Die Bauern. Anton Tschechow

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Die Bauern - Anton Tschechow


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denn sonst?«

      »Gewiß, das Semstwo.«

      Das Semstwo wurde für alle verantwortlich gemacht: für die Steuerrückstände, für alle Bedrückungen und für die Missernten, obwohl keiner von ihnen genau zu sagen wußte, was das Semstwo eigentlich sei. Diese Unzufriedenheit hatte aber damit begonnen, daß einige reiche Bauern, die eigene Fabriken, Läden und Wirtshäuser besaßen und eine Zeitlang als Semstwo-Abgeordnete fungiert hatten, mit dem Semstwo unzufrieden waren und in ihren Fabriken und Wirtschaften darüber schimpften.

      Man sprach auch davon, daß Gott keinen Schnee schicke: man muß Holz für den Winter fahren, die Straße ist aber so holprig, daß man weder fahren noch gehen kann. Früher, vor fünfzehn, zwanzig Jahren waren die Gespräche in Schukowo viel interessanter gewesen. Damals sah jeder Alte so aus, als ob er irgendein Geheimnis hütete, als ob er etwas wüßte oder erwartete; man sprach damals von einem Zarenerlass mit goldenem Siegel, von der Austeilung des Bodens, von neuen Ländereien, von vergrabenen Schätzen und erging sich in Andeutungen; jetzt hatten aber die Bauern gar keine Geheimnisse mehr; ihr ganzes Leben verlief allen sichtbar, und sie konnten nur von ihrer Not und von der Nahrung sprechen, und daß es keinen Schnee gäbe ...

      Sie schwiegen eine Weile, brachten dann die Rede wieder auf die Hühner und Schafe und begannen von neuem zu untersuchen, wer an allem schuld sei.

      »Das Semstwo!« sagte Ossip traurig. »Wer denn sonst?«

      8

      Die Pfarrkirche befand sich sechs Werst weit, in Kossogorowo, und die Bauern gingen nur im Notfalle hin, wenn es sich um eine Kindtaufe, eine Trauung oder die Einsegnung einer Leiche handelte; zum Gottesdienst gingen sie aber in die nächste Kirche jenseits des Flusses. An Feiertagen bei gutem Wetter putzten sich die jungen Mädchen aus und zogen in großer Schar zur Messe, und es war sehr lustig anzusehen, wie sie in ihren roten, gelben und grünen Kleidern über die Wiese gingen; bei schlechtem Wetter saßen sie aber zu Hause. Zur Fastenzeit bereiteten sie sich auf die Beichte in der Pfarrkirche vor, und wenn einer keine Zeit hatte, zu beichten und zu kommunizieren, so erhob von ihm der Geistliche, wenn er in der Osterwoche einen Rundgang durchs Dorf machte, nachträglich fünfzehn Kopeken.

      Der Alte glaubte nicht an Gott, weil er fast nie an ihn dachte; er glaubte wohl an übernatürliche Dinge, meinte aber, daß diese nur die Weiber allein angingen; wenn man zu ihm von der Religion oder von Wundern sprach oder an ihn irgendeine Frage richtete, so sagte er ärgerlich, sich den Nacken kratzend:

      »Wer kann das wissen!«

      Die Großmutter glaubte wohl, aber ihr Glaube war dunkel und verworren. In ihrem Gedächtnisse war alles durcheinander gekommen, und wenn sie mal anfing, an ihre Sünden, den Tod und das Seelenheil zu denken, so wurden diese Gedanken von der Not und den Sorgen erdrückt, und sie vergaß gleich alles, was sie sich eben gedacht hatte. Sie konnte sich auf kein einziges Gebet mehr besinnen; wenn sie abends vor dem Schlafengehen vor den Heiligenbildern stand, flüsterte sie nur:

      »Heilige Mutter Gottes von Kasan, Heilige Mutter Gottes von Smolensk, Heilige Mutter Gottes mit den drei Händen ...«

      Marja und Fjokla bekreuzigten sich, gingen jedes Jahr zur Beichte, verstanden aber nichts. Sie lehrten ihre Kinder nicht beten, sagten ihnen nichts von Gott, prägten ihnen keine Gebote ein und beschränkten sich auf das Verbot, an Fasttagen Fleisch und Milchspeisen zu essen. Auch in den anderen Familien war es nicht anders: fast niemand glaubte an Gott, nur sehr wenige verstanden etwas von der Religion. Zugleich liebten aber alle die Heilige Schrift; sie liebten sie zärtlich und andächtig, es war aber niemand da, der sie lesen und erklären konnte; Olga genoß dafür, daß sie zuweilen aus dem Evangelium vorlas, allgemeine Achtung, und alle sagten zu ihr und zu Sascha »Sie«.

