und plötzlich warst du weg. Thomas Tippner

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und plötzlich warst du weg - Thomas Tippner


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ihr ein verkrampftes Lächeln schenkte.

      Er merkte, dass es ihm nicht gut ging. Dass ihm das Heimkommen mehr zusetzte als schlechte Absatzzahlen.

      Deswegen versuchte er sich in Floskeln und sagte: „Ich freue mich auch, wieder hier zu sein“, und hätte sich am liebsten für die Lüge geohrfeigt.

      Er wäre überall auf der Welt lieber gewesen.

      Himmel, nein, er wollte hier ganz bestimmt nicht sein.

      Nicht an diesem Ort, wo das Leben eine solch grausame Wendung genommen hatte und nicht einmal die auf der Mahagoni-Anrichte stehende Vase noch mit Lilien gefüllt war. Selbst die in das obere Stockwerk führende Treppe hatte sich verändert. Die Treppe, die ihn immer hinauf in sein eigenes Reich, sein kleines Zimmer geführt hatte, wo er den besten Punkrock aller Zeiten hörte. Wo er das erste Mal in seinem Leben eine junge, unschuldig wirkende Eva Brand küsste, die doch nur zum Hausaufgabenmachen gekommen war.

      Ja, da oben hatte es immer die heile Welt gegeben.

      Waren die Momente anwesend, die Torben niemals für möglich gehalten hatte.

      Da oben war alles irgendwie …

      … richtig gewesen.

      Auch wenn seine Schwester und sein jüngerer Bruder dort ebenfalls ihre Zimmer gehabt hatten. Ja, selbst das seinem Jugendreich gegenüberliegende Schlafzimmer seiner Eltern war irgendwie normal gewesen. So normal, dass es ihn nicht einmal gestört hatte, dass die Tür seiner Eltern niemals geschlossen war und er, wenn er aus seinen „Gemächern“ trat, einen flüchtigen Blick auf seine schlafende Mutter und seinen leise schnarchenden Vater werfen konnte.

      Sie hatten da oben am Wochenende immer so lange wie möglich versucht sich zu erholen. Hatten sich die Decken und Kopfkissen übers Gesicht gezogen, um den Punk aus Torbens Zimmer ebenso wenig zu hören wie das laute Gedudel der Playstation von Mark oder die ohrenbetäubende und den Verstand entzweischneidenden Klänge der Kelly Family.

      Trotzdem aber haben sie geschlafen, um dann irgendwann aus den Betten zu kriechen und müde und zerrupft, wie sie immer ausgesehen hatten, die Familie zum gemeinsamen samstägigen Frühstück zusammenzurufen.

      Wie er das vermisste.

      Wie er das alles gerne wiederhätte.

      Alles.

      Die unbekümmerte Zeit, wo man zu seinem Vater kommen konnte, um ihn zu fragen, ob er fünfzig Mark habe, weil man am Abend mit einem Freund mal kurz nach Bergedorf ins Tschako wollte, um dort eine „Cola“ zu trinken. Um dann eine grinsende Antwort zu bekommen, dass man es mit der „Cola“ nicht so sehr übertreiben solle.

      Oder die kurzen, aber liebevollen Unterhaltungen in der Küche, während die eigene Mutter am Toaster stand, sich den Bademantel enger um den Körper zog und man sie fragen konnte, ob es richtig gewesen sei, Eva Brand gewähren zu lassen, wenn sie einen küsste. Ob man nicht echte, ehrliche Gefühle haben müsse, falls man sich dazu hinreißen ließ, die Küsse zu erwidern und verstohlen schüchtern nach ihren Brüsten zu greifen, die sich so verführerisch klein unter dem kanariengelben Top abzeichneten. Ja, es waren diese Momente, die das Haus am Ufer der Ostsee zu etwas ganz Besonderem machten.

      Hier hatte er gelebt, gestritten und geliebt.

      Und heute?

      Heute war es, als würde er einen Schritt in eine schwarze, mit dem bloßen Auge nicht zu durchdringende Dunkelheit gehen, die ihm das Gefühl gab, jemand würde ihm eine Hand um den Hals legen und zudrücken.

      Deswegen konnte er seine Schwester nicht länger umarmen.

      Es ging einfach nicht.

      Sie war jeden Tag hier. Wieder und wieder.

