Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann

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Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens - Jakob Wassermann


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eines Vogels, kein Geschrei eines Tieres, nicht den Strahl der Sonne erblickt, nicht den Schimmer des Mondes. Nichts vernommen als sich selbst, und doch nichts von sich selber wissend, der Einsamkeit nicht inne werdend.

      Das Gemach muß von geringer Breite gewesen sein, denn er glaubte, einmal mit ausgestreckten Armen zwei gegenüber liegende Wände berührt zu haben. Vordem aber schien es unermeßlich groß; angekettet an ein Strohlager, ohne die Fessel zu sehen, hatte Caspar niemals den Fleck Erde verlassen, auf dem er traumlos schlief, traumlos wachte. Dämmerung und Finsternis waren unterschieden, so wußte er also um Tag und Nacht; er kannte ihre Namen nicht, allein er sah die Schwärze, wenn er einmal in der Nacht erwachte und die Mauern entschwunden waren.

      Er hatte kein Maß für die Zeit. Er konnte nicht sagen, wann die unergründliche Einsamkeit begonnen hatte, er dachte zu keiner Stunde daran, daß sie einmal enden könne. Er spürte keinerlei Verwandlung an seinem Leibe, er wünschte nicht, daß etwas anders sein solle, als es war, es schreckte ihn kein Ungefähr, nichts Künftiges lockte ihn, nichts Vergangenes hatte Worte, stumm lief die regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens, stumm war sein Inneres wie die Luft, die ihn umgab.

      Wenn er am Morgen erwachte, fand er frisches Brot neben dem Lager und den Wasserkrug gefüllt. Bisweilen schmeckte das Wasser anders als sonst; wenn er getrunken hatte, verlor er seine Munterkeit und schlief ein. Nach dem Aufwachen mußte er dann das Krüglein sehr oft in die Hand nehmen, er hielt es lange an den Mund, doch floß kein Wasser mehr heraus; er stellte es immer wieder hin und wartete, ob nicht bald Wasser komme, weil er nicht wußte, daß es gebracht wurde; hatte er doch keinen Begriff, daß außer ihm noch jemand sein könne. An solchen Tagen fand er reines Stroh auf seinem Bette, ein frisches Hemd am Körper, die Nägel beschnitten, die Haare kürzer, die Haut gereinigt. All das war im Schlaf geschehen, ohne daß er es gemerkt, und kein Nachdenken darüber umflorte seinen Geist.

      Ganz allein war Caspar Hauser nicht; er besaß einen Kameraden. Er hatte ein weißes Pferdchen aus Holz, ein namenloses, regungsloses Ding und gleichwohl etwas, in dem sein eignes Dasein sich dunkel spiegelte. Da er die lebendige Gestalt in ihm ahnte, hielt er es für seinesgleichen, und in den matten Glanz seiner künstlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren Welt gebannt. Er spielte nicht mit ihm, nicht einmal lautlose Zwiesprach hielt er mit ihm, und obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern stand, dachte er nie daran, es hin und her zu schieben. Aber wenn er sein Brot aß, reichte er ihm jeden Bissen hin, bevor er ihn selbst zum Mund führte, und bevor er einschlief, streichelte er es mit liebkosender Hand.

      Das war sein einziges Tun in vielen Tagen, langen Jahren.

      Da geschah es einst während der Zeit des Wachens, daß sich die Mauer auftat, und von draußen her, aus dem Niegesehenen, erschien eine ungeheure Gestalt, ein Niegesehener, der erste Andre, der das Wörtchen Du sprach und den Caspar deshalb den Du nannte. Die Decke des Raumes ruhte auf seinen Schultern, etwas unverständlich Leichtes und Veränderliches war in der Bewegung seiner Glieder, ein Lärm war um ihn, der das Ohr füllte, Laut um Laut floß rasch von seinen Lippen, zu atemlosem Hören zwang das Leuchten seiner Augen, und an seinen Kleidern hing das Draußen als ein betäubender Geruch.

      Von den vielen Worten, die aus dem Munde des Du kamen, verstand Caspar zunächst keines, aber durch tieferregtes Aufmerken begriff er allmählich, daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle, daß das Ding, das seine Einsamkeit geteilt, den Namen Roß trug, daß er andre Rosse erhalten werde und daß er lernen solle.

      »Lernen,« sagte der Du immer wieder, »lernen, lernen.« Und wie um klarzumachen, was das heiße, stellte er einen Schemel mit vier runden Füßen vor ihn hin, legte ein Blatt Papier darauf, schrieb zweimal den Namen Caspar Hauser und führte beim Nachschreiben Caspars Hand. Dies gefiel Caspar, weil es schwarz und weiß aussah.

      Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel und sprach, auf die winzigen Zeichen deutend, die Worte vor. Caspar konnte sie alle wiederholen, ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben. Auch andre Worte und gewisse Redensarten plapperte er nach, die ihm der Mann vorsagte, zum Beispiel: »Ich möcht’ ein solcher Reiter werden wie mein Vater.«

      Der Du schien zufrieden; jedenfalls um ihn zu belohnen, zeigte er ihm, daß man das Holzpferd auf dem Boden hin und her rollen könne, und damit vergnügte sich Caspar, als er am andern Morgen erwachte. Er schob das Rößlein vor seinem Lager auf und ab, wobei ein Geräusch entstand, das den Ohren wehe tat; deshalb ließ er es wieder und begann dafür mit dem Pferd zu reden, indem er die unverständlichen Laute aus dem Munde des Du nachahmte. Es war eine wunderliche Lust für ihn, sich selbst zu hören, er hob die Arme und füllte den Raum mit seinem freudigen Gelall.

      Seinen Kerkermeister mochte dies verdrießen und beunruhigen, er wollte ihn zum Schweigen bringen: auf einmal sah Caspar einen Stab über seine Schulter sausen und spürte zugleich einen so heftigen Schmerz auf dem Arm, daß er vor Schrecken nach vorne fiel. Mitten in der Angst machte er die erstaunliche Wahrnehmung, daß er nicht mehr ans Lager angebunden war. Eine Zeitlang verhielt er sich ganz stille, dann versuchte er, vorwärts zu rutschen, aber ihm graute, als er mit seinen bloßen Füßen die kalte Erde berührte. Mit Mühe erreichte er sein Lager und versank sofort in Schlaf.

      Es wurde dreimal Nacht und Tag, ehe der Du wiederkam und versuchte, ob Caspar noch seinen Namen schreiben und die Worte aus dem Buch lesen konnte. Er verbarg nicht seine Verwunderung, als der Knabe dies mühelos vermochte. Er wies auf Dinge rings im Raum und nannte ihre Namen; er redete langsam, Aug’ in Aug’ mit Caspar, und hielt ihn dabei an der Schulter fest; durch seine Blicke, seine Gebärden, das Verzerren seiner Züge hindurch ahnte Caspar, was er sagte, und ihm schauderte, während seine stotternde Zunge dem Mann gehorsam war.

      In der folgenden Nacht wurde er aus dem Schlaf gerüttelt. Lange und mit Qual spürte er es und konnte doch nicht ganz erwachen. Als er endlich die Augen aufschlug, war die Mauer geöffnet, und ein purpurroter Schein floß in den Raum. Der Du war über ihn gebeugt und sprach leise, vielleicht um Caspars Furcht zu stillen. Er richtete ihn empor und bekleidete ihn mit Hosen, mit einem Kittel und mit Stiefeln, dann stellte er ihn auf die Füße, lehnte ihn gegen die Wand und kehrte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er umfaßte seine Beine, hob ihn auf, Caspar umschlang mit den Armen seinen Hals, und nun ging es hinauf, einen hohen Berg hinauf, so schien es Caspar; in Wirklichkeit war es wahrscheinlich die Treppe des unterirdischen Verlieses. Furchtbar dröhnte der Atem des Mannes, etwas Kühles und Feuchtes schlug Caspar ins Gesicht, setzte sich in seinen Haaren fest, die sich von selbst zu bewegen anfingen, und klammerte sich an seine Haut.

      Plötzlich wich die Schwärze, sie rauschte auf den Boden nieder; alles wurde weit, weich und blieb doch dunkel; in der Tiefe, in der Ferne wuchteten fremde große Dinge; von oben brach ein blauer Strahl und verlor sich wieder, das Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der Kleider, durchdringende Gerüche wogten umher, Caspar begann zu weinen und schlief auf dem Rücken des Mannes ein.

      Beim Erwachen lag er auf dem Boden, das Gesicht zur Erde gekehrt, und von unten strömte Kälte in den Leib. Der Du richtete ihn auf. Die Luft brannte sonderbar, und ein unerträglich heller Schein flirrte vor den Augen. Der Du machte ihm begreiflich, daß er gehen lernen müsse; er zeigte ihm, wie er gehen solle, er hielt ihn von hinten unter den Armen und stieß seinen Kopf gegen die Brust, ihm so befehlend, daß er auf den Boden sehen solle. Caspar gehorchte wankend und zitternd, die Luft und der Schein brannten ihm die Augenlider, die Gerüche machten ihn schwindeln, die Sinne vergingen.

      Er schlief wieder; wie lange, das wußte er nicht. Auch wußte er nicht, wie oft er zu gehen probiert hatte, als es wieder dunkel wurde. Vielleicht glaubte er, es sei Nacht geworden, während sie sich nur in einem Wald befanden. Den Weg gewahrte er nicht, er konnte nicht sagen, ob es aufwärts oder abwärts ging. Ob Bäume oder Wiesen oder Häuser da waren, wußte er nicht. Bisweilen schien ihm alles ringsum in rote Glut getaucht, aber wenn das Weiche, Dunkle kam, dehnten sich Luft und Erde bläulich und grün. Ob Menschen vorübergingen, konnte er nicht sagen, er gewahrte nicht den Himmel, er sah nicht einmal das Gesicht des Mannes. Einmal fiel Wasser von der Höhe; er dachte, der Du schütte ihn mit Wasser an, und beklagte sich, doch jener entgegnete, er schütte ihn nicht an, er deutete in die Luft und rief: »Regen! Regen!«

      Wie lange er so unterwegs gewesen, wußte er nicht. Ihm dünkte, jedesmal


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