Geschichte meines Lebens. George Sand

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Geschichte meines Lebens - George Sand


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der Zuneigung oder des Widerwillens berührt werden, muß sich also seinem Begriffsvermögen eine Vorstellung des Vertrauens oder des Schreckens offenbaren, die ihm nicht beigebracht werden konnte, denn diese Anziehung und dies Abstoßen zeigt sich schon bei einem Kinde, das die Sprache noch nicht versteht. Es liegt also etwas in ihm, das allen Begriffen der Erziehung vorangeht und dies Etwas ist das Geheimniß, das mit dem Urquell des Menschenlebens im Zusammenhange steht.

      Das Kind lebt natürlicherweise in einer, so zu sagen, überirdischen Umgebung; während Alles in ihm selbst wunderbar ist, muß ihm auf den ersten Blick Alles rings umher ebenso wunderbar erscheinen. Man erzeigt ihm keine Wohlthat, indem man sich bemüht, ihm ohne Schonung und Auswahl den Werth aller Dinge zu offenbaren. Es ist besser, wenn es selbst danach sucht, und wenn es sich in dem ersten Abschnitt seines Lebens auf eigene Weise einrichtet; denn anstatt seines unschuldigen Irrthums würden ihm unsere Erklärungen, die es nicht zu fassen vermöchte, nur andere Irrthümer geben, die vielleicht noch größer und für die spätere Klarheit seines Unheils, also für die Sittlichkeit seiner Seele auf immer verderblich wären.

      Man mag daher noch so lange suchen, welchen Begriff der Gottheit man den Kindern geben könnte — es wird sich kein besserer finden lassen, als der jenes guten, alten Gottes, der im Himmel ist, und der Alles sieht, was auf Erden vorgeht. Später wird es Zeit sein, ihm begreiflich zu machen, daß Gott das unendliche Wesen ist, ohne Götzengestalt, und daß der Himmel nicht mehr in der blauen Wölbung, die uns umgiebt, zu suchen ist, als auf der Erde, die wir bewohnen und im Heiligthum unserer Gedanken. Aber warum sollten wir das Kind, für das jedes Symbol eine Wirklichkeit ist, auf das Symbolische hinweisen? Der unendliche Aether, der Abgrund der Schöpfung, der Himmel, in welchem die Welten kreisen, erscheint dem Auge des Kindes viel schöner und größer, als er durch unsre Erklärungen für seine Begriffe werden könnte, und wir würden das Kind mehr verwirren, als aufklären, wenn wir ihm die Maschinerie des Weltalls erklären wollten, so lange ihm das Gefühl von der Schönheit des Weltalls genügt.

      Ist nicht das Leben des Individuums ein Abbild des allgemeinen Lebens? Wer die Entwickelungen des Kindes beobachtet, den Uebergang zur Jugend, zum Mannesalter und alle Umwandlungen bis zu den reifern Jahren, überblickt zugleich eine kurze Geschichte des Menschengeschlechts, das auch seine Kindheit, seine Jugend und sein Mannesalter gehabt hat. Versetzen wir uns in die Urzeiten der Menschheit zurück, so sehen wir alle Völker dem Wunderbaren huldigen; die Geschichte, die entstehenden Wissenschaften. die Philosophie und die Religion werden durch Symbole ausgedrückt, durch Räthsel, welche die moderne Vernunft löst oder erklärt. Die relative Wahrheit und Wirklichkeit der ersten Zeiten liegt in der Poesie, in der Fabel sogar. Es ist also ein ewiges Gesetz, daß der Mensch eine wirkliche Kindheit habe, wie das Menschengeschlecht die ihrige gehabt hat, und wie sie jetzt noch die Völkerschaften besitzen, die nur leicht durch unsere Civilisation berührt sind. Der Wilde lebt im Wunderbaren; er ist weder blödsinnig, noch verrückt, noch thierisch, er ist ein Dichter und ein Kind; er äußert sich nur durch Dichtungen und Gesänge, wie unsere Vorfahren, denen ebenfalls der Vers natürlicher zu sein schien, als die Prosa, der Gesang natürlicher als die Rede. Die Kindheit ist also das Alter der Lieder; man kann ihr deren nicht zu viele geben; so ist auch die Fabel, die nur ein Symbol ist, die beste Form, um im Kinde das Gefühl des Poetischen zu wecken, das wiederum die erste Bethätigung des Wahren und Schönen ist.

      Lafontaines Fabeln sind für die erste Kinderzeit zu großartig und tief. Sie enthalten die herrlichsten Sittenlehren, aber das kleine Kind bedarf derselben noch nicht; es wird durch dieselben in ein Gedankenlabyrinth geführt, worin es sich verirrt, denn jede Moral setzt die Idee der Gesellschaft voraus und das Kind kann sich noch keinen Begriff von der Gesellschaft machen. Darum ziehe ich vor, ihm religiöse Begriffe in poetischer, gefühlvoller Form zu geben. Wenn mir die Mutter sagte, daß ich durch meinen Ungehorsam die heilige Jungfrau und die Engel im Himmel zum Weinen brächte, wurde meine Einbildungskraft lebhaft erregt. Diese wunderbaren Wesen und alle diese Thränen riefen eine unendliche Zärtlichkeit und Furcht in mir hervor. Wenn mich der Gedanke an ihr Dasein erschreckte, erfüllte mich die Vorstellung ihres Schmerzes mit Bedauern und Zuneigung.

