Sprachen lernen in der Pubertät. Heiner Böttger

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Sprachen lernen in der Pubertät - Heiner Böttger


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Narrationen, einer bedeutenden Form jugendsprachlicher InteraktionInteraktion, lassen sich auf folgende vier Punkte verdichten:

      „Selbst- und fremdbezogene Befindlichkeiten werden sehr spontan und empathisch mitgeteilt durch Interjektionen […], [a]ufmerksamkeitsfordernde Partikel[ ] wie ey, alter […] prosodisch inszenierte direkte Rede, Intensivierer ([…] krass u.a.)“ (Steckbauer 2014: 155).

      „Grammatische Korrektheit wird vernachlässigt“ (ebd.).

      „Sondervokabular: […] abziehen („jmd berauben“), standard […]“ (ebd.).

      Einsatz sogenannter Attention Getters, „multifunktionaler und -kategorialer, höchst frequenter Gebrauch des verbalen Joker so“: Die „Einleitung der „direkten Rede“ durch so ist besonders jugendsprachlich“ (Steckbauer 2014: 156).

      2.2.3 Parasoziale InteraktionenParasoziale Interaktionen

      Das auf Horton/Wohl (1956; vgl. Spreckels 2014) zurückgehende Konzept der parasozialen InteraktionParasoziale Interaktionen ist für die Betrachtung von Kommunikation im Jugendalter und Jugendsprachen insbesondere im Hinblick auf kommunikatives Verhalten in Verbindung mit MedienrezeptionMedien, -rezeption, -nutzung von Bedeutung. Als parasozial werden InteraktionenInteraktion bezeichnet, „die einseitig und nicht reziprok sind“ (Spreckels 2014: 168), also z.B. dann stattfinden, wenn Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer „TV-Akteurinnen direkt ansprechen […], diese aber natürlich nicht darauf reagieren“ (ebd.). Mit Freundinnen und Freunden eine Sendung zu schauen, dabei das Geschehen auf dem Bildschirm zu kommentieren und als Anlass für sprachliche Interaktion zu nutzen, stellt ein in der Alltagswelt etabliertes Phänomen dar, wobei es sich zwar um eine „asymmetrische Interaktionsform handelt“, aber dennoch um „aktives (soziales) Handeln seitens der Rezipienten“ (Spreckels 2014: 169). In der Alltagsgestaltung Jugendlicher spielt das Fernsehen „weiterhin eine zentrale Rolle“ (mpfs 2015: 11).1 Zumindest jeder zweite Jugendliche misst dem Fernsehen nach wie vor eine hohe Bedeutung bei (vgl. mpfs 2015: 14), wobei übrigens Sitcoms und Comedy ganz oben auf der Beliebtheitsskala stehen (vgl. mpfs 2015: 24f.). In vielen Fällen befassen sich Jugendliche beim Fernsehschauen zeitgleich mit anderem, nämlich mit ihrem Smartphone (59 %, vgl. mpfs 2015: 27) oder sie machen Hausaufgaben (knapp ein Fünftel der Befragten, vgl. mpfs 2015: 27f.), was wegen der Unteilbarkeit der AufmerksamkeitAufmerksamkeit (vgl. 3.1) wohl die Qualität mancher Hausaufgaben erklärt. Außerdem werden Sendungen als Kommunikationsauslöser genutzt.

      Spreckels hat über einen Zeitraum von circa zwei Jahren Sprachdaten von fünf befreundeten fünfzehn- bzw. sechszehnjährigen Mädchen aufgezeichnet und ausgewählte Sequenzen analysiert (teilnehmende Beobachtung, Auswertung ethnographisch, gesprächsanalytisch, vgl. Spreckels 2014: 165).2 Die Daten basieren auf Audioaufnahmen von Gesprächen der Freundinnen bei unterschiedlichen Freizeitaktivitäten, darunter auch das gemeinsame Schauen von TV-Castingshows. In diesen Fällen handelt es sich bei den Gesprächsdaten um aus parasozialen InteraktionenParasoziale Interaktionen gewonnene Daten. Gemeinschaftlicher Medienkonsum führt oft zu „medial ausgelöste[n] Kommunikationsereignisse[n]“ (Spreckels 2014: 180), bei denen Prozesse der Vergemeinschaftung der Zuschauerinnen und Zuschauer vonstattengehen: „Die Analyse der parasozialen InteraktionenInteraktion hat gezeigt, dass die Mädchen den Mediendiskurs nutzen, um geteilte Werte und Normen […] zum Ausdruck zu bringen“ (Spreckels 2014: 180). Häufig werde bewertet, was auf dem Bildschirm zu sehen sei, auch Lästersequenzen seien keine Seltenheit, was auf das „Fehlen der Reziprozität“ (Spreckels 2014: 181) der Kommunikation zurückgeführt wird, wodurch die oder der Beurteilende im sicheren Raum agiert, keine Gegenrede oder sonstige Retoure des Beurteilten befürchten muss. Es wird angenommen, dass junge Menschen auf diese Weise ihre kommunikativen Fertigkeiten und insbesondere ihre Schlagfertigkeit im geschützten Feld der Mediendiskussion trainieren.

      Mediendiskurse fallen, besonders bei Jugendlichen, oft humorvoll, parodistisch und ironisch aus (Spreckels 2014: 183), sie aktivieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die damit die Rolle des rezeptiven und eher passiven Publikums verlassen. Mediendiskurse werden in der Regel kooperativ gestaltet. Dabei gehe es um Spaß, Unterhaltung, außerdem um Einfallsreichtum (vgl. 3.6 zu KreativitätKreativität) und sprachliche Gewandtheit sowie zugleich darum, einander mit Kommentaren zu übertreffen, von den peers bemerkt zu werden und die Gruppenidentität zu bestätigen: „Empirische Studien zur MedienrezeptionMedien, -rezeption, -nutzung […] zeigen eindeutig, dass (jugendliche) Zuschauerinnen keine passiven Wesen sind […], weshalb Medienrezeptionsgruppen auch als Interaktionsgemeinschaften bezeichnet werden“ (Spreckels 2014: 184).

      Offenbar können durch gemeinsame MedienrezeptionMedien, -rezeption, -nutzung, z.B. das Schauen eines Films oder einer Show, kommunikative InteraktionInteraktionsanlässe gegeben werden, die, je nach Zuschauerkonstellation und geltenden Regeln bei der Rezeption, starke Anreize zum Sprechen und zum Teilen von Meinungen geben können. Eine direkte Übertragung der Ergebnisse o.g. Studie zur medienbasierten parasozialen sprachlichen Interaktion, z.B. auf das Schauen eines Films im Englischunterricht, scheint zwar nicht möglich, dennoch können die herausgearbeiteten Beobachtungen Anstöße für ein Überdenken der Gestaltung mancher Rezeptionssituation, auch im schulischen Kontext, geben.3

      Mit dem Blick auf InteraktionenInteraktion im Rahmen von Medienrezeptionssituationen rückt auch die Frage nach der MediennutzungMedien, -rezeption, -nutzung im Jugendalter in den Fokus. Dazu werden im Folgenden einige wichtige Befunde zusammengestellt und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Medien bei der Kommunikation.

      2.2.4 Kommunikation und MediennutzungMedien, -rezeption, -nutzung

      Seit 1998 veröffentlicht der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) die Ergebnisse einer in jährlichem Turnus stattfindenden Erhebung zur MediennutzungMedien, -rezeption, -nutzung von Jugendlichen im Alter von zwölf bis 19 Jahren. Die sogenannte JIM-Studie (Jugend, Information, (Multi-) Media) ermöglicht es, auf der Basis neuester Daten das Mediennutzungsverhalten von Jugendlichen einzuschätzen und durch Vergleich mit den Studien aus den Vorjahren auch Trends und EntwicklungenEntwicklung sichtbar zu machen. Die aktuelle JIM-Studie stützt sich auf Befragungsdaten, die bei einer Stichprobe von N = 1200 im Frühsommer 2015 generiert wurden.

      Hinsichtlich der Ausstattung mit MedienMedien, -rezeption, -nutzung zeigt sich – und zwar ohne nennenswerte Unterschiede im Hinblick auf den Bildungshintergrund (vgl. mpfs 2015: 8) –, dass in fast allen Familien ein Handy verfügbar ist (99 %), genauer noch, 98 % der Zwölf- bis 19-Jährigen besitzen ihr eigenes Handy (vgl. mpfs 2015: 6f.) und dass „neun von zehn Jugendlichen […] vom eigenen Zimmer aus […] ins Internet gehen“ können (mpfs 2015: 7). In der täglichen Nutzung steht das Handy an oberster Stelle, „neun von zehn Jugendlichen nutzen ihr Mobiltelefon täglich“ (mpfs 2015: 11). Die subjektiv dem Handy beigemessene Wichtigkeit nimmt über das Jugendalter hinweg zu (vgl. mpfs 2015: 15). Eine Zunahme zeichnet sich auch im Hinblick auf die Zeit ab, die Jugendliche online sind: 80 % sind täglich online (vgl. mpfs 2015: 29), „die Zwölf- bis 13-Jährigen im Schnitt 156 Minuten“, die „18- bis 19-Jährigen […] 260 Minuten“ (mpfs 2015: 30).

      Es kann also festgehalten werden, dass Jugendliche sehr gut mit MedienMedien, -rezeption, -nutzung ausgestattet sind, meistens ganz bequem, d.h. übers eigene Smartphone oder den Internetzugang zu Hause, oftmals mit Anschluss im eigenen Zimmer, die Möglichkeit zur medialen Kommunikation, sowohl zur interpersonalen Kommunikation als auch zur Massenkommunikation, haben. Die Studie von Calmbach et al. stellt sogar einen „Sättigungseffekt“ (2016: 465) bei Jugendlichen fest, was die Medienausstattung betrifft. Zu welchem Zweck aber nutzen Jugendliche die gute Medienausstattung, tatsächlich vorrangig zur Kommunikation?

      Die JIM-Studie von 2015 bestätigt eine Entwicklung, die sich bereits in den Vorjahren zeigte: Ein „Großteil der Online-Zeit [entfällt] auf Kommunikation (40 %)“ (mpfs 2015: 56, vgl. auch 31), wobei sich hier ein gewisser Geschlechterunterschied zeigt: „Mädchen [widmen] etwa die Hälfte, Jungen […] ein Drittel ihrer Online-Nutzungungszeiten der Kommunikation“ (mpfs 2015: 31).1 Bei der Kommunikation im Internet ist übrigens WhatsApp aktuell für die Mehrheit


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