Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann

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Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens - Jakob Wassermann


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als Daumer sich nach der Mittagsrast zum Aufbruch anschickte, entriß sich Caspar seinem Schweigen und sagte in mattem und verändertem Ton: »Der Herr Rittmeister hat also nicht die Wahrheit gesagt?«

      »Nein, er hat gelogen,« versetzte Daumer kurz.

      »Das ist schlecht von ihm, sehr schlecht,« sagte Caspar.

      Erstaunlich schien ihm zunächst die Tatsache des Lügens, erstaunlicher noch, daß sich ein so großer Herr ihm gegenüber der Lüge schuldig gemacht. Warum hat er das mit dem Brief gesagt, grübelte er, und stundenlang war er damit beschäftigt, sich des Rittmeisters Worte immer wieder von neuem vorzusagen und sich das Gesicht zurückzurufen, in welchem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte.

      Es war da etwas nicht in Ordnung. Er sann und sann und kam zu keinem Ende. Um sich auf andre Gedanken zu bringen, schlug er die Rechenfibel auf und ging an sein Tagespensum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glasharmonika, die ihm eine Dame aus Bamberg geschenkt, und übte sich eine halbe Stunde lang in den simpeln Melodien, die er darauf zu spielen erlernt hatte.

      Plötzlich erhob er sich und trat vor den Spiegel. Starr blickte er sein eignes Gesicht an: er wollte sehen, ob Lüge darin sei. Trotz der Beklommenheit, die er dabei empfand, reizte es ihn, einmal selber zu lügen, nur um zu prüfen, wie nachher sein Gesicht aussehen würde. Ängstlich schaute er sich um, blickte dann wieder in den Spiegel und sagte leis: »Es schneit.«

      Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne schien.

      Nichts hatte sich in seinem Gesicht verändert: man konnte also lügen, ohne daß es jemand bemerkte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde sich verfinstern oder verstecken, aber sie schien ruhig weiter.

      Am Abend kam Daumer mit einem neuen Ärger nach Hause. Von der Mutter gefragt, was es denn schon wieder gebe, zog er ein kleines Zeitungsblättchen aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Es war der »Katholische Wochenschatz«; auf der ersten Seite stand eine Epistel über Caspar Hauser, die mit den fettgedruckten Lettern begann: Warum läßt man den Nürnberger Findling nicht der Segnungen der Religion teilhaftig werden?

      »Ja, warum läßt man denn nicht?« spottete Anna.

      »Und das wagt man in einer protestantischen Stadt,« sagte Daumer mit finsterem Gesicht. »Wenn diese Herren nur wüßten, was für eine unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geistlichen hat. Während er noch auf dem Turm war, sind eines Tages vier zu gleicher Zeit bei ihm erschienen. Glaubt ihr vielleicht, sie hätten zu seinem Herzen geredet oder seine Andacht zu wecken gesucht? Weit gefehlt. Sie schwatzten vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der Sünden, und als er immer furchtsamer dreinsah, fingen sie an zu wettern und zu drohen, als ob der arme Mensch am nächsten Tag zum Galgen geführt werden sollte. Zufällig kam ich dazu und forderte sie höflich auf, ihre Bemühungen einzustellen.«

      Da Caspar ins Zimmer trat, wurde das Gespräch abgebrochen.

      Aber der Appell des »Katholischen Wochenschatzes« verhallte nicht ungehört. »Mit der Religion ist nicht zu spaßen,« sagten die Herren auf dem Magistrat, und einer drückte sogar den Zweifel aus, ob der Jüngling überhaupt getauft sei. Darüber ward eine Weile hin und her debattiert, doch ließ man die Frage schließlich fallen und die Taufe ward als selbstverständlich angenommen, da man ja unter Christen in einem christlichen Lande lebe und der Jüngling auf keinen Fall aus der Tatarei kommen könne.

      Nicht so leicht war die Entscheidung über die katholische oder evangelische Konfession. Obgleich die Pfaffen in der Stadt wenig Macht besaßen, mußte man doch die obdachlose Seele dem hungrigen Rachen Roms entreißen, anderseits war man zu zaghaft für ein rauhes Zugreifen, weil es möglich war, daß eine einflußreiche Person über kurz oder lang ein Anrecht andrer Art geltend machen konnte.

      Der Bürgermeister wandte sich an Daumer und verlangte, Caspar solle einen Religionslehrer erhalten, man überlasse es Daumer, einen vertrauenswürdigen Mann zu bestimmen. »Wie wäre es mit dem Kandidaten Regulein?« meinte Binder.

      »Ich habe nichts dagegen,« erwiderte Daumer gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerschen Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines soliden und fleißigen Mannes.

