Mary Shelley. Barbara Sichtermann
Читать онлайн книгу.ist nichts Unmoralisches.«
Percy Shelley war einundzwanzig Jahre alt und damit fünf Jahre älter als Mary. Die Gepflogenheiten der Zeit, aber auch Shelleys Einstellung legten es ihm nahe, die Menschen, die ihm begegneten, vor allem die weiblichen, zu unterrichten, zu belehren, ihnen die Welt zu erklären. Für Shelley lag darin keine Herablassung, und die Mädchen, aber auch so mancher Freund oder Mitschüler, hörten ihm gerne zu, vor allem weil er Nachfragen und Zweifel nicht wegwischte, sondern sofort auf sie einging. Gerne hielt er kleine Predigten, bei denen er seine Umgebung ganz vergaß. Aber wenn er durch eine Frage oder durch ein »He!« oder »Hör mal!« ins Hier und Jetzt zurückgerufen worden war, stellte er sich sofort auf seinen Gesprächspartner ein, spitzte regelrecht die Ohren und versuchte selten, ihn einfach nur zu widerlegen oder abzuwerten, meist wollte er ihn verstehen und den Einwand in seine eigene Argumentation einarbeiten. Nur wenn das gar nicht ging oder wenn er pure Haarspalterei witterte, konnte er scharf und polemisch werden. Manchmal stand er dann abrupt auf und ging davon. In Mary entdeckte er einen verwandten, wenn nicht überlegenen Geist, denn ihre Art, die Wahrheit zu suchen und keine Halbheiten gelten zu lassen, weckte sein Gewissen. Er selbst fühlte sich in Zonen der Ambiguität und der Mehrdeutigkeit durchaus zu Hause. Mary aber gab sich selten mit einer Zwischenlösung zufrieden, sie ging meistens aufs Ganze. Das imponierte Shelley mächtig. Dennoch waren ihre Gespräche über Religion und Philosophie selten Dispute, dazu waren sie einander – beide geistig aufgewachsen mit den Lehren Godwins – im Denken zu ähnlich. Aber es geschah, dass sie bezweifelte, was er vortrug, oder dass er abwehrte, was sie anklingen ließ. Dann waren beide höchst behutsam miteinander und machten Vorschläge von Lesarten oder Interpretationen, die den Dissens abschwächen oder gar in eine Übereinstimmung umwandeln könnten. Dieses intellektuelle Spiel mit Argumenten und Assoziationen, Folgerungen und Erfahrungswerten, Anspielungen und Rückverweisen versetzte beide in eine starke genussvolle Spannung, die es ihnen ermöglichte, stets in Frieden voneinander Abschied zu nehmen und sich auf das Wiedersehen und Weiterreden zu freuen. Denn es war zwischen ihnen ein Band entstanden, das von Geist zu Geist lief und heftig pulsierte und viel aushielt. Auch wenn sie nicht zusammen waren, sprachen sie miteinander. Während Mary dem Vater, dessen Augen schwächer wurden, aus der Zeitung vorlas, dachte sie: Wie würde Shelley diese Lage sehen, das Verhältnis zu Frankreich jetzt nach Napoleons Niederlage? Und er dachte, wenn er mit seinem Bankier über eine neue Gesetzesvorlage sprach, die es den Armen verbieten würde, Holz in den Wäldern des Grundherrn zu sammeln: Wie würde Mary diese Gesetze einschätzen? Wie würde sie ihre Empörung formulieren? Er hatte – abgesehen von einer gebildeten und freigeistigen Lehrerin – noch nie eine Frau getroffen, die so sehr Geistesmensch war wie Mary. Ihre Auffassungsgabe war erstaunlich, ihr Interesse an den Dingen der Welt umfassend, ihr Intellekt geschliffen und trefflich, ihre Fantasie ausschweifend. Er gehörte nicht zu den Männern, die sich vor gebildeten Frauen fürchteten oder sie bemitleideten, wie es viele seiner Geschlechtsgenossen taten, weil sie glaubten, eine Frau mit Verstand, die ihn auch noch zeigte, fände niemals einen Mann und so kein Glück auf Erden. Shelley dachte völlig anders. Er beklagte lautstark, dass die Hälfte der Bevölkerung geistig brach lag, weil es keine Schulen für Mädchen gab, in denen Mathematik und Philosophie gelehrt würde, ein Programmpunkt, der bei einer Reform der Gesellschaft zu den wichtigsten gehörte – auch hierin war er sich mit William Godwin einig. Und erst recht mit dessen erster Gattin Mary Wollstonecraft. Manchmal erschien es Shelley wie ein Wunder, dass er die Tochter dieser beiden Geistesgrößen hatte kennenlernen dürfen. Bei sich nannte er sie ein Kind der Liebe und des Lichts, wobei Liebe für die Mutter stand, die Mary empfangen hatte, ohne verheiratet zu sein, und Licht für Aufklärung, die der Vater repräsentierte. Als er von Jane erfuhr, dass einer der Söhne aus dem Hause Baxter nach London gereist sei und alle glaubten, er wolle um Marys Hand anhalten, wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen.
Jane gab ihm einen Zettel von Mary. »Morgen um sieben St. Pancras?«, stand darauf.
