Der Gefangene im Kaukasus. Лев Толстой

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Der Gefangene im Kaukasus - Лев Толстой


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in einer Ecke bis alles wieder still wurde. Nur die Lämmer hörte man im Stalle blöken und das Rauschen eines Baches in der Tiefe. Über dem Berge neigte sich der Halbmond zum Untergang und in den Tälern lag milchweißer Nebel.

      Schilin erhob sich und rief dem Gefährten zu: »Nun, Bruder, Aida!«

      Leise machten sie sich auf den Weg, kaum aber waren sie einige Schritte weit gekommen, als sie den Ruf des Mullah vom Dache hörten: »Allah!, besmilla Ilracham!«5

      Wieder setzten sich die Flüchtlinge hinter eine kleine Mauer, um sich zu verbergen. Lange Zeit mußten sie dort ausharren, während die Tataren vorübergingen. Endlich wurde wieder alles still.

      »Nun mit Gott vorwärts!«

      Sie bekreuzten sich und gingen.

      Sie gingen über den Hof und den Abhang hinab, bis zu dem Flüsschen, durchwateten dasselbe und traten in das enge Tal ein. Ein dichter Nebel lag unten, von oben sah man jedoch die Sterne hindurchschimmern. Nach diesen Sternen wählte Schilin die einzuschlagende Richtung. Die Luft war frisch und zu einem Nachtmarsche vortrefflich geeignet. Aber die Stiefel wurden sehr lästig. Schilin zog die seinigen von den Füßen, warf sie fort und ging barfuß weiter, von Stein zu Stein springend und sich aufmerksam nach den Sternen richtend.

      Doch bald begann Kostylin zurückzubleiben.

      »Langsam«, sagte er. »geh' langsam! Diese verdammten Stiefel haben mir die Füße wund gerieben.«

      »Wirf sie doch weg, dann hast Du leichter zu gehen.«

      Kostylin befolgte diesen Rat und ging gleichfalls barfuß weiter. Aber nun wurde es noch schlimmer. Die Steine zerrissen seine Füße, und immer weiter blieb er zurück. Schilin suchte ihn zu ermutigen.

      »Was schadet das, wenn auch die Füße wund werden, das heilt wieder. Wenn sie uns aber einholen, werden sie uns töten!«

      Kostylin erwiderte nichts und ging seufzend weiter. So gingen sie lange in der Niederung dahin. Da hörte Schilin von rechts her Hundegebell und hielt an, blickte sich sorgsam um und klomm, mit den Händen tastend, den Berg hinan.

      »Ach!« rief er. »Wir haben uns verirrt. Wir sind zu weit nach rechts gekommen! Da liegt ein fremdes Dorf, ich habe es vom Berge aus gesehen. Wir müssen zurück und uns mehr nach links wenden über den Berg hinüber. Dort muß ein Wald liegen!«

      Kostylin aber meinte: »Warte wenigstens ein wenig; laß mich erst ein bißchen zu Atem kommen, meine Füße sind ganz blutig.«

      »Ach, die werden schon wieder heilen! Versuch doch zu springen, dann hast Du's leichter! Sieh mal so!«

      Und damit lief Schilin zurück und den Berg zur Linken hinan, während Kostylin stöhnend immer weiter zurückblieb. Schilin suchte ihn anzutreiben, ohne jedoch anzuhalten.

      Sie erklommen den Berg und fanden auch den Wald. Sie drangen durch das Dickicht ein. Der Rest ihrer Kleidung wurde in Fetzen zerrissen. Hierauf aber fanden sie einen Weg durch den Wald, dem sie folgten.

      »Halt! Halt!«

      Hufschläge ließen sich auf dem Wege vernehmen. Sie hielten an und horchten.

      Die Hufschläge eines Pferdes kamen näher und hielten plötzlich an. Sie gingen weiter und wieder hörten sie die Hufschläge, sowie sie aber stehenblieben, hörten auch jene auf.

      Schilin trat aus dem Dickicht heraus und schaute den Weg entlang. Er sah dort etwas stehen, das wie ein Pferd aussah, und auf diesem Pferde bemerkte er etwas Sonderbares, das jedoch nicht einem Reiter glich. Er hörte ein Schnauben und horchte aufmerksam hin.

      Was für ein Wunder! Schilin pfiff leise, und plötzlich floh mit Sturmeseile die Gestalt vom Wege fort in das Waldesdickicht. Die dürren Zweige knisterten unter dem eiligen Laufe.

