören heute zum kollektiven Wissen der Menschheit. Trotzdem ist sogar in der Wissenschaft die Annahme weiterhin fest verankert, Pflanzen seien passive Wesen, die weder zu Empfindung noch zu Kommunikation, Verhalten oder Kalkül in der Lage seien. Dabei beruht sie allein auf einer völlig falschen Vorstellung von der Evolution.
Darwin selbst hat zweifelsfrei gezeigt, dass schon der Ausgangspunkt falsch gewählt ist. Denn es gibt keine mehr oder weniger entwickelten Organismen: Alle heutigen Lebewesen bilden laut Darwin die Spitze ihres Entwicklungszweigs, sonst wären sie nämlich ausgestorben. Wir sagen es noch einmal klar und deutlich: Wer nach Darwin an der Spitze der Entwicklungskette steht, hat im Laufe der Evolution seine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt.
Der begnadete Naturforscher wusste, dass Pflanzen äußerst feine, komplexe Geschöpfe sind, die über weit mehr Fähigkeiten verfügen, als man gemeinhin denkt. Einen Großteil seines Lebens und Werks – genauer gesagt sechs Bände und ungefähr siebzig Aufsätze – widmete er der botanischen Forschung. Häufig belegte er damit seine Evolutionstheorie, die ihm schließlich unsterblichen Ruhm einbringen sollte. Doch Darwins enorme Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Botanik stehen stets im Hintergrund – was einmal mehr bezeugt, wie wenig Beachtung das Pflanzenreich bis heute in der Wissenschaft findet.
In seinem 1994 erschienenen Buch One Hundred and One Botanists (Hundert und ein Botaniker) schreibt Duane Isely:
Über Darwin wurde mehr geschrieben als über jeden anderen