Rock wie Hose. Holger Hähle

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Rock wie Hose - Holger Hähle


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ob ich unter Basketballhosen einen Slip oder Boxershorts trage. Der männlichen Anatomie kommt ein tiefer Schritt sehr entgegen. Die optimale Oberbekleidung für Boxershorts ist ganz bestimmt ein Rock. Da gibt es keinen Schritt, der im Weg sein könnte. Ich werde das ausprobieren.

      Das Ende der Schulstunde ist erreicht. Ich sage Dankeschön für die allgemeine Begeisterung und ich sage Dankeschön für die Gelegenheit zu dieser Erfahrung. Irritiert, weil niemand Fotos macht, füge ich noch hinzu: „Sie dürfen jetzt fotografieren.“ Erst jetzt wird nach den Smartphones gegriffen. Eine Traube von FotografenInnen baut sich vor mir auf. Es sieht ein wenig so aus wie auf einer Pressekonferenz. Erst werde ich fotografiert, dann kommen Selfies mit mir. Zum Schluss muss der bestellte Fotograf ein Klassenfoto machen. Der nächste Lehrer, der die Klasse übernimmt, lässt sich von der Stimmung anstecken. Auch er will Fotos von sich und den Schülern und mir. Bei so viel Freude kann ich mir nicht mehr vorstellen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die diesen Spaß nicht billigen.

Picture 11

      Abb. 11: Ich löse mein Versprechen ein

      Aber Vorsicht, vergessen wir nicht, dass meine eigenen Bauchgefühle mit dieser Verkleidungsaktion nicht einverstanden waren und dass ich mich selbst erst überzeugen musste. Vier Dinge haben mich im Rahmen der Aktion und ihrer Vorbereitung nachhaltig beeindruckt:

      1 Die Bequemlichkeit von Röcken

      2 Die Macht sozialer Prägungen

      3 Die neugierige Offenheit der Schüler

      4 Mein Gewinn an Autorität trotz eines umstrittenen Themas durch Entschlossenheit, authentisches Auftreten und fachliche Ausgewogenheit.

      04 Die Zeit danach

      Für den nächsten Unterricht ziehe ich mich wieder um. Das erledige ich diesmal auf der nicht klimatisierten Herrentoilette. Hier wiederholt sich die einschneidende Erfahrung vom ersten Umziehen. Die Reihenfolge ist nur umgekehrt. Erst streife ich den Rock bequem aus, dann kämpfe ich mich in die vom morgendlichen Schwitzen noch feuchte Jeans. Der Vorgang erinnert mich ans Tauchen, wenn ich mich in einen hautengen Neoprenanzug zwängen muss. Zusätzlich behindern die Kabinenwände. Die Hitze treibt mir Schweißperlen auf die Stirn. Von den vollgesogenen Augenbrauen tropfen sie auf die Brillengläser.

      Automatisch frage ich mich: ‚Wieso tu ich mir das an? Wieso ziehe ich mich überhaupt um? Hosen sind nicht immer bequem, nicht nur jetzt beim Anziehen. Durchschwitzte oder enge Hosen ziehen im Schritt beim schnellen Gehen oder Treppen steigen. Kann ich nicht den Rock anbehalten? Das ist viel komfortabler.‘

      Bequemlichkeit schlägt sich so intensiv auf mein Wohlgefühl durch. Das verkneife ich mir nur ungern. Den so komfortablen Rock opfere ich also nur widerstrebend einer Männlichkeitsfantasie zur Geschlechterordnung, die die Welt nicht wirklich braucht. Ich muss aber gerade in einer offiziellen Situation nachgeben. Der gesellschaftliche Standard ist festgelegt. Und der ist besonders am Arbeitsplatz heute anders als in der Qing-Dynastie oder zu anderen Zeiten. Meine praktischen Überlegungen spielen dabei eine viel zu kleine Rolle.

      Ich weiß ja selbst, dass auch im 21. Jahrhundert Röcke weiterhin sexualisieren. Gerade bei der Schuluniform liegt der Sinn nicht nur darin Unterschiede zu egalisieren, sondern auch gleichzeitig den von vielen als wichtig empfundenen Geschlechtsunterschied durch Röcke und Hosen, hervorzuheben. Gemeinsamer Unterricht bedeutet eben nicht immer, dass die Gemeinsamkeiten im Mittelpunkt stehen. Das wird auch dort sichtbar, wo die Hose für Schülerinnen an unserer Schule schon durchaus ein etabliertes, gemeinsames und zeitgemäßes Kleidungsstück sein könnte und trotzdem von Müttern und der College-Leitung nicht gern gesehen wird. Was den Schülerinnen an unserem College billig sein könnte, ist den Männern noch sehr teuer.

      Heute widersprechen Röcke für Männer nach langer Tradition aktuellen Konventionen und in meinem Fall auch den Rahmenbedingungen für meine Anstellung. Ich müsste schon ein Mönch sein, um offiziell ein Kleid tragen zu dürfen. Jeans und ähnliche Hosen sind für männliche Lehrer nun mal die vorgesehene, aktuelle Arbeitskleidung in einem konfessionellen Umfeld, das auf seine Traditionen stolz ist. Zu kurz dürfen die auch nicht sein. Wo schon Bermudas unerwünscht sind, haben Röcke für Männer erst recht keine Chance. So viel Unvernunft ist bedauerlich aber auch sozio-kulturell vom Zeitgeist legitimiert.

      Allerdings fühle ich mich durch mein Rockerlebnis wie der Blinde, der plötzlich sehen kann. Und jetzt soll ich die Augen wieder zukneifen? Werden wir von gesellschaftlichen Normen gegängelt ohne tieferen Sinn? Kapituliere letztlich auch ich gegenüber überkommenen Regeln, die altbacken und willkürlich wirken? Gebe ich zu leicht nach? Mit ein bisschen Logik könnten Regeln leicht modernisiert werden. Angestaubten, obsoleten Regeln könnte mit evaluiertem Sinn neues Leben eingehaucht werden.

      Da beruhigt es mich ein wenig, dass zu anderen Zeiten Menschen noch unbequemere Kleidung tragen mussten, um die Reize ihres Geschlechts hervorzuheben. Der enge Stehkragen der Herrenhemden des neunzehnten Jahrhunderts wurde nicht ohne Grund Vatermörder genannt, schränkte er doch die Bewegung des Kopfs und manchmal auch das Schlucken ein. Ein Glück, können wir heute auf dieses wahnsinnig männliche Utensil verzichten. Es ist so überflüssig wie ein Kropf oder wie das Schnürmieder für Frauen aus der gleichen Epoche.

      Warum sollte es nicht gelingen, noch einmal solchen Unsinn zu überwinden? Die Menschen haben sich doch lernfähig gezeigt. Nun ist es leicht mit großer zeitlicher Distanz eine sachliche Kritik zum Unsinn vergangener Tage zu formulieren. Schwieriger ist Unvoreingenommenheit im Alltag. Zu allen gelebten Dingen haben wir eine emotionale Beziehung. Ein bisschen mehr pragmatisches statt gewohnheitsorientiertes Denken wäre ein guter Anfang. Das Leben kann so viel einfacher sein, wenn wir einfach nur Mensch sind. Eine permanente geschlechtliche Positionierung brauche ich nicht. Das überlasse ich gerne den Machos.

      Vielleicht sollte ich in meiner Freizeit anfangen, mir bezüglich meiner Kleidung ein paar Freiheiten zu gönnen, wenn sie mir das Leben in den Tropen leichter machen. Ein Rock ist so präsent. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ich bin angezogen. Normalerweise greife ich in den Kleiderschrank, ziehe ein Hemd und eine Hose heraus und gehe damit durch den Tag. Würde mich jemand fragen, welche Farbe meine Hose hat, ich müsste mich bücken um nachzusehen. Es ist mir nicht bewusst. Ich weiß, ich brauche eine Hose und nehme morgens die, die im Schrank oben aufliegt. Der Rest des Tages gehört anderen Dingen. Mit einem Rock ist das anders. Der ist keine zweite Haut wie Röhrenjeans. Es gibt zwischendurch immer ein Feedback, weil der Wind den Rock bewegt oder ich über Treppenstufen springe. Ein Rock lebt. Ich werde weiter darüber nachdenken. Jetzt muss ich aber schleunigst zur nächsten Klasse.

      Die SchülerInnen dieser Klasse lernen im dritten Jahr Deutsch. Viele haben schon das Zertifikat B1 des Goethe Instituts absolviert. Die Älteren sind 18 Jahre alt. Es ist ihr letztes Jahr in der klassischen Schuluniform. Danach endet die Schulpflicht. In den letzten zwei Jahren des fünfjährigen College tragen die Frauen dann gerade geschnittene Röcke in Blau, die etwas enger sind. Bei den Schuhen ist etwas mehr Absatz erlaubt.

      Für den lockeren Einstieg entscheide ich, ein wenig von meiner Karnevalsvorführung zu erzählen. Das hätten sie auch gerne erlebt und wollen, dass ich das für sie wiederhole. Ich vertröste sie auf das nächste Jahr oder vielleicht Halloween. Ich mag nicht zustimmen. Ihre Begeisterung ist anders gemischt. Neben aufrichtig Neugierigen scheinen zu viele nur an der Sensation interessiert zu sein. Als Freak will ich aber nicht auftreten.

      Meine Aktion vom Morgen spricht sich herum. Mittags im Fachbereich wollen Kollegen Informationen aus erster Hand.

      „Na“, frage ich zurück, „was haben euch denn die Schüler erzählt?“ Die haben in diesem Fall nichts erzählt. Diesmal konnte sich der Kollege nicht zurückhalten, der die Klasse nach mir übernommen hat. Das amüsiert mich, aber es freut mich auch. Zeigt es doch, wie sehr der Lehrer angetan ist. Solche Unterstützung durch das Kollegium ist mir wichtig.

      Nachmittags zeigen sich viele Schüler anderer Klassen ebenfalls gut informiert. Der verbale Austausch ist offensichtlich rege. Den Rest besorgt Facebook.


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