Stil und Text. Michael Hoffmann

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Stil und Text - Michael Hoffmann


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von Texten (vgl. Text 5) charakteristisch ist, sondern im Sinne der Entfaltung eines gemeinsamen allegorischen Themas. Bei allen drei Allegorien finden Elemente einer gegenständlichen (toten, starren) Welt Verwendung, um Eigenheiten der Psyche der Hauptfigur zu verbildlichen. Wir stellen fest, dass sich die einzelnen Teilbilder wechselseitig ergänzen. Bildlichkeit wie diese basiert auf gestalterischer Kreativität. Insofern manifestiert sich in dieser GestaltqualitätGestaltqualität zugleich eine GestaltungsideeGestaltungsidee.

      Der nächste Beispieltext beherbergt eine StilgestaltStilgestalt von gänzlich anderer Natur.

       Beispieltext 7 : Bildwitz

      Jan Bleiß: Kalender „Kulinarische Missverständnisse“. 2015 (Privatarchiv).

      Stilfragen, die sich im Rahmen der TextsorteTextsorte Witz und ihrer Variante, dem Bildwitz, stellen, richten sich vor allem auf die GestalteinheitenGestalteinheit PointePointe und PointenvorbereitungPointenvorbereitung:

       Wie wird die PointePointe vorbereitet?

       Auf welche Weise wird die PointePointe entfaltet?

      PointenvorbereitungPointenvorbereitung: Das zu betrachtende Textexemplar ist – wie unschwer zu erkennen ist – zweigeteilt: in einen sprachmedialen und einen bildmedialen Teiltext. Der sprachmediale Teiltext steht über dem bildmedialen und ist deshalb als pointenvorbereitender Teiltext anzusehen. Die PointePointe wird mit einer alltagssprachlichen Äußerung vorbereitet, erkennbar an den ApokopenApokope/Apokopieren (Lautabstoßungen am Wortende) dies statt dieses und mach statt mache, an der intimen Anrede Schatzi und dem RegionalismusRegionalismus (Berlinismus) ick. Durch Fettschrift hervorgehoben ist ein Ausdruck aus der FachspracheFachsprache der Kochkunst: der ProfessionalismusProfessionalismus Karpfen blau, der auch in die AlltagsspracheAlltagssprache eingegangen ist. Dass mit der Äußerung die Pointe vorbereitet wird, erschließt sich, wenn man die Zeichnung betrachtet und feststellt, dass man, um die Pointe zu verstehen, zuvor die Äußerung gelesen haben muss. Bildmedial dargestellt ist ein Mann in einem häuslichen Milieu, an einer Badewanne stehend, in der ein Karpfen schwimmt, in die Wanne eine Flasche mit Alkohol gießend. Eine bereits geleerte Flasche mit der Aufschrift Schn(aps) liegt auf dem Boden, weitere Flaschen mit Alkohol stehen bereit. Die Zeichnung illustriert nicht die Äußerung, hat also nichts mit AnschaulichkeitAnschaulichkeit zu tun, sondern macht die Äußerung als Teil eines Bildwitzes überhaupt erst interpretierbar. Die beiden Teiltexte passen nicht nur zueinander (die alltagssprachliche Äußerung korrespondiert hervorragend mit der bildmedialen Darstellung einer Badezimmer-Szene), sie gehören vielmehr pointenentfaltend zusammen.

      PointenentfaltungPointenentfaltung: Die PointePointe entfaltet sich zwischen beiden Teiltexten. Der Überraschungseffekt, der sich einstellt, basiert auf der Überlagerung von zwei Bedeutungsvarianten eines Wortes. Es überlagern sich die fachsprachliche und die umgangssprachliche BedeutungSemantik/semantisch des Adjektivs blau. Die fachsprachliche Bedeutung (‚blau verfärbt‘) ist an den ProfessionalismusProfessionalismus Karpfen blau gebunden. In der UmgangsspracheUmgangssprache aber hat das Adjektiv blau die Bedeutung ‚betrunken‘. In die Beschreibung der StilgestaltStilgestalt können wir also das UmdeutenUmdeuten eines fachsprachlich gebundenen Wortes in ein umgangssprachliches Wort als pointenentfaltendes GestaltungsverfahrenGestaltungsverfahren aufnehmen.

