Die neunschwänzige Katze. Kendran Brooks
Читать онлайн книгу.welche sie aus Rücksicht auf Sheliza selbstverständlich ohne Speck zubereitet hatte.
Sheliza bin-Elik musste sich erst noch in den Takt der westlichen Millionenstadt einleben. Davon war die Britin überzeugt. Denn die bisherigen Teenager-Jahre hatte die gläubige Alawitin in einer kleinen Gemeinde im Norden von Syrien verbracht, einem Ort ohne Diskotheken, ohne Bars, ohne Internet-Kaffees, mit einem einzigen Kinosaal, der von einem Imam geleitet wurde und der darum ausschließlich religiös erbauende Filme aus dem arabischen Raum aufführte. Al-Busayrah war wie eine Kapsel für die junge Muslimin gewesen, ein Ort ohne echten Kontakt nach draußen, in die Welt hinaus, ein Ort, wo das Seelenheil jedes Einzelnen als weit wichtiger gewertet wurde als jeder wirtschaftliche Erfolg.
Dschihadisten, von der sunnitischen Mehrheit herbeigerufen, hatten diesem beschaulichen Leben ein jähes Ende gesetzt. Sie überfielen die Stadt und begannen sogleich, die Christen und Alawiten auszurotten. Auch die Familie bin-Elik fiel ihnen zum Opfer, mit Ausnahme ihres Groß-Onkels Jussuf. Mit ihm zusammen war Sheliza in die Türkei entkommen.
Bestimmt taute die Muslimin auf, sobald ihr Kind zur Welt gekommen war, sobald sie für einen jungen Erdenbürger die Verantwortung übernehmen musste.
Sheliza war aufgeweckt, machte riesige Fortschritte in Englisch, würde ab Januar eine reguläre Schule im Quartier besuchen können. All dies musste Einfluss auf sie ausüben, musste sie verändern, sie aus ihrer Erstarrung lösen, in die sie seit ihrer Ankunft in London gefallen war, angesichts all der öffentlichen Obszönitäten, welche die europäische Hauptstadt mitprägten, angefangen bei den Plakatwänden mit halbbekleideten Frauen und Männern, über die Pfützen von Erbrochenem auf den Gehsteigen an jedem Samstagmorgen, bis hin zu den Minirock tragenden, Zigaretten rauchenden, stark geschminkten, meist älteren Frauen in den Gassen von Soho und Shepherd Market. Holly und auch Henry hatten viel mit dem Mädchen darüber geredet und diskutiert, über all den Schmutz und den Sittenverfall, über das Für und das Wider einer offenen Gesellschaft, über das Miteinander völlig unterschiedlicher Ansprüche und Lebensweisen. Noch fehlten bei Sheliza Einsicht und Toleranz. Nicht verwunderlich für einen Teenager. Man musste ihr einfach mehr Zeit lassen.
Henry Huxley kam nach Hause, wurde von Holly mit einem Kuss begrüßt.
»Ich kann in zehn Minuten anrichten.«
»Ist gut, Liebling. Ist Sheliza zurück?«
»Ja, selbstverständlich, auf ihrem Zimmer.«
Mehr sagte Holly nicht, wollte nicht unnötig einen schlafenden Hund wecken, kannte ihren Henry längst gut genug, wusste, dass er der jungen Muslimin womöglich nachspionieren würde, falls er von ihrem häufigen Ausbleiben erfuhr und von all den nicht eingehaltenen Vereinbarungen der letzten Wochen.
Man muss, wann immer möglich, den Menschen, die einem nahe stehen, Vertrauen entgegenbringen. Denn wie könnten wir ohne Vertrauen zusammenleben?
Holly Peterson hielt sich an ihren Grundsatz, der sich meistens bewährt hatte, zumindest, solange es sich nicht um einen ihrer Kunden von früher handelte, sondern um hart arbeitende Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt noch selbst verdienten. Denn wer für sich und seine Familie Verantwortung übernahm, der ging auch mit anderen Menschen behutsam um.
»Das wird schon«, beantwortete sie sich selbst die nicht gestellte Frage.
»Ist was?«, schallte es von Henry und vom Sofa aus in die offene Küchenzeile hinüber.
»Nein, alles Bestens.«
Dezember 2013
Es war bislang kaum Schnee gefallen und trotzdem war Weihnachten allgegenwärtig. Die Geschäfte hatten sich herausgeputzt, mit Plastik-Tannengirlanden und bunten Lichtern. Die Verkäuferinnen lächelten besonders freundlich, vielleicht in Erwartung einer möglichst fetten Umsatzprovision, bevor der Start der Ausverkaufssaison nach dem Boxing Day begann. Selbst die Passanten auf den Gehsteigen schienen beschwingter, auf jeden Fall jedoch umsichtiger und zuvorkommender als die übrige Zeit im Jahr. Niemand wollte es sich mit dem Christkind verderben, nicht einmal die Muslimen, Juden, Buddhisten und Hindi.
Henry Huxley, Holly Peterson und Sheliza bin-Elik waren im Harrods unterwegs, hatten sich mit der passenden Winterbekleidung für die Vierzehnjährige herumgeschlagen, hatten sie zum einen oder anderen Stück überreden können. Zumindest vor Holly zeigte die junge Muslimin bislang keine Scheu, akzeptierte sie auch in den Umkleidekabinen, war für ihren Ratschlag durchaus dankbar, auch wenn sie sich stets für das langweiligste und damit auch günstigste Teil aus einer Auswahl entschied.
»Hier ist alles so furchtbar teuer«, meldete Sheliza ihre Bedenken immer wieder an, »eine wollene Mütze für achtzig Pfund? Das sind doch Halsabschneider.«
Die Britin lächelte jeweils nachsichtig, wiegelte ab, fand auch aufmunternde Entschuldigungen oder sprach über das oft sehr hohe Einkommen der Londoner. Sie zeigte große Geduld mit der Alawitin aus Syrien, wollte sich die Weihnachtsstimmung nicht durch möglicherweise berechtigte, aber ungelegene Anklagen und Diskussionen vermiesen lassen.
Später fuhren sie ins Kellergeschoss, besuchten dort den Supermarkt, wo Henry sich eingehend beraten ließ und sich vom Verkäufer fürs Neujahr einen erst kürzlich eingetroffenen, spritzig-fruchtigen Champagner eines kleinen aber feinen Herstellers wortreich aufschwatzen ließ, während Sheliza und Holly ohne großes Interesse die Regale mit den Weinflaschen abgingen und sich die junge Muslimin wiederholt über die aberwitzig hohen Preise beschwerte und den Konsum von Alkohol ganz generell anprangerte.
»Toleranz«, meinte Holly nachsichtig, »muss jeder Mensch erst einmal lernen, Sheliza. Christus hat das Abendmahl der Überlieferung nach mit Brot und Wein gefeiert. Deshalb ist Alkohol bei uns nicht verboten, auch wenn er viel Böses anrichten kann, wenn es jemand mit dem Trinken übertreibt.«
»Darum verstehe ich das auch nicht«, meinte die Vierzehnjährige kopfschüttelnd, »man weiß genau, dass Alkohol für Menschen nicht gut ist und erlaubt ihn trotzdem? Das ergibt einfach keinen Sinn? Zumindest die Religion sollte ihn doch verbieten?«
»Die Bibel lässt den Menschen sehr viele Freiheiten, Sheliza, engt sie weit weniger in der Gestaltung ihres Lebens ein als zum Beispiel der Koran oder die Thora der Juden. Das Christentum glaubt nämlich an zwei Dinge. An die Selbstverantwortung der Menschen für ihr Leben und an die Selbsteinsicht der Menschen, wenn sie sich im Gebet an Gott wenden und ihn um Rat fragen.«
»Aber wäre es nicht besser, wenn auch die Bibel mehr Dinge verbieten würde? Nicht nur das Trinken, sondern auch all die nackten Bilder von Frauen und Männern in der Werbung? Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, wenn die Sitten so zerfallen? Das Zusammenleben ist doch viel einfacher, wenn die Menschen mehr Regeln befolgen?«
»Ach, Sheliza«, seufzte Holly leise, »die Welt ist doch weit komplexer, als dass sie durch ein heiliges Buch für alle Zeiten abgebildet werden könnte. Sieh dir doch an, was überall auf der Welt geschieht, ob unter den Christen, den Muslimen, den Buddhisten oder den Hindi. Gewalt tritt überall auf, aber auch Ungerechtigkeiten, Übervorteilung und Betrug. All das verbieten zwar die heiligen Bücher und trotzdem werden sie verbrochen, selbst von gottesfürchtigen Menschen. Die Religion gibt zwar einen Rahmen vor. Doch umsetzen müssen ihn die Menschen selbst und daran hapert es in allen Kulturen und zu allen Zeiten.«
Sheliza schien sich im Moment mit der Erklärung abzufinden, interessierte sich auch nicht länger für den Wein und die Spirituosen, schlenderte gedankenverloren weiter, hinüber zu den Gestellen mit den Konserven. Die Britin folgte ihr wie unabsichtlich und mit Abstand, behielt sie jedoch fast ständig im Auge, versuchte die Gedanken und Gefühle der Vierzehnjährigen zu erraten, wenn sie irgendwo stehenblieb und sich irgendwelche Verkaufswaren näher betrachtete.
Was versprach sich ein muslimischer Teenager von seinem Leben?, fragte sich Holly immerzu und nach einer Weile ergänzte sie in Gedanken, was versprach sich ein schwangerer, muslimischer Teenager von seinem Leben?
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Alles sprach vor allem vom