Der Gesellschaftsvertrag. Jean-Jacques Rousseau
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Vorrede
Diese kleine Abhandlung ist einem größeren Werke entnommen, welches ich einst ohne Rücksicht darauf, ob meine Kräfte dazu ausreichen würden, begonnen und schon längst hatte liegen lassen. Von verschiedenen Auszügen aus dem vollendeten Teile dieser Arbeit ist vorliegender der wichtigste und scheint mir am wenigsten unwert, dem Lesepublikum vorgelegt zu werden. Der Rest ist bereits vernichtet.
Erstes Buch
Ich beabsichtige zu untersuchen, ob es in der bürgerlichen Verfassung irgendeinen gerechten und sicheren Grundsatz der Staatsverwaltung geben kann, wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können. Bei dieser Untersuchung werde ich mich bemühen, stets das, was das Recht zuläßt, mit dem zu vereinen, was das allgemeine Beste vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Nutzen nicht getrennt werden.
Ich dringe in die Materie ein, ohne erst die Wichtigkeit meines Gegenstandes zu beweisen. Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, um berechtigt zu sein, über Politik zu schreiben. Ich antworte nein und schreibe gerade deshalb über Politik. Wäre ich Fürst oder Gesetzgeber, so würde ich nicht meine Zeit damit vergeuden, zu sagen, was man tun muß; ich würde es tun oder schweigen.
Einen wie geringen Einfluß auch die Stimme eines einfachen Bürgers, wie ich bin, der in einem freien Staate geboren ist und durch das allgemeine Stimmrecht Anteil an der Staatsgewalt hat, auf die öffentlichen Angelegenheiten haben mag, so genügt doch schon das bloße Recht, darüber abzustimmen, um mir die Pflicht aufzulegen, mich über sie zu unterrichten. So oft ich über die Regierungen nachdenke, fühle ich mich glücklich, daß ich in meinen Forschungen stets neue Gründe finde, diejenige meines Vaterlandes zu lieben.
1. Kapitel: Inhalt des ersten Buches
Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie. Wie hat sich diese Umwandlung zugetragen? Ich weiß es nicht. Was kann ihr Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.
Würde ich nur auf die Gewalt und die Wirkungen, die sie hervorbringt, Rücksicht nehmen, so würde ich sagen: solange ein Volk gezwungen wird zu gehorchen, so tut es wohl, wenn es gehorcht; sobald es sein Joch abzuschütteln imstande ist, so tut es noch besser, wenn es dasselbe von sich wirft, denn sobald es seine Freiheit durch dasselbe Recht wiedererlangt, das sie ihm geraubt hat, so ist es entweder befugt, sie wieder zurückzunehmen, oder man hat sie ihm unbefugterweise entrissen. Allein die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das die Grundlage aller übrigen bildet. Dieses Recht entspringt jedoch keineswegs aus der Natur; es beruht folglich auf Verträgen. Deshalb kommt es darauf an, die Beschaffenheit dieser Verträge kennenzulernen. Ehe ich dazu komme, ist es meine Pflicht, die eben aufgestellten Behauptungen zu begründen.
2. Kapitel: Erste gesellschaftliche Vereinigungen
Die älteste und einzig natürliche Form aller Gesellschaften ist die Familie; obgleich die Kinder nur solange mit dem Vater verbunden bleiben, wie sie seiner zu ihrer Erhaltung bedürfen. Sobald dieses Bedürfnis aufhört, löst sich das natürliche Band. Von dem Gehorsam befreit, den die Kinder dem Vater schuldig sind, und der Sorgfalt überhoben, zu der der Vater den Kindern gegenüber verpflichtet ist, kehren alle in gleicher Weise zur Unabhängigkeit zurück. Bleiben sie weiter in Verbindung, so ist das kein natürlicher Zustand mehr, sondern ein freiwilliges Übereinkommen; die Familie an sich hat nur durch Übereinkunft Bestand.
Diese gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Sein erstes Gesetz muß es sein, über seine eigene Erhaltung zu wachen; seine Hauptsorgen sind die, die er sich selbst schuldig ist, und sobald er zu dem Alter der Vernunft gekommen, ist er allein Richter über die zu seiner Erhaltung geeigneten Mittel und wird dadurch sein eigener Herr.
Demnach ist die Familie, wenn man will, das erste Muster der politischen Gesellschaften. Der Herrscher ist das Abbild des Vaters, das Volk ist das Abbild der Kinder, und da alle gleich und frei geboren sind, veräußern sie ihre Freiheit nur um ihres Nutzens willen. Der ganze Unterschied besteht darin, daß in der Familie die Vaterliebe die Sorgenlast vergilt, die ihm die Kinder auferlegen, während im Staate die Lust zu befehlen die Liebe ersetzt, die der Herrscher für sein Volk nicht empfindet.
