Wie in einem Spiegel. Eckhard Lange

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Wie in einem Spiegel - Eckhard Lange


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„Sollten wir vielleicht einmal darüber reden?“ Der Lehrer bemühte sich, genauso emotionslos zu sprechen. „Natürlich nur, wenn Sie es möchten,“ fügte er in gleichem Tonfall hinzu. Eine Weile herrschte Schweigen, dann nahm Jason die Füße vom Boot und zog sie an sich. „Ich weiß, irgendetwas muss geschehen. Und es muss wohl auch bald geschehen,“ sagte er. „Wenn schon nicht mir, dann bin ich es doch der Schule schuldig.“ Dr. Scheer nickte: „Und die Schule will Ihnen auch helfen. Manchmal ist es nicht leicht, allein den richtigen Weg zu finden. Gehen müssen Sie ihn selbst, und finden wohl auch. Aber suchen können wir gemeinsam.“ Und nach einer Pause fuhr er fort: „Wie ist es – kommen Sie heute Abend zu mir? Auf ein Gläschen Wein, und für eine gemeinsame Suche.“ Er legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter, dann erhob er sich etwas schwerfällig. „Dieser Steg ist doch nicht mehr die passende Sitzgelegenheit in meinem Alter,“ sagte er entschuldigend. Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wollte nichts erzwingen. Der Junge braucht Zeit zum Nachdenken, ich werde ja sehen, ob er kommt.

      KAPITEL 2

       Jetzt, wo alles vorbei ist, wo es keine Zukunft mehr gibt außer dem Tod, kann ich, nein, muss ich mir Rechenschaft geben. Erleben nicht Sterbende ihr Leben noch einmal, ein ganzes Leben in wenigen Sekunden? Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, aber ich muss den Film zurückspulen bis zum Anfang. Ich muss wissen, warum alles so gekommen ist, damit ich meine eigene Schuld erkenne. Immer habe ich anderen die Schuld gegeben, aber war das gerecht? Ich muss dir dein Leben erzählen, Jason Yolck, und ich werde dich dabei ansehen, hier, in diesem Spiegel werde ich dir in die Augen blicken, und du wirst mir nicht ausweichen können. Ich muss dir dein Leben erzählen, ehe du stirbst, damit du selbst entscheiden kannst, welche Schuld du trägst.

       Das erste, woran ich mich erinnere, ist diese kleine Holzglocke über meinem Bett. Jeden Abend hat die Mutter den Klöppel herausgezogen, um die Spieluhr in Gang zu setzen. Das war der Augenblick, wo sie sich dann herabbeugte, um mir Gute Nacht zu sagen. Nie wäre ich eingeschlafen ohne dieses Ritual. Manchmal kam auch der Vater mit an mein Bett, doch das war letztlich nicht wichtig. Es war dieser mütterliche Geruch, es war die kleine Melodie, es war ihre sanfte Stimme, die ich brauchte, um den Schrecken der Dunkelheit zu ertragen. Sie begleiteten mich in die Nacht, ließen mich schreckliche Träume überstehen, denn ich träumte furchtbare Dinge, auch wenn ich nie wusste, was dabei geschah. Und ich weiß bis heute nicht, warum ich manchmal erschrocken aufwachte, zitternd vor Furcht vor etwas, was nie in meinem Leben greifbar wurde. Aber es war da, war eine andere Wirklichkeit, war wie die dunkle Materie im Kosmos, ungreifbar, unfassbar und doch vorhanden.

       Dann weitete sich meine Welt, das Haus mit der geschwungenen Treppe, der dunkel getäfelten Halle, den hohen Räumen im Erdgeschoß, in denen ich mich nie zuhause gefühlt habe – das alles tritt mir vor die Augen. Vor allem aber die wunderbar lichten Zimmer im oberen Stockwerk mit ihren Möbeln aus hellem Eschenholz, zwischen denen ich spielen konnte – und dann der Garten hinter dem Haus, wenig gepflegt und deswegen voller Träume und Abenteuer, der kleine Steg an seinem Ende, von dem aus man über das Wasser blicken konnte auf die Mauern und Türme der Stadt wie auf die Burg, die mir der Großvater zum fünften Geburtstag schenkte mit Rittern und edlen Damen. Beschützt war ich dort und geborgen, auch wenn ich immer wieder gewarnt wurde, nicht zu nahe ans Wasser zu gehen. Aber nie haben die Eltern dort einen Zaun setzen lassen, stets vertrauten sie auf ihr Wort und auf meine Einsicht.

       Jetzt, am Ende meines Lebens – auch wenn ich längst noch nicht jenes Alter erreicht habe, wo Menschen zu sterben haben, aber es ist dennoch für mich das Ende dessen, was man Leben nennen kann – jetzt also weiß ich, worin das Glück besteht: dass man Vertrauen haben kann und vom Vertrauen getragen wird. Aber ich hatte es all die Jahre danach vergessen, und heute, wo ich es erkenne, gibt es niemand mehr, dem ich vertrauen könnte, und wohl auch keinen, der mir vertrauen würde. Das ist bitter, aber es ist die Wahrheit.

