Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt
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Als der Bus das Stadtgebiet erreichte, wagte er sich mit dem Moped näher heran; der Motor spuckte und setzte manchmal aus, und er musste den Gasgriff bis zum Anschlag drehen, um ihn nicht zu verlieren.
Walter saß in der Reihe schräg rechts hinter dem Fahrer; ein geringes Risiko also, dass er ihn hinter sich entdeckte.
Nur wenn der Bus an den Vorortshaltestellen stoppte, blieb Werders etwas zurück. Die Hände schmerzten von der ungewohnten Haltung, und seine Hosenbeine waren durch verschmutzt.
Erleichtert stellte er das Moped am Fahrradständer einer Parfümerie- und Fotohandlung ab, als er Walter aussteigen sah, und beschloss, auf jeden Fall mit dem Bus zurückzukehren. Seine Beine zitterten vor Anstrengung und fühlten sich taub an.
Es schien, als schlendere Walter planlos durch die Stadt, als wisse er selbst nicht, wohin er wolle. Werders hatte Mühe, ihn im dichten Gedränge der Fußgängerzone nicht aus den Augen zu verlieren.
Er kannte die Stadt ziemlich gut von früheren Aufenthalten. Etwas später war er sicher: Walter spielte ein Spiel, das man ihm sorgfältig eingeschärft haben musste – wie einem dressierten Schäferhund, der immer und unter allen Umständen tun würde, wozu er abgerichtet war – selbst wenn es keinen vernünftigen Anlass dazu gab. Denn er versuchte offenbar, einen für ihn gar nicht vorhandenen Verfolger abzuhängen. Einfach, weil sein Verhaltenskodex es so vorsah.
Werders war sicher, noch nicht von ihm entdeckt worden zu sein. Jemand, der sich verfolgt sah, bewegte sich anders …
Das monatelange Versteckspiel hatte seine Sinne geschärft und ließ ihn Gesten und Gebärden deuten, die für andere gar nicht existierten.
Walter durchquerte Einkaufspassagen, verließ einen Supermarkt auf der Rückseite, lief zwei- oder dreimal über dieselbe Straße (wobei Werder von vornherein darauf verzichtete, die Seitenwechsel mitzumachen, bis er sicher war, dass der andere drüben blieb) und trank endlos lange an zwei Tassen Kaffee in einem Stehausschank.
Irgendeine professionelle Organisation, dachte Werders …
Aber wozu der Aufwand, falls es das BKA war? Ein Anruf hätte genügt. Hubschrauber, Wagenkolonnen, Umzingelung des Grundstücks … oder wartete er Charlottes und Lenas Ankunft ab?
Wollten sie alle auf einen Schlag? Der unterirdische Gang musste ihm dann ein amüsiertes Lächeln abnötigen.
Es würde ihnen ein besonderer Genuss sein, sie dort in Empfang zu nehmen. Endlich schien Walter seine Vorsichtsmaßnahmen aufzugeben – er hatte sein Programm «absolviert» – und ging plötzlich in normalem Tempo eine baumbestandene Seitenstraße hinunter, die bereits wieder zu den Randbezirken führte.
Ihre Häuser waren alt, aber villenartig aufgeputzte Fassaden aus der Zeit um die Jahrhundertwende –, und sie besaßen ausnahmslos gepflegte Vorgärten. Zahnärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Zweigbüros kleinerer Firmen hatten sich hier einquartiert.
Der Rehpinscher einer dicklichen Dame im Pelz pinkelte an ein frisch gesetztes Bäumchen. Feuchter Wind wehte die Straße entlang, und das Tier zog fröstelnd an der Leine zum Hauseingang gegenüber, nachdem es sein Geschäft verrichtet hatte.
Werders beobachtete Walter, der die Eingangstreppe eines zweistöckigen Altbaus mit großen Bürofenstern betrat. Wenige Augenblicke nach dem Läuten war er hinter der Tür verschwunden.
Werders las das Firmenschild:
OLCO – Osthandelsgesellschaft Leipzig, Zweigstelle.
Das genügte. Er ging rasch weiter, sein Gesicht von den Fenstern abgewandt. MfS oder KGB. Wahrscheinlich beide. Sie hatten einen Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit, Ost-Berlin, in der Gruppe.
Aber wozu?
Er betrat die Telefonzelle ein Stück weiter unten an der Straßenkreuzung, suchte den Namen der Firma im Telefonbuch und wählte ihre Nummer.
Eine Frauenstimme meldete sich.
«Ja?»
«Bin ich mit der OLCO-Osthandelsgesellschaft verbunden?»
«Augenblick, ich verbinde weiter.»
Er wartete eine endlose Zeit lang. Dann meldete sich eine zweite Frauenstimme. Sie klang älter, resoluter.
«OLCO?», fragte Werders.
«Bitte, was wünschen Sie?»
«Fatima-Importe. Wir sind neu in diesem Raum und an der Aufnahme geschäftlicher Beziehungen in praktisch allen Warenbereichen interessiert, Traktoren, Werkzeugmaschinen, Möbel …»
«Bedauere, unser Vertriebsvolumen ist zur Zeit völlig ausgelastet. Vielleicht nehmen Sie Kontakt auf mit der Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik? Sie wird Ihnen gern bei der Anknüpfung geschäftlicher Beziehungen behilflich sein.»
«Danke», sagte Werders, «das werde ich tun. Danke».
Unter dem Vordach der Trinkhalle wartete er ab, bis der Feierabendverkehr in der Straße immer dichter wurde. Einmal kaufte er ein Päckchen Zigaretten, um die Inhaberin der Trinkhalle nicht zu verärgern. Dann eine Zeitung. Schließlich noch ein Magazin.
Er blätterte es flüchtig durch. Paul Walter hatte längst wieder das Haus verlassen. Der Rehpinscher wurde zum zweiten Mal ausgeführt. Werders verscheuchte ihn mit der Zeitung, als er an seinem Schuh das Bein hob.
Wagen fuhren am Gebäude der OLCO vor, jüngere Männer stiegen aus – und nach kurzer Zeit wieder ein. Kuriere, dachte er. Er war auf ein Agentennest gestoßen. Langsam wurde er hungrig. Der Kiosk bot belegte Brötchen an, und er bestellte zwei mit Käse und Zervelatwurst und trank eine Flasche Mineralwasser dazu.
Endlich verließ ein Mädchen das Haus. Werders warf beides – die Zeitung und das Magazin – in den Abfallkorb und folgte ihr. Er nahm an, dass es das Mädchen war, das ihn weiterverbunden hatte, nur eine zweitrangige Bürokraft. Unwahrscheinlich, dass sie seine Stimme wiedererkannte.
Sie trug hochhackige Schuhe, einen billig aussehenden, dünnen Mantel, Strümpfe wie aus dem DDR-Kaufhaus – nach so vielen Jahren sah man ihrer Garderobe immer noch an, woher sie stammte.
Ihre Figur allerdings war durchaus attraktiv. Außerordentlich attraktiv sogar, dachte Werders – und er versuchte damit zugleich sein schlechtes Gewissen zu überspielen, dass die anderen nun auf Gedeih und Verderb den wahren Plänen Paul Walters ausgeliefert waren – ob er sie an das BKA verriet oder aber ganz andere Absichten verfolgte –, während er hier einem hübschen, brünetten Mädchen aus Ostdeutschland nachstieg.
Andererseits war es reiner Selbsterhaltungstrieb, nicht sofort zum Haus zurückzukehren, sondern erst einmal abzuwarten, was geschah. Es gab dort kein Telefon, über das er sie hätte warnen können.
Wenn man von anderen Vorteilen absah … denn ein Kontakt mit ostdeutschen Stellen konnte sich irgendwann als nützlich erweisen. Es gab nicht sehr viele Ausweichquartiere. Eine Flucht nach Ostdeutschland war nicht das, was er wollte. Doch wenn das Kesseltreiben gefährliche Formen annahm, würde er sich das vielleicht noch einmal überlegen. Ostdeutschland war dann sicherer als der Westen. Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er dem Mädchen in ein armseliges Imbisslokal folgte, das nichts weiter als Spaghetti, drei Sorten Bratwurst und einen Eintopf anbot.
Sie wählte den Eintopf, es war Bohneneintopf.
Er nahm dasselbe und setzte sich neben sie an den Kunststofftisch.
«Ausgezeichnet», sagte er und reinigte seine Brillengläser mit der Serviette, weil sie vom Dampf aus der Terrine beschlagen waren.
«Bitte?» Sie hob überrascht den Kopf. Er sah, dass ihr Gesicht leicht gerötet war, besonders um die Augen – als wenn sie vor kurzem geweint hatte.
«Heiß … heiß kommt immer gut. Bei dem Wetter.»
«Ja.»