An diesem Dienstag. Wolfgang Borchert

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An diesem Dienstag - Wolfgang Borchert


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Unteroffiziers weg auf Jesus zu. Nein, sagte der und stieß zwei feine Nebelstriche aus der Nase, nein. Er sprach sehr leise und hatte die Augen zu: Die Gräber sind doch auch viel zu flach. Im Frühling kommen nachher überall die Knochen aus der Erde. Wenn es taut. Überall die Knochen. Nein, ich will das nicht mehr. Nein, nein. Und immer ich. Immer soll ich mich in das Grab legen, ob es paßt. Immer ich. Allmählich träume ich davon. Das ist mir gräßlich; wißt ihr, daß ich das immer bin, der die Gräber ausprobieren soll. Immer ich. Immer ich. Nachher träumt man noch davon. Mir ist das gräßlich, daß ich immer in die Gräber steigen soll. Immer ich.

      Jesus sah noch einmal auf seinen zerrissenen Handschuh. Er kletterte aus dem flachen Grab heraus und ging vier Schritte auf einen dunklen Haufen los. Der Haufen bestand aus toten Menschen. Die waren so verrenkt, als wären sie in einem wüsten Tanz überrascht worden. Jesus legte seine Spitzhacke leise und vorsichtig neben den Haufen von toten Menschen. Er hätte die Spitzhacke auch hinwerfen können, der Spitzhacke hätte das nicht geschadet. Aber er legte sie leise und vorsichtig hin, als wollte er keinen stören oder aufwecken. Um Gottes willen keinen wecken. Nicht nur aus Rücksicht, aus Angst auch. Aus Angst. Um Gottes willen keinen wecken. Dann ging er, ohne auf die beiden anderen zu achten, an ihnen vorbei durch den knirschenden Schnee auf das Dorf zu.

      Widerlich, der Schnee knirscht genau so, ganz genau so. Er hob die Füße und stelzte wie ein Vogel durch den Schnee, nur um das Knirschen zu vermeiden.

      Hinter ihm schrie der Unteroffizier: Jesus! Sie kehren sofort um! Ich gebe Ihnen den Befehl! Sie haben sofort weiterzuarbeiten! Der Unteroffizier schrie, aber Jesus sah sich nicht um. Er stelzte wie ein Vogel durch den Schnee, wie ein Vogel, nur um das Knirschen zu vermeiden. Der Unteroffizier schrie – aber Jesus sah sich nicht um. Nur seine Hände machten eine Bewegung, als sagte er: Leise, leise! Um Gottes willen keinen wecken! Ich will das nicht mehr. Nein. Nein. Immer ich. Immer ich. Er wurde immer kleiner, kleiner, bis er hinter einer Schneewehe verschwand.

      Ich muß ihn melden. Der Unteroffizier machte einen feuchten wattigen Nebelballen in die eisige Luft, Melden muß ich ihn, das ist klar. Das ist Dienstverweigerung. Wir wissen ja, daß er einen weg hat, aber melden muß ich ihn.

      Und was machen sie dann mit ihm? grinste der andere.

      Nichts weiter. Gar nichts weiter. Der Unteroffizier schrieb sich einen Namen in sein Notizbuch. Nichts. Der Alte läßt ihn vorführen. Der Alte hat immer seinen Spaß an Jesus. Dann brüllt er ihn zusammen, daß er zwei Tage nichts ißt und redet, und läßt ihn laufen. Dann ist er wieder ganz normal für eine Zeitlang. Aber melden muß ich ihn erstmal. Schon weil der Alte seinen Spaß dran hat. Und die Gräber müssen doch gemacht werden. Einer muß doch rein, ob es paßt. Das hilft doch nichts.

      Warum heißt er eigentlich Jesus, grinste der andere.

      Oh, das hat weiter keinen Grund. Der Alte nennt ihn immer so, weil er so sanft aussieht. Der Alte findet, er sieht so sanft aus. Seitdem heißt er Jesus. Ja, sagte der Unteroffizier und machte eine neue Sprengladung fertig für das nächste Grab, melden muß ich ihn, das muß ich, denn die Gräber müssen ja sein.

      Die Katze war im Schnee erfroren

      Männer gingen nachts auf der Straße. Sie summten. Hinter ihnen war ein roter Fleck in der Nacht. Es war ein häßlicher roter Fleck. Denn der Fleck war ein Dorf. Und das Dorf, das brannte. Die Männer hatten es angesteckt. Denn die Männer waren Soldaten. Denn es war Krieg. Und der Schnee schrie unter ihren benagelten Schuhen. Schrie häßlich, der Schnee. Die Leute standen um ihre Häuser herum. Und die brannten. Sie hatten Töpfe und Kinder und Decken unter die Arme geklemmt. Katzen schrien im blutigen Schnee. Und der war vom Feuer so rot. Und er schwieg. Denn die Leute standen stumm um die knisternden seufzenden Häuser herum. Und darum konnte der Schnee nicht schrein. Einige hatten auch hölzerne Bilder bei sich. Kleine, in gold und silber und blau. Da war ein Mann drauf zu sehen mit einem ovalen Gesicht und einem braunen Bart. Die Leute starrten dem sehr schönen Mann wild in die Augen. Aber die Häuser, die brannten und brannten und brannten doch.