      GestaltqualitätGestaltqualität: Bei der Erfassung des Gestaltungszusammenhangs, in den sich die GestalteinheitenGestalteinheit PointePointe und PointenvorbereitungPointenvorbereitung einordnen, ist es wohl naheliegend, sich für WitzigkeitWitzigkeit zu entscheiden – eine Gestaltqualität, die auf dem GestaltungsaktGestaltungsakt Witzig-Machen beruht. Wir können uns dabei auf eine eingeformte kommunikative „Ordnungswidrigkeit“ stützen und damit auf eine besondere GestaltungsideeGestaltungsidee. Sie besteht darin, den ProfessionalismusProfessionalismus Karpfen blau einem Missverständnis auszusetzen. Dessen Besonderheit ist es, dass ihm eine absurde Denkweise innewohnt, die absurde Konsequenzen nach sich zieht. Erst durch die Absurdität des Denkens und Handelns wird das Missverständnis witzig. Rezipienten sind angehalten, die Pointe zu rekonstruieren, indem sie beide BedeutungenSemantik/semantisch des Adjektivs blau in eine Interferenzbeziehung bringen. (Weiteres zur TextsorteTextsorte Bildwitz u.a. bei Hoffmann 2001.)

      Das Ganze würde natürlich auch rein sprachmedial funktionieren:

      Steht ein Mann im Badezimmer. In der Badewanne schwimmt ein Karpfen. Der Mann gießt eine Flasche Alkohol nach der anderen in die Wanne und ruft seiner Frau zu: „Schatzi, dies Jahr mach ick den Karpfen blau.“

      In der bimedialen Fassung sind beide Teile, der sprach- und der bildmediale, aufeinander angewiesen. Fehlte einer von beiden, ginge nicht nur die WitzigkeitWitzigkeit des Textes verloren, sondern auch die Zugehörigkeit des Textes zur TextsorteTextsorte Bildwitz. Die Zeichnung für sich allein stehend würde sich allenfalls für ein Bilderrätsel eignen, bei dem der Sinn zu erraten wäre.

      Abschließend sei noch ein Gedicht, Ernst Jandls „markierung einer wende“, auf seine stilistische Gestalthaftigkeit hin untersucht.

19441945
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegmai
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
(markierung einer wende)

       Beispieltext 8: Gedicht

      Ernst Jandl: Augenspiel. Gedichte. Berlin 1981: Volk und Welt, 74.

      Stilfragen im Textsortenrahmen Gedicht stellen sich u.a. wie folgt:

       Welche Einheiten umfasst die lyrische Textwelt, und wie werden sie bezeichnet?

       Welche GestaltungsmittelGestaltungsmittel der Gattung Lyrik werden gestaltbildend verwendet?

      Als mögliche Einheiten einer das Gedicht prägenden StilgestaltStilgestalt drängen sich dem Betrachter keinesfalls typische lyrische GestaltungsmittelGestaltungsmittel auf. Statt deren vor allem diese:

       die Aufgliederung der Textfläche in zwei Spalten;

       der KontrastKontrast/Kontrastieren zwischen einer zwölfzeiligen (links) und einer fünfzeiligen Spalte (rechts) mit dem Monatsnamen mai an fünfter Position;

       das zwölfmalige Vorkommen des Gattungsnamens krieg in der linken Spalte und dessen viermaliges Vorkommen in der Spalte rechts;

       das Vorkommen von ZahlwörternZahlwort (Jahreszahlen) in Ziffernschreibweise als fettgesetzte Spaltenüberschriften (1944 und 1945).

      Für die Synthese der GestalteinheitenGestalteinheit zu einer den Text prägenden GestaltqualitätGestaltqualität sind alle diese Beobachtungen am Text wesentlich. Alle registrierten Einzelheiten verweisen auf Eigenschaften, wie sie Kalendern in dieser oder jener Form zukommen. Kalender enthalten Jahreszahlen und Monatsnamen; sie sind in Spalten aufgegliedert und weisen eine zwölfteilige Struktur auf, in der der Monat Mai die fünfte Position besetzt. Dem Text – so wird man es deshalb sagen dürfen – ist die GestaltungsideeGestaltungsidee eingeformt, ein Gedicht in Kalenderform, eine lyrische Textwelt in der Art eines Kalenders zu präsentieren. Natürlich handelt es sich nur um eine schwach ausgeprägte ÄhnlichkeitsbeziehungÄhnlichkeitsbeziehung mit der TextsorteTextsorte Kalender. Aber wenn man sie bemerkt, d.h. sieht, könnten die Spalteninhalte mit dem stereotyp wiederholten Wort krieg als Einträge eines Kalenderbenutzers interpretiert werden und somit als ein Hinweis darauf, dass sich ein lyrisches SubjektLyrisches Subjekt als Stimme in der Textwelt


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