Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Hans Durrer

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Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn - Hans Durrer


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      Endlich

       Postponement can get to be a disease.

       Anonymous

      Die meiste Zeit seines Lebens war Harry auf der Suche nach Sinn gewesen. Rastlos. Alles musste schnell gehen. Als er ein neues Handy brauchte und den Kauf so rasch wie möglich hinter sich bringen wollte, erwarb er auch ein völlig überteuertes Handy-Etui, das er gar nicht brauchte und bereute dies nachher noch stundenlang – loslassen gehörte auch nicht zu seinen Stärken. Zu Hause angekommen regte er sich dann darüber auf, dass die Handy-Kamera, wie immer er sie auch drehte und wendete, einfach kein Bild zeigte. Zurück im Laden, erklärte ihm die Verkäuferin, dass er das Kamera-Etui vor das Objektiv hielt. Er fühlte sich wieder einmal wie ein Volltrottel.

      Es galt, eine Aufgabe zu finden, ein Thema, das ihn packte. Doch was tun, wenn einem, kaum hatte man etwas verstanden, die Lust an der Sache verging. Klar, es gab da auch die, die imstande waren, sich derart in ein Thema zu verbeissen, das sie Schicht um Schicht abtrugen und so glaubten, dem Kern, dem Wesentlichen, dem, worauf es ihrer Meinung nach ankam, am ehesten nahe zu kommen. Harry, dem dies einleuchtete, war jedoch ganz anders gebaut.

      Vor Jahren, im thailändischen Prachuap Khiri Khan, war er an der Rezeption des Hotels, in dem er ein Zimmer belegte, dessen Ausstattung sich auf ein Bett und einen Ventilator beschränkte, auf einen Thai getroffen, der an der Chulalongkhorn in Bangkok Geografie unterrichtete und gerade eine Studie veröffentlicht hatte, die zeigte, dass grosse Teile der thailändischen Geschichte umgeschrieben werden mussten. So jedenfalls verstand ihn Harry und so fragte er: Wieso denn das? Weil seine Auswertung von Luftaufnahmen gezeigt habe, dass viele Verbindungswege, die man bisher für Strassen gehalten hatte, Flüsse gewesen seien.

      Die einzige Konstante in Harrys Leben war, dass er immerzu sein Leben ändern wollte. Neuanfang war für ihn nicht nur ein fast magisches Wort voller Hoffnung und Versprechen, sondern auch ein Befehl. Schon im Alter von zwölf zeigten seine Tagebucheinträge die Richtung an. Montag, neues Leben anfangen, war da etwa zu lesen. Immer Montag, nie an einem Freitag. Als er im fortgeschrittenen Alter auf die (zugegeben ziemlich banale) Erkenntnis stiess, dass auch der Mittwoch sich für einen Neuanfang anbieten könnte, empfand er dies schon fast als Erleuchtung, die allerdings nicht lange anhielt – nach gut zwei (gefühlten) Minuten war's wieder vorbei.

      Zu seinen Neuanfängen gehörte auch, sich keine Talkshows mehr anzutun, vor allem keine sogenannt politischen mehr, die nur dazu da waren, den immer gleichen Interessenvertretern eine Plattform zu geben. Auch diese Vorsätze hielten selten lange. Dass er bei seinen Ausrutschern auch gelegentlich spannende Leute zu sehen bekam, liess ihn zum Schluss kommen, dass das strikte Entweder/Oder kein sinnvoller Ansatz war.

      Er beschloss das Ganze fortan lockerer zu nehmen. Vielleicht würde er ja diese Sendungen eines Tages wirklich links liegen lassen (warum nicht „rechts liegen lassen“, vielleicht wäre ja das der Durchbruch?), vermutlich war er ganz einfach noch nicht so weit. Kurz darauf liess sich eine junge Frau in einer solchen Sendung darüber aus, dass unser dauerndes Auf- und Verschieben von allem, was wir angeblich gerne machen würden und sollten, nicht wirklich eine Lösung sei. Als er sie später googelte, stiess er auf Kommentare, die ihr bescheinigten, damit den Zeitgeist der heutigen Jugendlichen getroffen zu haben. So ein Schmarren, dachte er, was die junge Frau so eloquent vorgetragen hatte, betraf alle Menschen, ungeachtet des Alters. Vielleicht mit Ausnahme derer, die glaubten, mit zunehmenden Alter weise oder zumindest weiser zu werden. Harry kannte solche Leute – er hielt sie für blöd.

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      Yona, in Havanna mit Salsa Rhythmen aufgewachsen, guckte fassungslos auf den Bildschirm, wo in einfache, doch wunderschöne Trachten gewandete Männer und Frauen miteinander jassten und zwischendurch eine Dreier-Handörgeli-Formation appenzellische Volksmusik zum Besten gab. „Und das, glaubt man hier in der Schweiz, sei Unterhaltung?“

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      „Giuliani calls Biden a 'mentally deficient idiot“, las er in einer Online-Zeitschrift und erinnerte sich daran, dass dieser Guliani-Trottel nach 9/11 von den Medien als „America's Mayor“ gefeiert wurde, was ihn wiederum an den 'New York Times' Bericht über den Tod der 92jährigen Barbara Bush erinnerte, in dem diese als „First Mother“ bezeichnet wurde. Das Bedürfnis des Menschen nach Heldenhaftem und Bedeutungsvollem trieb wahrlich höchst abstruse Blüten. Es entzog sich Harry (nicht, dass er es wirklich hätte wissen wollen), ob der 32jährige Sebastian Kurz in Österreich als „Landesvater“ geführt wurde.

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      Nachdem er nach Jahren des Essay Verfassens einen Thriller veröffentlichen konnte, beschloss er, dass jetzt fertig sein sollte mit diesem eitlen Sich-Selber-Zeigen. Er würde jetzt (ab sofort) etwas ganz Anderes, etwas vollkommen Uneitles, etwas durch und durch Wesentliches tun, schliesslich stand die Rente vor der Tür, er hatte keine Zeit zu vergeuden, glaubte es aber doch nicht wirklich, weil er es nicht fühlte – er erlebte sich überhaupt nicht anders als vor dem Thriller. Andererseits: Er konnte doch nicht die ganze Zeit auf seine Gefühle hören, die ihn glauben liessen, dass alles immer so weiter gehen würde. Schliesslich hatte er ja auch noch sein Hirn und dieses sagte ihm, Carpe diem. Okay, aber wie?

      Sein Leben lang war er von Diesem zu Jenem gehopst, vom Fussball zur Rockmusik, von Jura zu den Medien, von der Fotografie zur Linguistik zur Sucht, die er als Grundlage und Bedingung des kapitalistischen Systems begriff (Süchtige und Konsumenten unterschieden sich nicht, beide konnten den Hals nicht voll kriegen). Themen, die ihn einmal gepackt hatten. Vollständig. Mit totaler Hingabe hatte er sich ihnen jeweils gewidmet. Jetzt nicht mehr. Jetzt wollte er was gänzlich anderes. Doch was?

      In der Gegenwart sein war sein neuestes Ziel. Er begann Walking Meditation zu praktizieren. Es forderte ihn, faszinierte ihn, aber nicht lange. Doch so schnell würde er nicht davon lassen. Er entschied sich, zu üben. Wie als junger Mann, als er bei jedem Wetter Fussball spielte. Trainieren. Üben. Er trainierte. Und übte. Es tat ihm gut. Doch es füllte ihn nicht aus. Er brauchte ein neues Projekt. Oder etwa doch nicht? Gott, war das schwierig!

      Harry Leben war von Konstanten bestimmt, die ihm unveränderbar schienen. Nicht, dass ihm das einleuchtete. Im Gegenteil. Doch aufzugeben, sein Leben nach seiner Façon hinzubiegen, kam nicht infrage. Auch dies eine Konstante.

      Jeder weiss, dass man sein Leben nicht an einem Freitag ändern konnte, denn da lag ja noch das Wochenende vor einem, das, wie auch jeder weiss, dazu da war, sich gehen zu lassen. Sie habe gehört, in Amerika sage man Good God it's Friday, lächelte die Thailändisch Lehrerin in Bangkok. In Thailand kenne man diesen Ausdruck nicht, in Thailand geniesse man alle Tage.

      Es war Freitag, der 13te, ein spezielleres Datum für einen Neuanfang (ganz neu anzufangen gehörte zu seinen Konstanten) gab es kaum. Abends zuvor hatte er versucht, sich einen Film mit Tommy Lee Jones anzusehen, doch die Geschichte war derart klischeehaft und voraussehbar, dass er nicht über die erste Hälfte hinauskam (und auch das nur, weil Yona, seine Ex, vermeinte, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Schauspieler zu sehen – er selber sah keine und wunderte sich gelegentlich über die Wahrnehmung seiner Ex, bis ihm dann, Jahre später, eine junge Amerikanerin genau das Gleiche sagte), dann auf BBC wechselte, wo dieser Reality-TV-Lappi ohne Hirn und Anstand wie immer die Aufmerksamkeit erhielt, derer er so bedurfte. Wut und Abscheu ergriffen von Harry Besitz, er wechselte unverzüglich den Kanal, tat sich kurz eine dieser politischen Plauder-Runden an, bei der Oskar Lafontaine darauf hinwies, dass Nordamerika 800 bis 1000 Stützpunkte weltweit betreibe und es gescheiter wäre, das Geld, das dafür aufgewendet werde, in die Entwicklungshilfe zu stecken. Selbstverständlich ging niemand auf das Argument ein, da die anderen Teilnehmer ihre gutbezahlten Jobs der kriegsähnlichen Wettbewerbswelt verdankten und von Entwicklungshilfe (Wie wäre es stattdessen mit weniger Gier?) genauso wenig verstanden wie Lafontaine.

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      Sein endgültiger Neuanfang funktionierte auch an diesem Freitag nicht. Bereits am frühen Nachmittag fand er sich wieder in seinem gewohnten Fahrwasser, tat mal dies, mal das und verschob, was er eigentlich tun wollte, auf den 1. August, den Schweizer


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