      »Wenn ich selbst auch nicht kirchlich-fromm gesinnt bin,« sagte der Bürgermeister, »so ist mir doch die modische Freigeisterei von Herzen zuwider, und ich wünschte nicht, daß unser Caspar in ein ehrfurchtsloses Weltwesen gerät. Auch in Ihrer Absicht kann das nicht liegen.«

      Aha, ein Stich, dachte Daumer stillergrimmt, man beleidigt, verdächtigt mich schon wieder, ich bin niemand bequem, sehr ehrenwert, ihr Herren, sehr ehrenwert. Laut antwortete er: »Gewiß nicht. Ich habe es auch nicht fehlen lassen, in meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art mag sein, wie sie will, sie ist nicht schlechter als jede andre. Leider haben mir allerhand Unberufene beständig hineingepfuscht. So war es mir in der ersten Zeit mit großer Mühe gelungen, den starren Eigensinn seines Schauens zu brechen und ihm einen Begriff von dem allmächtigen Trieb des Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da ein Frauenzimmer an, während Caspar vor einem Blumentopf sitzt und mit seinem unschuldigen Staunen die über Nacht aufgesproßten Schößlinge betrachtet. Nun, Caspar, fragt sie einfältig, wer hat denn das wachsen lassen? Es ist von selbst gewachsen, erwidert er stolz. Aber, Caspar, ruft jene, es muß doch jemand sein, der es hat wachsen lassen? Er würdigte sie keiner Antwort mehr, aber die wohlwollende Dame ging hin und erzählte überall, Caspar werde zum Atheisten gemacht. Da hat man eben einen schweren Stand.«

      »Es handelt sich doch am Ende nur darum, ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung einzuimpfen,« sagte Binder.

      »Die hat er, die hat er, aber sein Verstand anerkennt eben in seinen Forderungen keine Grenzen und will durchaus befriedigt sein,« fuhr Daumer leidenschaftlich fort. »Gestern abend besuchten ihn zwei protestantische Geistliche, der eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie kleine Paulusse. Sie machten mir erst allerlei Elogen, ich lasse sie zu Caspar hinein, und ehe man drei zählen kann, fangen sie eine Disputation mit ihm an. Ach, es war komisch, es war höchst komisch. Es kam die Rede auf die Erschaffung der Welt, und der Dicke aus Fürth sagte, Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen. Und als nun Caspar wissen wollte, wie das zugegangen, stibitzten sie ihm die Erklärung vor der Nase weg, indem sie alle zwei händefuchtelnd auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei seinem Götzen schwört. Endlich beruhigten sie sich, und da sagte mein guter Caspar zutulich, wenn er etwas machen wolle, müsse er doch etwas haben, woraus er es mache, sie möchten ihm doch sagen, wie das bei Gott möglich sei. Da schwiegen sie eine Weile, flüsterten untereinander, und endlich antwortete der Magere, bei Gott sei alles möglich, weil er nicht ein Mensch sei, sondern ein Geist. Da lächelte mich Caspar an, denn er dachte, sie wollten sich über ihn lustig machen, und er stellte sich, als glaube er ihnen, was die beste Manier war, um sie loszuwerden.«

      Der Bürgermeister schüttelte mißbilligend den Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und gar nicht. »Es gibt auch eine gedachtere Ansicht von Gott als die, die sich so mühelos verspotten läßt,« wandte er ruhig ein.

      »Eine gedachtere Ansicht? Ohne Zweifel. Vergessen Sie nur nicht, daß die der gemeinen durch und durch widerspricht. Und wenn ich sie ihm beizubringen suche, setze ich mich Vorwürfen und Mißkennungen aus. Nächstes Jahr soll er in die öffentliche Schule gehen, für einen Menschen von wenigstens achtzehn Jahren ohnedies eine Schwierigkeit, da würden nun meine Lehren wieder zunichte gemacht und die Folge ist Konfusion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden und speise ihn mit bequemen Antworten ab. Neulich konnte er eingetretener Augenschwäche halber nicht arbeiten, und er fragte mich, ob er von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es dann erhalten werde. Ich sagte, zu bitten sei ihm gestattet, doch müsse er es der Weisheit Gottes anheimstellen, ob er die Bitte gewähren wolle oder nicht. Er entgegnete, er wolle die Genesung seiner Augen erbitten und dawider könne ja Gott nichts einzuwenden haben, denn er gebrauche die Augen, um seine Zeit nicht in unnützen Gesprächen und Spielereien vergeuden zu müssen. Ich sagte darauf, Gott habe bisweilen unerforschliche Gründe, etwas zu versagen, wovon wir glaubten, daß es heilsam wäre, er wolle uns oft durch Leiden prüfen, in Geduld und Ergebung üben. Da ließ er traurig den Kopf hängen. Gewiß dachte


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