Die Vergessenen. Eckhard Lange
Читать онлайн книгу.auch mit den Freundinnen der Mutter und natürlich in der Synagoge wurde aramäisch gesprochen, die Muttersprache der galiläischen Juden, doch in der Familie nutzte man weitgehend das Griechische. Chusa sprach es am Hofe des Herodes, und er pflegte diese Sprache auch zu Hause, war sie doch Zeichen seiner Bildung, seiner Zugehörigkeit zur höheren Gesellschaftsschicht. Sogar einige Brocken Latein wusste er zu verwenden, wenn es nötig wurde.
Und obwohl die Mutter darauf verzichtete, den Gatten nach Jerusalem zu begleiten, wenn er im Auftrag des Tetrarchen nach Judäa reiste oder auch, soweit es der Beruf erlaubte, um an den Festen im Tempel teilzunehmen, Junia drängte den Vater stets, sie doch mitzunehmen. Gerne verweilte sie dann im Vorhof der Frauen, aber wenn es der Vater erlaubte, suchte sie auch die Gemeinschaft der Jünger des Meisters auf, die sich täglich in einem Hause ganz in der Nähe des Tempels traf. Auch wenn sie erst zehn Jahre alt war, man begrüßte die Tochter der Johanna stets freundlich. Chusa gestattete es, wusste er sie doch dort wohlbehütet, wenn er in Geschäften unterwegs war, und Maria, die er ja gut aus Magdala kannte, bewachte das Mädchen wie ihren Augapfel, da war er ganz sicher.
Es gab in Jerusalem jedoch noch eine andere Gruppe, die sich zu den Anhängern des Nazareners zählte. Das waren griechischsprachige Juden, die lange in der Fremde gelebt hatten oder sogar dort geboren waren. Und Maria, die gerne erzählte, daß der Meister sogar heidnischen Menschen geholfen hatte – einem römischen Centurio etwa oder einer kranken Frau aus Tyros – ging gerne auch zu diesen Brüdern und Schwestern. Sie verstand nicht, daß Petrus und Johannes dorthin eher Abstand hielten, glaubten sie doch ebenso an die Auferweckung des Meisters und daran, daß er bald wiederkommen und Israel erlösen würde. Ein oder zwei Male hatte sie deshalb auch Junia bei ihren Besuchen mitgenommen, schließlich kannte das Mädchen ja auch diese andere Sprache.
Auch wenn Johanna Jerusalem nicht aufsuchte – gerne hörte sie von der Tochter, was dort geschah, und auch die Freundinnen erzählten oft von Petrus und Johannes und den anderen Freunden, die Jesus nachgefolgt waren. Nun war übrigens auch der Bruder des Meisters dazugestoßen, der doch zu seinen Lebzeiten sich stets ablehnend verhalten hatte. Doch der Auferstandene, so erzählte man, sei auch ihm erschienen. So fanden immer wieder Menschen zum Glauben, und die Gemeinschaft wuchs langsam, aber stetig. Nicht nur Männer und Frauen aus Jerusalem und den umliegenden jüdischen Gebieten, sondern eben auch jene hellenistischen Juden bekannten sich zu Jesus als dem Messias.
Junias wacher und kritischer Geist hatte wohl bemerkt, daß diese Gruppe sich längst nicht mehr streng an die vielen Vorschriften hielten, die doch für einen frommen Juden Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben bedeuteten. Maria hatte es ihr einmal so erklärt: Auch Jesus selbst hatte die Gesetze, die Israel auferlegt waren, oft durchbrochen oder missachtet. Nicht sie seien es, die den Weg zu Gott öffnen, so erklärte sie Junia, sondern allein die Barmherzigkeit Gottes selbst. Das habe der Meister klarmachen wollen. Wenn also Petrus und Jakobus alle die Vorschriften treu erfüllen, so sei das zwar gut, um fromme Juden nicht zu verstören, wenn sie ihnen den Messias verkündeten, aber notwendig sei es nun nicht mehr. Das verstand Junia wohl, und sie konnte sich den oft so fröhlichen Meister auch nicht als sauertöpfischen Pharisäer vorstellen, der jeden Sabbat seine Schritte zählt, um nur nicht einen zuviel zu tun.
Eines Tages aber brachte Chusa aus Jerusalem eine schreckliche Nachricht mit: Eben diese Pharisäer hätten einen der Leiter dieser hellenistischen Anhänger des Meisters angezeigt, und er sei verhaftet worden. Mit großer Sorge hörten Johanna und ihre Tochter davon, und Junia erzählte nun der Mutter, sie hätte diesen Mann mit Namen Stephanus selbst einmal durch Maria kennengelernt. „Er ist voller Begeisterung,“ sagte sie, „und er wird sich nicht irgendwie herausreden, sondern fest zum Meister stehen. Das kann ihn den Kopf kosten.“
Und sie sollte recht behalten. Einige Tage später kam die Nachricht aus Jerusalem, der Hohe Rat hätte ihn verhört und zum Tode verurteilt. Er sei wegen Gotteslästerung gesteinigt worden. Als Johanna der Tochter die Botschaft überbrachte, war sie erstaunt über Junias Antwort: „Ich kann nicht trauern, Mutter,“ sagte sie. „Er ist doch für den Meister, für Gottes Sache gestorben. Ich wollte, ich hätte einmal den gleichen Mut.“
3
Chusas Gedanken waren recht zwiespältig, als er im dritten Jahr der Regierung des Kaisers Caligula von seinem Herrn Herodes Antipas den Befehl erhielt, ihn auf einer Reise nach Rom zu begleiten. Einerseits wusste er die Ehre und das Vertrauen zu schätzen, das der Tetrarch in ihn setzte, andererseits würde er für Monate seine Familie nicht zu Gesicht bekommen – daß er sie nie wiedersehen sollte, damit rechnete er allerdings nicht. Seit der Neffe seines Herrn, Herodes Agrippa, zwar nur das unbedeutende Ituräa zugesprochen bekommen hatte, das aber nun verbunden mit dem Titel eines Königs von Juda, lag die ehrgeizige Gattin dem Herodes Antipas in den Ohren, beim Kaiser auch für Galiläa diesen Rang zu erbitten. Also beschloß er, mit entsprechendem Gefolge, Caligula aufzusuchen. Und sein Verwalter Chusa zählte dazu.
In Rom allerdings verlor er dagegen alles: Agrippa, gut befreundet mit dem Kaiser, verleumdete ihn mit allem nötigen Geschick, um selbst Galiläa zu erhalten, und Caligula tat ihm den Gefallen. Der Tetrarch wurde abgesetzt und ins ferne Gallien verbannt, und Chusa erlitt das gleiche Schicksal. Der neue Herrscher aber hatte auch neue Männer um sich: Als vom Kaiser Verbannter galt Chusa für ihn als enteignet, schließlich mußte Agrippa seine Getreuen nicht nur mit einträglichen Posten, sondern auch mit angemessenen Häusern ausstatten, und da kam der Besitz in Magdala mit seiner ansehnlichen Villa gerade recht. Johanna und ihre Tochter wurden nicht nur von Haus und Hof vertrieben, sondern zugleich aus dem Herrschaftsbereich des Königs ausgewiesen, mittellos verließen sie die Stadt und das Land.
Weder die Freundinnen noch die Gemeinde in Kapernaum konnten deshalb etwas für die beiden tun, allerdings sammelten sie dafür, daß sie unterwegs keine Not leiden sollten. Denn Maria empfahl ihnen dringend, nach Antiochia am Orontes zu gehen, dorthin hätten sich damals die Anhänger des Stephanus geflüchtet, als sie in Jerusalem verfolgt wurden, und seitdem wäre dort eine große Gemeinde entstanden. Der Gemeindeleiter von Kapernaum gab den beiden ein Empfehlungsschreiben an die Brüder in Antiochia mit, sie würden sicherlich für sie sorgen und sie herzlich aufnehmen. So machten sich Johanna und Junia auf den Weg ins Ungewisse. Mit nichts als dem, was sie tragen konnten, wanderten sie von Kapernaum über die galiläischen Berge ins syrophönizische Land, das zur römischen Provinz Syrien gehörte. In Ptolemais gab es eine kleine Gemeinde, die sie für eine Weile beherbergte und ihnen eine Schiffspassage bis Sidon besorgte.
Es war Johannas Ruf als Auferstehungszeugin, die die Christen dort beeindruckte. Gerne hätten sie die beiden Frauen auch auf Dauer in ihrer Mitte gesehen, aber die Nähe zu Galiläa und die Anfeindungen der jüdischen Gemeinde dort ließen es ratsam erscheinen, sie nach Antiochia weiterzuschicken. Junia war nun zwölf Jahre alt und damit im heiratsfähigen Alter, und sicher würde sie unter den zahlreichen Brüdern in der Großstadt Antiochia eher einen Mann finden, der sie trotz ihrer Armut heiraten und damit auch versorgen könnte. Ihre Mutter dagegen wurde nun als Witwe angesehen, wie in allen Gemeinden galt diesen Frauen deren besondere Fürsorge.
Von Sidon aus fanden die beiden ein Schiff, das trotz der drohenden Herbststürme die Fahrt bis Seleucia Pieria noch wagen würde. So trafen sie denn rechtzeitig vor den Wintermonaten in Antiochia ein. Einer der Gemeindelehrer, Lucius von Kyrene, nahm die beiden Frauen bei sich auf. Er war verwitwet und hatte eine zehnjährige Tochter, so hoffte er, Johanna könnte sich um das Mädchen kümmern und Junia würde ihr eine große Schwester sein. Auch hier wurde Johanna gebeten, ihre Erlebnisse vom Ostermorgen zu berichten, und bald war sie in der Hausgemeinde des Lucius auch in der Armenfürsorge tätig. Ihr eigenes Schicksal half ihr, die Not anderer zu verstehen und ihnen nicht nur mit den Liebesgaben der Gemeinde, sondern auch mit tröstenden Worten zur Seite zu stehen.
Junia dagegen nahm alles auf, was die Propheten und Lehrer in dieser großen Gemeinde sagten; und bald begann sie, selbst Fragen zu stellen und auch mitzureden, wenn über den Glauben an den Christus Jesus geredet und manchmal auch gestritten wurde. Es war besonders Barnabas, der vor einiger Zeit aus Jerusalem nach Antiochia gekommen war und als Abgesandter der ersten Gemeinde auch hier großes Ansehen genoß, dessen Ausführungen sie beeindruckten. Trotz ihrer Jugend ging Barnabas gerne auf