Didaktik und Neurowissenschaften. Michaela Sambanis
Читать онлайн книгу.der Hirnareale und der WachstumsschübeWachstumsschub für die Entwicklung von Denk- und LernprozessenLernprozesse beschrieben werden.
2.5.1 Stabilität und StöranfälligkeitStöranfälligkeit: Beispiel Wahrnehmung
Das kindliche Gehirn ist keine verkleinerte Version eines erwachsenen Gehirns. Da bestimmte Funktionen noch nicht oder nicht in der endgültigen Form zur Verfügung stehen, ergeben sich viele Unterschiede. Das gilt sogar für die Verarbeitung von Sinnesinformationen. Obwohl Kinder ja von Geburt an sehen, hören usw., erreichen die primären Sinnesareale, wie oben beschrieben, die Zelldichte, die für Erwachsene typisch ist, erst im Alter von 10 Jahren. Daher erreicht auch die Verarbeitung von Informationen in diesen Bereichen schlicht nicht die Geschwindigkeit oder die Qualität (im Sinne von Genauigkeit, geringer Fehlerzahl u.Ä.) des erwachsenen Gehirns. Hieraus ergeben sich Unterschiede in grundlegenden Wahrnehmungsleistungen, die zum Teil auch für Lehr-/Lernsettings von praktischer Relevanz sind. Ein Beispiel hierfür ist die Verarbeitung im Hörsystem. Bis zum Ende des Grundschulalters sind Kinder in lauter Umgebung relativ „schwerhörig“. Sie haben Probleme, gesprochene Sprache zu verstehen, wenn viele Hintergrundgeräusche etwa in einem lauten, hallenden Klassenraum stören (vgl. Klatte, Hellbrück et al. 2010). Um unter schlechten akustischen Bedingungen einem Sprachfluss zu folgen, müssen Richtungshören (basierend auf der Verrechnung der Information von linkem und rechtem Ohr), Aufmerksamkeitsprozesse und Prozesse des Sprachverstehens, die mit den sprachlichen FertigkeitenFertigkeiten verknüpft sind, in geregelter Weise ineinandergreifen. Daher sind besonders Kinder mit Problemen in der selektiven, gerichteten AufmerksamkeitAufmerksamkeit und Kinder, deren Muttersprache nicht die Unterrichtssprache ist, unter schlechten akustischen Bedingungen zusätzlich beeinträchtigt (vgl. Klatte, Bergström & Lachmann 2013). Ähnliche Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern finden sich auch für die Verarbeitung von Detailinformationen in Bildern oder anderen visuellvisuell präsentierten Informationen, insbesondere bei kurzzeitiger Darbietung etwa in Filmen bzw. Videos. Auch können schmückende, scheinbar kindgerechte visuelle Details wie niedliche Tierchen oder knallige Farben Kinder viel stärker von der eigentlichen Aufgabe ablenken, als dies von Erwachsenen vielleicht angenommen wird. Selbstverständlich kann man solche Elemente einsetzen – aber in einem den Prozess unterstützenden Sinn und nicht als ablenkendes Beiwerk nur, weil etwas schön aussieht. Alles spricht dafür, die wichtigen Teile eines Arbeitsblattes wunderbar bunt zu drucken oder eine Figur auf den nächsten Arbeitsschritt hinweisen zu lassen. Nichts spricht dafür, „Dekoelemente“ einfach gleichmäßig über ein Arbeitsblatt zu verteilen. Es lohnt sich, Lehrwerke für Grundschüler einmal daraufhin kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Besonders ablenkend sind auch Bewegungen im Blickfeld, also der zappelnde Nachbar, die wehenden Vorhänge, und selbst Vögel oder Eichhörnchen im Baum vor dem Fenster können jüngere Lerner ablenken. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, den Unterricht kurz zu unterbrechen, die Tiere im Baum zwei Minuten lang zu beobachten, sich dabei über die Beobachtungen auszutauschen und dann zur Arbeit zurückzukehren.
Aber nicht nur die Aufnahme von Sinnesinformationen kann leicht durch allerlei StörreizeStörreize beeinträchtigt werden. Gleiches gilt auch für LernprozesseLernprozesse. Sinneseindrücke, die im Augenblick unnütz sind, aber nicht so leicht abgeschirmt werden können, beanspruchen Hirnkapazitäten, die dann nicht für andere Aufgaben zur Verfügung stehen. So ist das Auswendiglernen beeinträchtigt, wenn im Hintergrund gesprochen wird, selbst dann, wenn nur leise gesprochen wird. Die LernleistungLernleistung von Erwachsenen sinkt bei einer solchen Störung um 11 %, die von Zweitklässlern sogar um 39 % (vgl. Elliott 2002). Diese natürlichen Einschränkungen von Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozessen bei Kindern bis zu 10 Jahren gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Lernleistungen und -möglichkeiten von Kindern im Grundschulalter richtig einschätzen und durch die Schaffung einer guten Unterrichtsumgebung unterstützen möchte.