      Olga ging oft zu Kirchenfesten und Gottesdiensten in die Nachbardörfer und in die Kreisstadt, in der es zwei Klöster und siebenundzwanzig Kirchen gab. Sie war zerstreut und vergaß jedesmal, wenn sie sich auf so eine Wallfahrt begab, daß sie eine Familie hatte; wenn sie heimkehrte und die Entdeckung machte, daß sie einen Mann und eine Tochter hatte, erstrahlte sie vor Freude und sprach:

      »Gott hat mir seine Gnade erwiesen!«

      Alles, was im Dorfe vorging, erschien ihr widerlich und quälte sie. Am Tage des Propheten Elias wurde getrunken, zu Mariä Himmelfahrt wurde getrunken, zur Kreuzeserhöhung wurde getrunken. Zu Mariä Schutz und Fürbitte war in Schukowo Kirchweih, und die Bauern tranken aus diesem Grunde drei Tage lang; sie vertranken fünfzig Rubel aus der Gemeindekasse und sammelten dann in allen Häusern Geld, um noch mehr Schnaps zu kaufen. Am ersten Tage schlachtete man bei den Tschikildejews einen Hammel und aß ihn dann am Morgen, zu Mittag und abends; man aß furchtbar viel, und die Kinder standen auch in der Nacht auf, um noch mehr zu essen. Kirjak war diese drei Tage sinnlos betrunken; er vertrank alles, selbst die Mütze und die Stiefel und verprügelte Marja so schrecklich, daß man sie mit Wasser begießen mußte, um sie zur Besinnung zu bringen. Und später empfanden alle nichts als Scham und Übelkeit.

      Einmal wurde aber in Schukowo, in diesem Lakaiendorf, ein echtes religiöses Fest gefeiert. Es war im August, als man durch den ganzen Landkreis, von Dorf zu Dorf das Gnadenbild der Lebenspendenden Mutter Gottes herumtrug. An dem Tage, als man sie in Schukowo erwartete, war es trüb und windstill. Die jungen Mädchen gingen schon am frühen Morgen in ihren grellen Kleidern der Prozession entgegen und geleiteten das Gnadenbild gegen Abend mit Gesang und unter dem Geläute aller Kirchenglocken am anderen Flussufer ins Dorf. Eine große Menge Einheimischer und Fremder überschwemmte die Dorfstraße; es gab einen Lärm, ein Gedränge und viel Staub ... Der Alte, die Großmutter, Kirjak – alle streckten die Hände zum Gnadenbilde aus, blickten es sehnsüchtig an und riefen unter Tränen:

      »Fürbitterin, Mütterchen! Fürbitterin!«

      Es war, als hätten alle plötzlich verstanden, daß der Raum zwischen Himmel und Erde doch nicht ganz leer sei, daß die Reichen und Mächtigen doch nicht alles an sich gerafft hätten, daß es noch einen Schutz gegen die Kränkungen, die Knechtschaft, die schwere, unerträgliche Not und den schrecklichen Schnaps gäbe.

      »Fürbitterin, Mütterchen!« schluchzte Marja. »Mütterchen!«

      Nachdem man aber einen Gottesdienst abgehalten und das Gnadenbild wieder weggetragen hatte, blieb alles wieder beim alten, und aus dem Wirtshause klangen wieder rohe, trunkene Stimmen.

      Angst vor dem Tode kannten nur die reichen Bauern, die, je reicher sie wurden, immer weniger an Gott und an das Seelenheil glaubten; nur aus Furcht vor dem irdischen Ende stifteten sie für jeden Fall Lichter und ließen Messen lesen. Aber die ärmeren Bauern fürchteten den Tod nicht. Dem Alten und der Großmutter sagte man oft ins Gesicht, daß sie zu lange leben und daß es für sie Zeit wäre, zu sterben, und sie machten sich nichts daraus. Man scheute sich nicht, in Nikolais Anwesenheit zu Fjokla zu sagen, daß, wenn Nikolai stürbe, ihr Mann Denis vom Militärdienst befreit werden und heimkehren würde. Marja aber hatte nicht nur keine Angst vor dem Tode, sondern grämte sich, daß er so lange auf sich warten ließ, und freute sich, so oft ihr ein Kind starb.

      Den Tod fürchtete man nicht, hatte aber dafür eine übertriebene Angst vor jeder Krankheit. Aus dem nichtigsten Anlasse, bei Magenverstimmungen oder leichtem Frösteln legte sich die Großmutter auf den Ofen, wickelte sich in Decken und begann laut und unaufhörlich zu stöhnen: »Ich sterbe!« Der Alte holte dann schnell den Geistlichen, und die Großmutter bekam die letzte Ölung. Man sprach oft von Erkältungen, von Bandwürmern, von Skropheln, die im Magen herumkollern und gegen das Herz drücken. Über alles fürchtete man aber Erkältung; daher kleidete man sich selbst im Sommer sehr warm und wärmte sich ständig am Ofen. Die Großmutter ließ sich gerne ärztlich behandeln und fuhr oft ins nächste Spital, wo sie ihr Alter nicht mit siebzig sondern mit achtundfünfzig Jahren angab; sie fürchtete nämlich, daß der Arzt, wenn er ihr wahres Alter wüßte, sie nicht mehr behandeln und ihr sagen würde, daß es für sie Zeit sei zu sterben. Ins Spital begab sie sich immer mit zwei oder drei Kindern am frühen Morgen und kam böse und hungrig am Abend wieder heim und brachte Tropfen für sich und Salben für die Kinder mit. Einmal schleppte sie auch Nikolai mit; er nahm nachher vierzehn Tage lang irgendwelche Tropfen ein und behauptete, daß er sich besser fühle.


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