      Ich will also mit einem Worte, daß man dem Kinde das Wunderbare giebt, so lange es dasselbe liebt und sucht; und daß man es endlich von selbst aufhören läßt und nicht des Kindes Irrthum systematisch verlängert, sobald es sich vom Wunderbaren abwendet, das aufhört, seine natürliche Kost zu sein, und sobald es uns durch seine Fragen und Zweifel anzeigt, daß es in die wirkliche Welt einzutreten verlangt.

      Weder Clotilde noch ich haben eine Erinnerung an die größere oder geringere Anstrengung, die uns das Lesenlernen verursacht haben könnte. Unsere Mütter haben uns seitdem gesagt, daß ihnen der Unterricht nur wenig Mühe gemacht hat, aber sie erwähnten eines kindischen Eigensinnes von mir. Als ich eines Tages nicht Lust hatte, mein ABC durchzunehmen, sagte ich zu meiner Mutter: „A will ich gleich sagen, aber B kann ich nicht sagen.“ Es scheint, daß mein Widerstand ziemlich lange dauerte, ich nannte alle Buchstaben des Alphabets, ausgenommen den zweiten, und wenn ich gefragt wurde, warum ich diesen überginge, antwortete ich regelmäßig: „Weil ich das B nicht kenne.“

      Die zweite Erinnerung, die ich mir ohne Hülfe bewahrt habe, ist die an das weiße Kleid und den Schleier, den die Tochter des Glasers am Tage ihrer ersten Abendmahlsfeier trug. Ich war damals etwa drei und ein halbes Jahr alt; wir wohnten in der rue Grange-Batelière in der dritten Etage und der Glaser, dessen Laden im Parterre war, hatte mehrere Töchter, die mit mir und meiner Schwester spielten. Ihre Namen weiß ich nicht mehr und kann mich nur der ältesten deutlich erinnern, deren weißes Kleid mir als das schönste in der Welt erschien; ich wurde gar nicht müde, sie zu bewundern. Es that mir sehr weh, als meine Mutter plötzlich sagte: das Weiß wäre ganz gelb und das Mädchen wäre überhaupt schlecht angezogen. Mir war, als hätte mich ein großer Kummer getroffen, indem man mir den Gegenstand meiner Bewunderung zuwider machte.

      Ich erinnere mich, daß einmal, als wir eine Ronde tanzten, dieselbe Kleine zu singen begann:

      „Wir gehen nicht mehr in das Holz,

       Die Lorbeerbäume sind gefällt.“

      Ich war, so viel ich weiß, noch nie im Holze gewesen und hatte vielleicht noch niemals Lorbeerbäume gesehen, aber ich mußte wohl wissen, was damit gemeint war, denn diese zwei kleinen Verse versenkten mich in tiefe Träumerei. Ich verließ den Tanz, um darüber nachzudenken und wurde sehr wehmüthig. Auch mochte ich Niemand vertrauen, was mir im Sinne lag, aber ich hätte weinen mögen, so traurig war ich über den Verlust dieses lieblichen Lorbeergehölzes, in das ich nur im Traume eingetreten war, um sogleich wieder daraus vertrieben zu werden. Wer kann die Sonderbarkeiten des Kindesalters erklären? auf mich hatte dies Lied solchen Eindruck gemacht, daß sich der geheimnißvolle Einfluß desselben nie wieder verwischt hat. So oft dies Tanzlied gesungen wurde, fühlte ich mich von derselben Traurigkeit erfüllt und ich kann es auch jetzt nicht von Kindern singen hören, ohne dieselbe Wehmuth, dasselbe Bedauern zu empfinden. Ich sehe das Holz noch immer, wie es war, ehe es durch die Axt zerstört wurde und in der Wirklichkeit habe ich nie ein schöneres gesehen. Dann erblicke ich wieder die Erde mit den frisch gefällten Lorbeerbäumen bedeckt und es scheint mir, daß ich den Vandalen noch immer zürne, die mich auf ewig daraus vertrieben haben. Welche Absicht hatte wohl der kindliche Dichter, als er das kindlichste Tanzlied also begann?

      Ich erinnere mich auch an das hübsche Liedchen von Giroflé, girofla, das alle Kinder kennen, und in welchem abermals von einem geheimnißvollen Holze die Rede ist, in welches man einsam eindringt, und wo man dem König oder der Königin, dem Teufel und der Liebe begegnet, lauter phantastische Wesen für den kindlichen Sinn. Ich wüßte nicht, daß ich mich vor dem Teufel gefürchtet hätte; wahrscheinlich glaubte ich nicht an ihn und man verhinderte mich, an ihn zu glauben, weil ich eine sehr rege Einbildungskraft hatte und leicht in Schrecken gerieth. Man schenkte mir einmal einen prachtvollen Polichinell, der von Gold und Scharlach glänzte. Ich fürchtete mich zuerst, besonders wegen meiner Puppe, die ich zärtlich liebte und die mir neben diesem kleinen Ungeheuer von großer Gefahr bedroht schien. Nachdem ich sie sorgfältig im Schranke verschlossen hatte, verstand ich mich endlich dazu, mit dem Polichinell zu spielen, der mir wegen seiner Porzellanaugen, die sich mittels einer Feder in ihren Höhlen bewegten, ein Mittelding zwischen Puppe und lebendem Wesen zu sein schien. Als ich zu Bett ging, wollte


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