Grotius leugnet, daß jede menschliche Macht zugunsten der Regierten eingesetzt sei: zum Beweise beruft er sich auf die Sklaverei. In seiner bekannten Schlußweise begründet er das Recht auf das tatsächliche Gelten desselben. Man würde wohl eine folgerichtigere Lehre aufstellen können, aber keine, die den Gewaltherrschern günstiger wäre.
Nach Grotius ist es demnach zweifelhaft, ob das Menschengeschlecht etwa hundert einzelnen Menschen als Eigentum gehört, oder ob diese hundert dem Menschengeschlechte angehören, und in seinem ganzen Werke scheint er sich zu der ersten Ansicht hinzuneigen. Dies ist auch die Meinung von Hobbes. So ist also das menschliche Geschlecht wie Vieh in Herden abgeteilt, deren jede ihren Herrn hat, der sie beschützt, um sie zu verschlingen.
Wie ein Hirt von einer höheren Natur ist als seine Herde, so sind auch die Hirten der Menschen, ihre Herren, von einer höheren Natur als ihre Völker. So schloß, wie Philo berichtet, der Kaiser Caligula, indem er nach dieser Analogie ziemlich richtig folgerte, daß die Könige Götter oder die Völker Tiere wären.
Diese Schlußfolgerung Caligulas stimmt mit den von Hobbes und Grotius aufgestellten Lehren vollkommen überein. Schon vor ihnen allen hatte Aristoteles ebenfalls behauptet, daß die Menschen von Natur keineswegs gleich wären, sondern die einen zur Sklaverei und die anderen zur Herrschaft geboren würden.
Aristoteles hatte recht, aber er hielt die Wirkung für die Ursache. Jeder in der Sklaverei geborene Mensch wird für die Sklaverei geboren; nichts ist gewisser. Die Sklaven verlieren in ihren Fesseln alles, sogar den Wunsch, sie abzuwerfen, sie lieben ihre Knechtschaft, wie die Gefährten des Odysseus ihren tierischen Zustand nach ihrer Verwandlung liebten. Wenn es also Sklaven von Natur gibt, so liegt der Grund darin, daß es schon vorher Sklaven wider die Natur gegeben hat. Die Gewalt hat die ersten Sklaven gemacht; ihre Feigheit hat sie beständig erhalten.
Ich habe nichts vom Könige Adam noch vom Kaiser Noah, dem Vater der drei großen Monarchen gesagt, die gleich den Kindern des Saturn, die man in ihnen hat wiedererkennen wollen, die Welt unter sich teilten. Ich hoffe, daß man mir für dieses Maßhalten dankbar sein wird; denn da ich von einem dieser Fürsten und vielleicht von dem ältesten Zweige in gerader Linie abstamme, so kann ich ja nicht wissen, ob ich mich nicht durch den Nachweis der Richtigkeit meiner Rechtsansprüche als das rechtmäßige Oberhaupt des menschlichen Geschlechtes enthüllen würde? Wie dem auch sein möge, so kann man doch nicht leugnen, daß Adam Beherrscher der Welt gewesen ist, wie Robinson Beherrscher seiner Insel, solange er ihr einziger Bewohner war, und das Angenehmste bei dieser Herrschaft lag darin, daß der Monarch auf seinem Throne sicher war und weder Aufstand, noch Kriege, noch Empörer zu fürchten hatte.
3. Kapitel: Vom Recht des Stärkeren
Der Stärkste ist nie stark genug, um immerdar Herr zu bleiben, wenn er seine Stärke nicht in Recht und den Gehorsam nicht in Pflicht verwandelt. Daher entspringt das Recht des Stärksten, ein Recht, das scheinbar ironisch aufgefaßt und in der Tat doch als Prinzip anerkannt wird. Aber wird man uns dieses Wort denn nie erklären? Die Stärke ist ein physisches Vermögen; ich begreife nicht, welche sittliche Verpflichtung aus ihren Wirkungen hervorgehen kann. Der Stärke nachgeben ist eine Handlung der Notwendigkeit, nicht des Willens, höchstens eine Handlung der Klugheit. In welchem Sinne kann es eine Pflicht werden?
Lassen wir dieses angebliche Recht einen Augenblick gelten. Nach meiner Überzeugung ergibt sich daraus nur ein unlöslicher