      Bei diesem Dorf lag noch ein anderes Dorf. Da standen sie in dieser Nacht an den Fenstern. Und manchmal wurde der Schnee, der mondhelle Schnee, sogar etwas rosa von drüben. Und die Leute sahen sich an. Die Tiere bumsten gegen die Stallwand. Und die Leute nickten im Dunkeln vielleicht vor sich hin.

      Kahlköpfige Männer standen am Tisch. Vor zwei Stunden hatte der eine mit einem Rotstift eine Linie gezogen. Auf eine Karte. Auf dieser Karte war ein Punkt. Der war das Dorf. Und dann hatte einer telefoniert. Und dann hatten die Soldaten den Fleck in die Nacht reingemacht: das blutig brennende Dorf. Mit den frierenden schreienden Katzen im rosanen Schnee. Und bei den kahlköpfigen Männern war wieder leise Musik. Ein Mädchen sang irgendwas. Und es donnerte manchmal dazu. Ganz weit ab.

      Männer gingen abends auf der Straße. Sie summten. Und sie rochen die Birnbäume. Es war kein Krieg. Und die Männer waren keine Soldaten. Aber dann war am Himmel ein blutroter Fleck. Da summten die Männer nicht mehr. Und einer sagte: Kuck mal, die Sonne. Und dann gingen sie wieder. Doch sie summten nicht mehr. Denn unter den blühenden Birnen schrie rosaner Schnee. Und sie wurden den rosanen Schnee nie wieder los.

      In einem halben Dorf spielen Kinder mit verkohltem Holz. Und dann, dann war da ein weißes Stück Holz. Das war ein Knochen. Und die Kinder, die klopften mit dem Knochen gegen die Stallwand. Es hörte sich an, als ob jemand auf eine Trommel schlug. Tock, machte der Knochen, tock und tock und tock. Es hörte sich an, als ob jemand auf eine Trommel schlug. Und sie freuten sich. Er war so hübsch hell. Von einer Katze war er, der Knochen.

      Die Nachtigall singt

      Wir stehen barfuß im Hemd in der Nacht und sie singt. Herr Hinsch ist krank, Herr Hinsch hat den Husten. Er hat sich im Winter die Lunge verdorben, weil das Fenster nicht dicht war. Herr Hinsch wird wohl sterben. Manchmal dann regnet es. Das ist der Flieder. Der fällt violett von den Zweigen und riecht wie die Mädchen. Nur Herr Hinsch, der riecht das nicht mehr. Herr Hinsch hat den Husten. Die Nachtigall singt. Und Herr Hinsch wird wohl sterben. Wir stehn barfuß im Hemd und wir hören ihn. Das ganze Haus ist voll von dem Husten. Aber die Nachtigall singt die ganze Welt voll. Und Herr Hinsch wird den Winter nicht los aus der Lunge. Der Flieder, der fällt violett von den Zweigen. Die Nachtigall singt. Herr Hinsch hat einen sommersüßen Tod voll Nacht und Nachtigall und violettem Fliederregen.

      Timm hatte nicht solchen Sommertod. Timm starb den einsam eisigen Wintertod. Als ich Timm ablösen wollte, da war sein Gesicht sehr gelblich im Schnee. Es war gelb. Das kam nicht vom Mond, denn der war nicht da. Doch Timm war wie Lehm in der Nacht. So gelb wie der Lehm in den naßkalten Kuhlen der Vorstadt zu Hause. Da haben wir früher gespielt und Männer aus dem Lehm gemacht. Aber ich habe nie gedacht, daß Timm auch aus Lehm sein könnte.

      Als Timm auf Posten ging, wollte er den Stahlhelm nicht mithaben. Ich fühl die Nacht ganz gern, sagte er. Sie müssen den Helm mitnehmen, sagte der Unteroffizier, kann immer mal was passieren und ich bin dann der Dumme. Ich bin nachher der Dumme. Da sah Timm den Unteroffizier an. Und er sah durch ihn durch bis ans Ende der Welt. Dann hielt Timm eine von seinen Weltreden:

      Die Dummen sind wir sowieso, sagte Timm an der Tür, wir alle Mann sind sowieso die Dummen. Wir haben den Schnaps und den Jazz und die Stahlhelme und die Mädchen, die Häuser und die chinesische Mauer und Lampen – alles das haben wir. Aber wir haben es aus Angst. Gegen die Angst haben wir das. Aber die Dummen bleiben wir immer. Wir lassen uns aus Angst photographieren und machen Kinder aus Angst und aus Angst wühlen wir uns in die Mädchen, immer in die Mädchen, und die Dochte stecken wir aus Angst in das Öl und lassen sie brennen. Aber die Dummen bleiben wir doch. Alles das tun wir aus Angst und gegen die Angst. Und die Stahlhelme haben wir auch nur aus Angst. Aber helfen tut uns das alles nicht. Gerade wenn wir bei einem seidenen Unterrock oder einem Nachtigallengestöhn unser Leben vergessen, dann erwischt sie uns. Dann hustet sie irgendwo. Und dann hilft uns kein Stahlhelm, wenn die Angst uns erwischt. Dann hilft uns kein Haus und kein Mädchen, kein Schnaps und kein Stahlhelm.

      Das war eine von Timms großen Reden, von den Weltreden, die er hielt. Die hielt er an die ganze Welt und dabei waren wir nur


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