Die beschriebenen Unterschiede erscheinen in dem bisher Ausgeführten als Einschränkungen. Vom regulären Schulalltag aus betrachtet, sind sie das wohl auch. Zum einen kann das ein Anlass sein, die Struktur des Schulalltags noch einmal zu überprüfen. Ebenso wichtig allerdings ist anzuerkennen, dass die vermeintlichen Einschränkungen, biologisch gesehen, durchaus eine Funktion haben. Für die natürliche Entwicklung der Wahrnehmungsleistungen ist es wichtig, dass die Sinnessysteme alle Sinneseindrücke aufnehmen und bearbeiten, die häufiger in der Umgebung vorkommen. Hier gibt es drei zugrunde liegende Mechanismen, deren Wirkung so relevant für die Hirnentwicklung ist, dass die relativ geringfügigen Nachteile leicht aufgewogen werden:
1 Jedes flexible System ist leicht von außen beeinflussbar – oben wurde das als störanfällig beschrieben. Zugleich ist es aber absolut notwendig, dass die Hirnstrukturen von Kindern relativ flexibel sind. Nur so haben sie noch die enorme AnpassungsfähigkeitAnpassungsfähigkeit, die es ihnen erlaubt, sehr schnell neue Erfahrungen zu integrieren, in Wissen umzuwandeln und ihre Handlungen daran anzupassen. Ein stabileres Verarbeitungssystem wäre weniger störanfällig, aber auch weit weniger lernfähig, was für einen sich entwickelnden Organismus überhaupt nicht sinnvoll wäre.
2 Was im Leben vorkommt, also zum Leben dazugehört, muss aufgenommen, verarbeitet und in seiner Bedeutung und möglichen Nützlichkeit eingeschätzt werden. Nur so gelangt man zu einer guten Orientierung in der Welt. In vielen Fällen steht am Ende vielleicht die Bedeutungszuweisung „Unwichtig! Einfach ignorieren!“. Bis aber diese Unterscheidung verlässlich gefällt werden kann, bedarf es der Verarbeitung der zunächst noch neuen Sinneseindrücke. Unser Organismus ist darauf ausgerichtet, dass er diese Entscheidung nicht leichtfertig fällt. Es könnte sich als äußerst nachteilig erweisen, wenn man etwas als unwichtig kategorisiert, das zu einem späteren Zeitpunkt nützlich wäre – oder sogar gefährlich.
3 Die an manchen Punkten noch „ungenaue“ Verarbeitung von Sinnesreizen erlaubt es, die seh-, hör-, und tastbaren Objekte in der Umgebung zunächst auf einer übergeordneten, globalen Ebene zu betrachten und sich nicht in den Details zu verlieren. Anschaulich wird dieser Mechanismus, wenn man sich vorstellt, dass man als Erwachsener ein Tier aus weiter Ferne sieht oder auf einem unscharfen Foto. Man kann noch recht gut erkennen, dass es sich um ein Tier handelt. Ob es nun aber ein Fuchs, eine Katze, ein nicht allzu großer Hund oder vielleicht doch etwas anderes ist, lässt sich manchmal nur schlecht feststellen. Hier sieht man sehr schön, dass eine gewisse Ungenauigkeit Gemeinsamkeiten einzelner Objekte hervorhebt. Solche Gemeinsamkeiten wiederum sind die Basis für die Bildung von Kategorien (in unserem Beispiel die Kategorie Tier). Besonders im Spracherwerb, aber auch in vielen anderen Bereichen ist ein solcher Mechanismus sehr nützlich.
PraxisfensterPraxisfenster
Claudia: Ich möchte gerne das Thema LärmLärm nochmal aufgreifen.1 Ich habe den Eindruck, dass es oft im Zusammenhang mit der Lehrergesundheit betrachtet wurde, was zweifellos wichtig ist. Aber Lärm wirkt sich auch auf die Kinder aus, auf ihr Befinden und den Lernerfolg. Manchmal ist es schon etwas laut im Klassenzimmer, und wenn man, mal abgesehen von möglichem Stresserleben durch Lärm, bedenkt, wie sehr der Unterrichtsertrag auf dem Erfolg der sprachlichen Interaktion beruht, ist das beunruhigend.
Gesa: Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie haben Studien durchgeführt mit Messungen des Lärmpegels, mit dem Ergebnis, dass in einem durchschnittlichen Grundschulklassenzimmer der mittlere Lärmpegel in verschiedenen Phasen, ganz besonders bei Gruppenarbeit, dicht bei dem einer viel befahrenen Autostraße liegt.2
Dianne: Und wir wissen, dass der Lärmpegel für jüngere Kinder ein größeres Problem darstellt als für ältere. Hintergrundgeräusche stören sie mehr und ungünstige Nachhallzeiten im Raum sind besonders abträglich.
Peter: Wenn ich z.B. vorne im Klassenzimmer spreche und der Raum hat eine lange Nachhallzeit, dann überlagern sich meine Sprechsilben, weil Silbe 2 sich sozusagen schon auf den Weg macht, während Silbe 1 noch immer in der Luft hängt, mal ganz einfach gesagt. So habe ich das mit der Nachhallzeit jedenfalls verstanden, als wir vor zwei Jahren einen Sanierungszuschlag erhalten haben und die Klassenräume renovieren durften. Ich konnte mit einer Schüler-AG in einigen gemeinsamen Sitzungen mit dem Architekten zusammenkommen, Ideen entwickeln und einige davon sind auch umgesetzt worden.