       Es waren die Jahre der Unschuld, und selbst die Schule konnte sie nicht zerstören. Dabei mochte ich dieses große graue Gebäude ebenso wenig wie den Lärm dort, ich mochte die Lehrerin nicht, und auch die meisten Kinder waren mir zuwider, nur mit wenigen konnte ich spielen, auf dem Pausenhof und auch zu Hause in unserem Garten, denn dieser Garten war mein Paradies und sollte es bleiben, kein Unwürdiger sollte es entweihen. Aber ich lernte gerne und eifrig, jedes Geheimnis, das sich mir offenbarte, erfüllte mich mit Freude; und da war dann auch jener Lehrer mit dem ungepflegt langen Haar und dem rötlich-braunen Bart, der es verstand, Geheimnisse geheimnisvoll zu entschlüsseln, der von allem zu erzählen wusste, spannend wie in einem Abenteuer. Das hat mich mit der Schule versöhnt.

       Und einmal bin ich einem ganz anderen Geheimnis begegnet, auch wenn ich es erst viel später enträtseln konnte: Ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass es geschehen sein mochte, aber der Vater nahm mich eines Tages mit in die Fabrik, die sein Lebenswerk war. Und staunend durchschritt ich Räume, in denen gläserne Behälter vielfarbige Flüssigkeiten enthielten, in den Männer und Frauen in weißen Kitteln, mit weißen Hauben und weißen Tüchern vor dem Mund, merkwürdige Geräte bedienten. Staunend nahm ich fremdartige Gerüche wahr, sah große Maschinen, die kleine runde Teilchen in silberne Tafeln pressten, auf lange Bänder auswarfen und dann in Schachteln verpackten. Es war das erste Mal, dass ich die Firma Yolck Pharma betrat, und es sollte für lange Jahre auch das einzige Mal bleiben. So blieben diese Hallen für mich ein mystischer Ort, brannten sich diese Bilder in mein Gedächtnis ein als ein Zauberwerk, das mein Vater am Laufen hielt.

       Damals wusste ich noch nicht, dass es der Großvater war – ein würdiger Herr, stets mit Weste unter dem Sakko, mit korrekt gebundener Krawatte und blankgeputzten Schuhen ausgestattet – der in der Stadt eine Apotheke betrieb und noch im letzten Jahr des großen Krieges zwei Patente angemeldet hatte, auf denen alles beruhte. Es waren neuartige Medikamente, die bald weltweit genutzt wurden und die nun in jenen Hallen am Stadtrand produziert wurden. Aber erst der Vater machte aus der Yolck Pharma KG ein Unternehmen, das bis in die letzten Winkel dieser Erde lieferte und dennoch allen Übernahmeversuchen der Großen dieser Branche widerstand. Niemand war es gelungen, diese Medikamente durch bessere oder wenigstens gleichwertige zu ersetzen, jeder Arzt, jedes Krankenhaus war auf die Lieferungen dieser Firma angewiesen, und weil unsere kleine Familie nur wenig von den gewaltigen Gewinnen für sich verbrauchte, wurde der Vater bald auch zum geschätzten Mäzen, zum angesehenen Wohltäter in unserer Stadt und auch weit darüber hinaus.

       Eigentlich hätte ich meinen Vater bewundern müssen, aber ich war wohl viel zu klein, um seine Leistung zu verstehen. Und Teil dieser Leistung war es ja, dass er selten im Hause war und noch seltener Zeit für den Sohn hatte. Nein, mein Vater war ein Fremder für mich, und er ist es auch noch heute, wenn auch auf eine andere Weise. Mein Leben war geprägt von Mama, und sie liebte ich mit der ganzen Kraft meiner Kinderseele. Dass auch er sie liebte, über alles liebte, habe ich erst erfahren, als wir sie verloren hatten.

       Es geschah alles so plötzlich damals, und ich habe es nicht verstehen können – ja, auch nicht verstehen wollen. Sieben Jahre war ich alt, gerade hatte ich die erste Klasse hinter mich gebracht und freute mich auf die Ferien, die wir gemeinsam an der Ostsee verbringen würden, in dem kleinen Ferienhaus, das der Vater gekauft hatte, als ich drei wurde. Da hieß es plötzlich, Mama sei krank. Der Vater ging mit besorgtem Gesicht durchs Haus, Ärzte kamen und gingen, ich durfte nicht zu ihr, sie brauche Ruhe, sagte man zu mir. Und dann kamen statt der Ärzte Männer in schwarzen Anzügen, der Vater schickte mich ins Kinderzimmer, aber ich sah, wie seine Hände zitterten. Durch das Fenster sah ich, wie die schwarzen Männer etwas genauso Schwarzes, Längliches aus dem Haus trugen, und ich verstand nicht, was dort vor sich ging. Es war der Großvater, der danach zu mir kam, sich umständlich neben mich setzte und mit einer merkwürdig fremden Stimme sagte: „Du musst jetzt sehr tapfer sein, Jason. Deine Mutter ist nun fort, für immer.“ Und als ich ihn nur erschrocken anblickte, nahm er mich in den Arm – es war das einzige Mal, dass er mir so nahe kam – und ergänzte: „Sie ist gestorben.“

       Ich habe nicht geweint damals, nein, denn ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich wollte nur zu ihr, irgendwo musste sie doch sein, und als ich das nicht durfte, habe ich


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