Die Wahlverwandtschaften. Johann Wolfgang von Goethe
Читать онлайн книгу.weil ich mich in jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte.
Man hörte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Prüfende zwar freundlich, aber lakonisch: ›Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.
Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewußte der Kinder selbst.
Dies ist auch der Gegenstand der Prüfung, wobei zugleich Lehrer und Schüler beurteilt werden.
Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswürdig, indem Sie auf die Fähigkeiten der Schülerinnen genau achtgeben.
Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer begünstigten Schülerin nicht an Beifall mangeln.‹
In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch Übleres nicht befürchtet, das sich bald darauf zutrug.
Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt sehen möchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: ›aber sagen Sie mir, um 's Himmels willen!
Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?‹
Ottilie versetzte ganz gelassen: ›verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark‹.
– ›Das kann niemand wissen!‹ versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich verdrießlich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daß sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt hätte.
Das war noch nicht alles.
Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst lebhaft und freimütig, war im Gefühl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und übermütig.
Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
»Du bist heute schlecht gefahren!« rief sie aus.
Ganz gelassen antwortete Ottilie: »es ist noch nicht der letzte Prüfungstag«.
–»Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!« rief das Fräulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts.
Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird.
Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht zurückhalten.
Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr über die Sache.
Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.
Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluß und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.
Die Gründe werden Sie sich selbst am besten entfalten.
Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des guten Kindes.
Verläßt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurückkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte.
Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert.
Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt hat, unwiderstehlich ist.
Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte.
Sehen Sie jemals diese Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien«.
Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lächeln und Kopfschütteln.
Auch konnte es an Bemerkungen über die Personen und über die Lage der Sache nicht fehlen.
»Genug!« rief Eduard endlich aus; »es ist entschieden, sie kommt!
Für dich wäre gesorgt, meine Liebe, und wir dürfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorrücken.
Es wird höchst nötig, daß ich zu dem Hauptmann auf den rechten Flügel hinüberziehe.
Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten.
Du erhältst dagegen für dich und Ottilien auf deiner Seite den schönsten Raum«.
Charlotte ließ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre künftige Lebensart.
Unter andern rief er aus: »es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten.
Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gestützt und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben«.
Der Hauptmann wollte das gefährlich finden.
Eduard hingegen rief aus: »nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht!
Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen würde?«
»Nun, ich dächte doch«, versetzte Charlotte, »das verstünde sich von selbst«.
»Freilich«, rief Eduard; »es kehrte zu seinem A zurück, zu seinem A und O!« rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust drückte.
Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren.
Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfaßte ihre Kniee.
»Wozu die Demütigung!« sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufheben wollte.
»Es ist so demütig nicht gemeint«, versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb.
»Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war«.
Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.
Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt.
Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.
Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte.
Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: »es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen«.
»Unterhaltend?« versetzte Charlotte mit Lächeln;» sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan«.
»So?« erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, »das wäre doch wunderbar!« Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke, wie es mit dem Hausgeschäfte zu halten sei.
Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden.
Was sie für alle, für einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht.
Alles geschah pünktlich.
Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien,