Von alten und neuen Bürowelten. Maik Marten
Читать онлайн книгу.Fassadenraster schauten. Jedes Fenster glich dem anderen; jede weitere Etage, eine identische Kopie der vorherigen. Monströs, klobig und stumpf wirkten die neuen Nachbarn neben der bunten Vielfalt an Stadthäusern, Villen, Kirchen, Theatern, Museen und Warenhäusern. Unverständnis und Kritik an den neuen Formen machte sich breit. Architekten, Bauherren und Stadtväter gerieten in Erklärungsnot. Die neuartige Skelettbauweise machte es damals möglich, immer höher hinaus zu bauen. Typisch war eine Dreiteilung des Baukörpers: Das Erdgeschoss und die über breite Treppen erreichbare zweite Etage wurden für Geschäfte, Restaurants und Dienstleistungen geöffnet. Breite Fensterläden ließen viel Licht in das großzügig geschnittene und mit hochwertigen Materialien versehene Innere. Ganz oben, an der Spitze, befand sich die Attika, bei der die Architekten, wie schon in den beiden unteren Etagen, nochmals ihren Gestaltungswillen demonstrieren konnten. Dazwischen aber, vom dritten Geschoss bis fast unter das Dach, herrschte Monotonie. Nur wenig Abwechslung boten einige industriell vorgefertigte Ornamente auf den steinernen Fassaden. Hinter dem strengen Raster an Fenstern verbarg sich eine scheinbar unendliche Anzahl von Büroräumen. Je mehr Etagen die neue Bautechnik zuließ, umso trister und eintöniger wuchsen die neuartigen Riesen in den Himmel.
Theorien für die eigentümliche, dreiteilige Bauform wurden gesponnen; Vergleiche gezogen zu den klassizistischen Säulen mit ihrer Basis, ihrem Schaft und ihrem Kapitell; manch ein Theoretiker meinte, in ihnen die mystische Symbolkraft der Zahl Drei wiederzuerkennen; so wie sich zwangsläufig der Tag in Morgen, Mittag und Abend oder der Körper in Rumpf, Kopf und Extremitäten gliedere. Bestimmt, so meinte man, stecke die Trinität des Heiligen Geistes dahinter. Andere verglichen die in den Himmel wachsenden Gebilde mit der organischen Substanz von Blumen und Bäumen, mit ihren Wurzeln, Stängeln und Blüten.2 Viel zu weit hergeholt meinte Sullivan. Er suchte stattdessen nach einer universelleren Herleitung, nach etwas, dass man als eine Gesetzmäßigkeit betrachten konnte:
All things in nature have a shape, that is to say, a form, an outward semblance, that tells us what they are, that distinguishes them from ourselves and from each other. Unfailingly in nature these shapes express the inner life, the native quality, of the animal, tree, bird, fish, that they present to us; they are so characteristic, so recognizable, that we say, simply, it is „natural“ it should be so.3
Die Natur bildete die Vorlage. Ihre Mannigfaltigkeit, die millionenfachen Formen von Flora und Fauna waren allesamt Ausdruck ihrer spezifischen Funktionen. Und so ließ sich Sullivan auch von der Natur inspirieren und schaute auf das Innere der Gebäude, um von dort aus auf das Äußere zu schließen. Von den vielen einzelnen Büros, die sich hinter der Fassade befanden, nahm er an, dass sie alle die gleiche Funktion und mehr oder weniger der gleichen Größe, Höhe und natürlichen Belichtung bedurften. Neben- und übereinandergeschichtet wie einzelne, identische Waben in einem Bienenstock, wuchs so auf natürliche Weise das moderne Bürogebäude in die Höhe.4 Unerwähnt blieb der Einfluss moderner, industrieller Fertigungstechniken auf den Hochhausbau, unerwähnt blieb die stark angestiegene Nachfrage nach Büroflächen durch die rasant wachsende Industrie mit ihren administrativen Anforderungen und unerwähnt blieb auch, dass Bauherren und Vermieter ein großes Interesse hatten, die Büros einheitlich und flexibel zu bauen, um eine möglichst gute Vermietbarkeit der Flächen zu gewährleisten. Was später auch Carol Willis, die Gründerin und Kuratorin des Skyscraper Museum, dazu verleitete, aus Sullivans form follows function ein form follows finance zu machen.
Abb. 1: Wainwright Building in St. Louis, gebaut: 1891, Architekten: Adler & Sullivan; Quelle: Historic American Buildings Survey/Wikipedia
Sullivan hingegen konzentrierte sich in seinem Essay zunächst nur auf die Natur. Sie war Gesetz, nur ihr hatten alle Architekten streng zu folgen. Und aus ihr leitete er auch sein berühmt gewordenes Designparadigma ab:
Whether it be the sweeping eagle in his flight, or the open apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the branching oak, the winding stream at its base, the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is the law. Where function does not change, form does not change.5
Sullivan war durch und durch Hochbauarchitekt. Wie viele seiner Kollegen, die später in seine Fußstapfen treten sollten, interessierte er sich in erster Linie für das Gebäude in seiner Gesamtheit: Technik, Statik und die Wirkung auf die Umgebung, standen klar im Vordergrund. Was im Inneren vorging, auf den vielen Büroetagen, war nur von zweitrangiger Bedeutung. Vielleicht machte er es sich auch deshalb etwas zu leicht, anzunehmen, die Funktionen der Büros wären überall gleich und würden sich auch nicht ändern. Andererseits lag er damit auch nicht gänzlich falsch. Von dem Zeitpunkt an, da Büroarbeit zu einem globalen Phänomen wurde, also ungefähr ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, bis weit in die 1960er Jahre hinein, glich sich die Büroarbeit auf ziemlich bemerkenswerte Art und Weise. Die Industrielle Revolution brachte die Massenfertigung mit sich, ließ die Verwaltungen in Betrieben und Behörden wachsen, sorgte für unermüdliche Effizienz- und Rationalisierungsmaßnahmen und auch für eine neue, einheitliche Form von Arbeitsabläufen. Unternehmer und Betriebswirte konnten sich überall auf der Welt auf ein allgemein gültiges Managementparadigma stützen, welches dafür sorgte, dass Funktion und Form der Büros über die Jahrzehnte hinweg mehr und mehr angeglichen wurden.
Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtige Schlüsseltechnologien und Verfahrenstechniken wie Dampfkraft, Eisenbahn und Elektrizität entwickelt wurden, stand die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zeichen eines bisher ungekannten Wirtschaftswachstums, des big business. Unternehmen, die den harten Unternehmenskampf der ersten Gründungsjahre überstanden hatten, wuchsen und eroberten einen Markt nach dem anderen; erst in der heimischen Wirtschaftsordnung, danach im Zuge der Expansion ins Ausland. Mit ihrem Wachstum skalierten die Unternehmen ihre Produktion und ihre Verwaltung. Heere von Angestellten wurden beschäftigt und damit betraut, die Prozesse ihrer Firmen zu organisieren, zu verbessern und auszudehnen. Sorgte die Industrielle Revolution für ein starkes Wachstum der Städte und das Entstehen der neuen Klasse der Fabrikarbeiter, ließ sich ab dem 20. Jahrhundert zunehmend der in Anzug, Hemd und Krawatte gekleidete Angestellte bzw. die in Rock und Bluse gekleidete Angestellte auf den Straßen der Städte beobachten. Es begann die Zeit des kleinen Mannes, der Kontoristen, Kommis, einfachen Buchhalter und Schreibkräfte. Höher gestellte Arbeitskräfte, die man mangels eines passenderen Begriffs zunächst oft noch Beamte nannte, stiegen auf und wurden alsbald zu Kontrolleuren, Vorstehern und Managern.
Die 1950er und 1960er standen im Zeichen des Konformismus. Nach den Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges suchten die organization men die Sicherheit und Stabilität lebenslanger Beschäftigungsverhältnisse in großen Konzernen. Karrieren wurden geplant und kompromisslos verfolgt. Ende der 1960er Jahre prägte der renommierte Unternehmensberater Peter Drucker den Begriff des Wissensarbeiters. Nicht Rohstoffe und Waren, sondern Wissen sei der zukünftige Wettbewerbsvorteil. Das Ringen um Fachkräfte begann. Mit ihnen vollzog sich zunächst zögerlich, ab den 1980er Jahren zunehmend beschleunigt, ein Wandel der Büroarbeit. Jetzt sprach man vermehrt von Informationsgesellschaft, Kreativität und Innovationsfähigkeit. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt fand der große Transformationsprozess in der Büroarbeit statt. Kreative, schöpferische Tätigkeiten verdrängten nach und nach repetitive Aufgaben. Die Anforderungen an den Arbeitsplatz begannen sich zu wandeln. Ein Prozess, der in den letzten zwanzig Jahren nochmal deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Mittlerweile sprechen viele Firmen nicht mehr von Wissensarbeitern, sondern von ihren smarten Kreativen oder gar digitalen Bohemien.
Arbeiteten 1970 noch rund ein Viertel aller Erwerbstätigen in Deutschland in der Land- und Forstwirtschaft, sind es heute gerade einmal zwei Prozent. Dagegen sind mittlerweile zwei Drittel aller Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor beschäftigt.6 Seit 2011 wurden allein in Deutschland über 40 Millionen neue Jobs vorrangig in der Wissensarbeit geschaffen. Ein Trend, der weiter anhalten wird. Für 2020 halten einige sogar einen Anteil von 85 Prozent aller Erwerbstätigen für möglich.7
Die derzeitigen Fortschritte in der Automatisierung,