      Torben fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und fragte mit bleiern klingender, schwerer Stimme: „Was macht Noel?“

      „Der wird sich freuen, dich zu sehen!“, ging Monika auf die ausweichende Frage ihres Bruders ein und zeigte ihr zauberhaftes, menschengewinnendes Lächeln, das er früher so sehr verabscheut hatte. „Der ist heute aber mit einem Freund am Strand. Sie wollen einen Schatz finden, den Piraten hier einmal vergraben haben.“

      „Der kleine Abenteurer“, lächelte Torben und konnte die in seinem Neffen überkochende Fantasie verstehen, die ihn zu den waghalsigsten Abenteuern antrieb.

      Er selbst hatte sich früher immer vorgestellt, dass aus den Tiefen der Ostsee eine monumentale antike Stadt aufstieg, durch deren verlassene Gänge und Straßen er lief. Immer auf der Suche nach dem verborgenen Kristall der Sonne, mit der man die von den Dämonen verfluchten Menschen befreien und wieder zurück auf die Erde holen konnte.

      Seine Fantasie war dermaßen mit ihm durchgegangen, dass er sich die einzelnen Wassertropfen, die Rinnsale allesamt vorstellen konnte, wie sie von Dachvorsprüngen tropften und rannen. Ja, er sah die Algen und Seesterne an den Fassaden und Wänden kleben. Selbst der Geruch von abgestandenem, salzigem Wasser hatte er in der Nase, während er abends, auf die Fensterbank gestützt, das im Rot der Sonne liegende Meer betrachtete.

      Alles und jeden sah er da in seiner Stadt Utopia.

      Selbst die Schatten, die von den Körpern der Menschen getrennt worden waren und in ihrer Panik vor den Dämonen, in grausamer Verzauberung, zum aufgehenden Mond immer noch liefen, liefen und liefen, ohne jemals ihr Ziel zu erreichen.

      Ja, er konnte Noel verstehen, dass ihn die Fantasie durchdrang. Dass er sich mit Freunden in Abenteuer stürzte und dass er so wenig wie möglich hier im Haus seines Großvaters sein wollte.

      „Er ist ganz verrückt nach dem ganzen Kram. Und das nur, weil du ihm ‚Die Schatzinsel‘ geschenkt hast!“

      „Das beste Buch, das jemals veröffentlicht wurde.“

      „Das beste Buch“, lachte Monika, die dann auf die Reisetasche und den Koffer zeigte. „Willst du die Sachen stehen lassen oder erst einmal einziehen, bevor wir zu …“, sie beendete die Sätze, wenn es um ihren gemeinsamen Vater ging, so gut wie nie. Beinah so, als wollte sie Torben nicht weiter verletzen und ihm die Qual ersparen, dass ihr Vater …

      Er konnte es auch nicht.

      Es war Torben nicht möglich, auch nur eine Sekunde zu glauben, dass der hochgewachsene, immer selbstbewusste, dem Leben zugeneigte Mann die Zügel seines Schicksals aus den Händen gegeben hatte. Dass er von einer unheilbaren Krankheit heimgesucht wurde und von nun an nicht mehr allein sein konnte – nicht mehr allein sein durfte –, weil er sonst …

      Torben brach auch den Gedanken ab, als er in das plötzlich traurige Gesicht seiner Schwester schaute und es mit einem erneuten schiefen Lächeln versuchte. Ein Lächeln, das ihm ebenso misslang, wie seiner Stimme einen ruhigen, einen gefassten Klang zu verleihen. Als er sich sagen hörte: „Ich will Papa sehen und ihm Hallo sagen“, schwang jedes einzelne Wort, als wollte es kippen.

       Ich pack das einfach nicht …

      „Dann komm. Er sitzt auf der Terrasse. So wie immer.“

      So wie immer, hallte es in ihm nach und ließ ihn wieder an die unzähligen Abende denken, die sie gemeinsam als Familie hier draußen gesessen und der Sonne beim Untergehen zugeschaut hatten. Wie sie sich daran erfreuten, einfach nur hier zusammenzusitzen, um den Geruch von gegrilltem Fleisch in der Nase zu tragen und dem weichen Rauschen der auf den Strand zurollenden Wellen zu lauschen.

      Es war alles perfekt gewesen.

      Alles war so …

      … schön gewesen damals.

      „Komm“, sagte Monika noch einmal und ging voraus, durch den Flur, um dann in das geräumige, große Wohnzimmer zu gelangen, das in drei Bereiche unterteilt war. An der Tür, die hinausführte, blieb sie stehen, winkte Torben herbei und zeigte hinaus auf die im Sonnenlicht liegende Terrasse, nachdem er den kleinen Absatz, der zum Kaminbereich des Wohnzimmers führte, hinabgestiegen war.

      „Sieh nur“, flüsterte sie und holte tief Luft, „wie er dasitzt


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