      Kostylin war heftig erschrocken, Schilin aber rief lachend aus: »Das ist ja ein Hirsch! Hörst Du nicht, wie er mit seinem Geweih die Zweige abbricht? Vor dem haben wir uns gefürchtet, und er ist noch mehr erschrocken über uns.«

      Sie setzten ihren Weg fort. Schon erlosch das Licht der Gestirne, der Morgen konnte nicht mehr fern sein. Mehr als einmal war Schilin im Zweifel, ob sie sich auch noch auf dem rechten Wege befänden. Wohl schien es ihm, als ob er auf dieser selben Straße in die Gefangenschaft geführt worden sei, und daß sie etwa zehn Werst noch zurückzulegen hatten; sichere Anzeichen dafür hatte er aber durchaus nicht, und die Nacht konnte ihn täuschen.

      Er trat auf die Ebene hinaus, während Kostylin sich niedersetzte und sagte: »Mach, was Du willst, ich gehe nicht weiter. Meine Füße tragen mich nicht mehr.«

      Wiederum suchte ihn Schilin zu ermutigen.

      »Nein«, erwiderte Kostylin, »es geht nicht, ich kann durchaus nicht mehr!«

      Schilin wurde zornig, spie aus und sagte ihm heftige Worte. »Nun, dann gehe ich allein. – Leb wohl!« schloss er.

      Da sprang Kostylin auf und schleppte sich mühsam weiter. So legten sie vier Werst zurück, und immer dichter wurde der Nebel im Walde. Vor ihnen war nichts zu unterscheiden, und selbst die Sterne waren nicht mehr sichtbar.

      Da plötzlich blieb Schilin stehen und horchte. Vor sich hörte er wieder Hufschläge. Deutlich war zu vernehmen, wie die Hufeisen gegen die Steine schlugen. Er legte sich platt auf den Erdboden und horchte.

      »Diesmal ist es richtig ein Reiter, er kommt uns entgegen«, sagte er.

      Sie zogen sich tiefer in das Dickicht zurück und warteten. Dann schlich Schilin wieder zum Wege zurück und sah nach allen Seiten. Bald kam ein Tatar zu Pferde, der eine Kuh vor sich her trieb, indem er ein Lied summte. Langsam ritt er vorbei, und Schilin kehrte erleichtert zu Kostylin zurück.

      »Nun, Gott hat ihn vorbeigeführt. – Steh auf; wir müssen weiter!«

      Kostylin machte eine Anstrengung, sich zu erheben, fiel aber sogleich wieder nieder.

      »Ich kann nicht! Bei Gott, ich kann nicht, ich habe keine Kraft mehr!«

      Der große, dicke Mensch schwitzte schrecklich. In dem kalten Nebel im Walde schauerte er vor Kälte; seine Füße waren wund, und er selbst ganz ermattet. Schilin wollte ihn mit Gewalt aufheben, aber Kostylin schrie dabei laut auf: »O weh! O weh!«

      Schilin ward starr vor Schreck. »Was schreist Du so! Der Tatar ist ja noch ganz in der Nähe und hört Dich.«

      Im stillen sagte er sich dabei: »Er ist auch in der Tat ganz schwach geworden. Was soll ich mit ihm anfangen? Einen Kameraden im Stich lassen, das geht nicht an.« Laut fügte er deshalb hinzu: »Steh auf und setze Dich auf meinen Rücken, ich werde Dich tragen, wenn Du wirklich nicht mehr gehen kannst!«

      Er nahm in der Tat Kostylin auf den Rücken und trat mit seiner schweren Last auf den Weg hinaus.

      »Aber würge mich doch nicht mit Deinen Händen am Halse!« sagte er. »Halte Dich an meinen Schultern fest.«

      Schilin hatte schwer zu schleppen; seine Füße waren wund, und bald war er völlig erschöpft. Er bückte sich und suchte die Last bequemer zu rücken, damit ihm das Tragen etwas erleichtert werde, dann schleppte er sich mühsam weiter.

      Allein Kostylins Geschrei mußte der Tatar, welcher vorhin vorbeigeritten war, gehört haben. Schilin hörte ihn zurückkommen und in seiner Sprache rufen. Wiederum eilte er ins Dickicht. Der Tatar ergriff sein Gewehr und schoß auf sie, jedoch ohne zu treffen. Dann ritt er schleunigst davon.

      »Jetzt sind wir verloren, Bruder!« rief Schilin verzweifelt aus, »der wird uns alsbald die Tataren zur Verfolgung nachschicken. Wenn wir jetzt nicht mindestens drei Werst weit kommen können, so sind wir unrettbar verloren!«

      Dabei sagte er zu sich selbst: »Der Satan hat mich verführt, diesen Fußklotz mit mir zu nehmen; allein wäre ich nun schon längst am Ziel.«

      Kostylin sagte: »Geh allein! Warum willst Du mit mir zugrunde gehen?«

      »Nein, allein gehe ich nicht; es ist nicht ehrenhaft, einen Kameraden


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