»Sag ihr«, flüsterte Shelley Jane zu, »dass ich morgen nicht kommen kann. Ich muss einen Anwalt aufsuchen.«
Shelley hatte nach seiner Relegation von Oxford und dem großen Krach mit seinem Vater kaum noch Kontakt zu seinem Zuhause Field Place – Anwesen des Sir Timothy Shelley in Sussex. Seine vom Baron als äußerst unpassend empfundene Eheschließung mit Harriet, der nicht standesgemäßen Tochter eines Kaffeehausbesitzers, hatte das Maß vollgemacht. Percy bekam Hausverbot in Field Place und verkehrte mit seinem Vater nur noch über dessen Anwalt. Er litt unter der Trennung von Eltern und Geschwistern, am schlimmsten aber war, dass der Vater ihn kurzhielt und er zeitweilig nicht wusste, wovon er seine Miete und sein Frühstück bezahlen sollte. Was noch nicht mal das Schlimmste war, denn er konnte zur Not im Wald schlafen und sich von den Früchten eines Rübenackers oder von den Maulbeeren auf dem Friedhof ernähren. Aber was war mit seiner Frau und dem Baby? Und mit Godwin, dem er vor Monaten schon ein üppiges Darlehen zugesagt hatte? Shelleys neuerliche Neigung, sich nur kurz in der Skinner Street aufzuhalten, um, so schnell es ging, entweder mit Mary oder Jane oder mit beiden in die Umgebung zu entfliehen, hatte ihre Gründe nicht nur darin, dass er Klatsch vermeiden wollte. Er ging auch Godwin aus dem Weg, dem er zwar schon eine gewisse Summe hatte zukommen lassen, der aber noch auf den Großteil des Geldes wartete – und ihn beständig daran erinnerte. Über den väterlichen Anwalt hoffte er, nun weiteres Geld lockerzumachen. Aber es kam zu keiner Einigung, und so trottete Shelley bedrückt zu seinem Bankier, von dem er wusste, dass er ihm aushelfen würde. Der älteste Sohn eines begüterten Barons erhielt überall Kredit auf lange Frist – wenn auch zu abenteuerlichen Zinsen.
Mary wusste, dass ihr Vater auf Geld von Shelley wartete – er brauchte dringend Bares, denn die Gläubiger standen bei ihm Schlange. Nachts, wenn der Schlaf sie floh, und sogar in ihren Träumen sah Mary ihren Vater vor sich, wie er die Hand ausstreckte und Percy ihm ein paar Goldmünzen hineinzählte – das war ein schönes und zugleich bedrückendes Bild. Was konnte sie selbst tun, um die finanzielle Lage ihrer Familie zu verbessern? Als Gouvernante in Stellung gehen? Davor grauste ihr. Sie wollte noch so vieles wissen, ihre Zeit sollte Studien gewidmet sein. Doch sie konnte die immer lauter vorgetragenen Ansprüche der Stiefmutter an ihre Arbeitskraft in Laden und Haus nicht einfach wegschieben. Alle mussten das Ihre tun und das wollte auch sie.
Aber da war der Vater, der ihr Hausaufgaben in Latein und englischer Literatur gab, und da war Percy, der nichts lieber zu tun schien, als mit ihr gemeinsam Texte zu lesen und zu erörtern und der, wenn auf dem Friedhof niemand mehr zu sehen war, ihre Hand ergriff. Mary hielt ihr Herz fest, denn, was immer Shelley ihr erzählte, er war verheiratet und hatte ein Kind und wohl bald noch ein zweites – sie konnte, sie durfte sich ihrem Gefühl der Sehnsucht nach Nähe zu ihm, zu ihrem »Elfen«, wie sie ihn für sich selbst nannte, nicht hingeben. Aber es war inzwischen längst so weit, dass sie sich ein Leben ohne diese Besuche, diese Gespräche, dieses Beisammensein nicht mehr vorstellen mochte. Mit Befremden sah sie, dass es Fanny und Jane ähnlich erging. Auch sie stellten ihre innere Uhr nach der Stunde des möglichen Erscheinens von Percy Bysshe Shelley. Und wenn er kam, scherzte er mit Fanny oder ging mit Jane aus dem Haus, um Pilze zu sammeln oder Bier zu holen, oder er lockte Willy in den Garten, um mit ihm pyrotechnische Experimente zu machen. Mary zweifelte manchmal daran, dass wirklich sie es war, der seine intensivste Aufmerksamkeit galt. Aber wenn sie ihm beim Abschied Ort und Zeit eines möglichen Treffens zuflüsterte, etwa morgen Nachmittag im Studierzimmer, während Mrs Godwin mit Fanny auf dem Wochenmarkt einkaufte, dann war sein Blick so leuchtend und voller Andacht, dass sie ihre Zweifel vergaß.
Das Studierzimmer der Mädchen lag im Obergeschoss; Shelley sprang die Stufen hinauf, klopfte an und trat ein. Er blieb stehen, um sich an dem Anblick zu freuen: Mary stand am Bücherbord und schob die lateinische Grammatik hinein.
»Milton«, rief Shelley, »lass alle anderen Bücher liegen und lies immer nur Milton!«
Mary suchte kurz und zog Das verlorene Paradies aus dem Regal. Sie zeigte Shelley ihre Anstreichungen und deklamierte: »Lieber in der Hölle herrschen, als im Himmel dienen.«
»Was für eine Wucht hat dieses Gedicht!«, rief Shelley. »Wenn man es gelesen und wieder gelesen hat, begreift man das Gebot der Stunde: Widerrede leisten, in Zweifel