Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.dann gute Nacht, erhol dich vom Stress der vergangenen Tage. Und von der Enttäuschung in Sachen Svea. Ab jetzt beginnt eine neue Ära.“ Halt verdammt nochmal den Mund, altes Quatschmaul!, schwirrte es durch das Stockfinster meines Kopfes.
Plötzlich sah ich Svea, wie sie sich das Heroin direkt in die Vene der Armbeuge spritzte. Ich kam ins Schwitzen. Als ich sie 1970, vor etwas mehr als vier Jahren, kennen gelernt hatte, war sie gerade siebzehn Jahre alt und erwies sich als eine der vitalsten Menschen, denen ich je begegnet war. Sie nahm Anteil an allem, was in der Welt vorging. Ihre Sinne waren wach und schienen stets auf Hochtouren zu laufen. Aber jetzt, nach all den persönlichen Niederlagen und der schleichenden Drogenabhängigkeit, hinterfragte sie nichts mehr.
Aus dem unbeschwerten, weltoffenen Hippiemädchen war eine sich nur mit sich selbst beschäftigende Drogenabhängige geworden. Keine glänzende Karriere in diesen jungen Jahren. Mir schien, sie beobachtete nur noch ihr eigenes Inneres, saugte kein neues Wissen in sich auf, wog nicht mehr ab und hatte kein Interesse mehr, sich ausgewogene Urteile über dies und das zu erlauben. Ihre Welt war sehr einfach geworden. Sie war verflacht.
„Du bist so schön und klug …“, hatte mein erstes Kompliment an sie gelautet. Aber von der Klugheit war viel verweht, vielleicht auch nur verschüttet, und ich musste ihr beim Wiederfinden behilflich sein.
Mir schoss unsere damalige Diskussion im Alamo durch den Kopf. Wir hatten uns über ihre hoffnungsvolle Lebensperspektive unterhalten:
„Ich meine, es wäre schade, wenn du dein Leben nur als Bardame oder Bedienung verbringst.“
„Diese Berufe sind auch nötig. Ohne die könnten wir hier nicht gemütlich sitzen und plauschen“, hatte sie mein Argument zurechtgestutzt. Dann war sie nachdenklich geworden. „Kara, wenn ich wirklich so schlau wäre, wie du vermutest, glaubst du, ich hätte dann mit sechzehn meine Schulausbildung abgebrochen? Ich hätte weitergemacht, um Tierärztin zu werden oder Theologin.“
Und nun, vier Jahre danach, das Drama: Heroin.
Vor mir hörte ich jetzt ein Räuspern.
Wird doch nicht schwer sein, einmal die Klappe zu halten! Sei anständig und lass mich schlafen, guter Freund!, dachte ich; dann nickte ich wieder ein. Doch der Moment währte kurz.
„Nimm ruhig meine Decke“, sagte Wolle und warf den Stoff auf meinen Schoß. „Mir ist warm genug, ich brauche sie nicht.“
War es draußen im Flughafengebäude selbst am Abend noch unerträglich heiß gewesen, so war der Kälteschock hier im Flieger das andere Extrem.
„Ich brauche die Decke wirklich nicht!“, hörte ich unseren guten Freund Wolle sagen.
Ich auch nicht, altes Arschloch. Merkst Du nicht, dass ich schlafen will? In Gedanken ging ich noch einmal die Versprechen dieses unhöflichen Freundes durch. Wenn sie ebenso löchrig waren wie seine Höflichkeit, dann Gnade ihm Gott. Er hatte mir etwas zugesagt. Schon in wenigen Wochen würde er mit mir nach Marrakesch zurückkehren und Svea suchen gehen, um sie aus den Händen der marokkanischen Zuhälter zu befreien.
Ich schlug die Augen kurz auf, und da sah ich sie.
Svea – in ihrer prachtvollen Schönheit – betrat das Flugzeug in Begleitung eines dunkelhäutigen Arabers. Nein, das kann nicht sein!, wollte ich schreien, aber ich stammelte nur: „Nicht doch, nicht doch.“
„Schon gut, du brauchst die Decke nicht zu nehmen“, hörte ich vor mir Wolles Stimme.
Der Marokkaner ging Svea voran und hielt sie an der Hand. Eben drehte er sich zu ihr um und machte merkwürdige Handzeichen, die sie in gleicher Art beantwortete.
Oh mein Gott, Gebärdensprache – sie haben ihr die Zunge ausgerissen. Das Flugzeug rumpelte.
Doro!, zuckte es plötzlich durch meine Vorderstube. Wenn sie die beiden sieht, ist es aus. Sie wird hier einen Aufstand machen. Die Umbuchungs- und Stornierungskosten für Sveas Flug, die wir hatten leisten müssen! Und dann die Aufregung, als wir feststellen mussten, dass sie spurlos verschwunden war! Ich griff hinüber und fasste Doro am Arm. Offensichtlich schlief sie schon und hatte die beiden nicht gesehen. Jetzt nur kein Wirbel an Bord. In Berlin, nach der Landung, werde ich den Araber und Svea zur Rede stellen. Er sieht aus wie ein Zuhälter, aber das macht mir keine Angst.
Ich räkelte mich nervös in meinem bequemen Sitz der Economy Class. Mein übermüdeter Verstand versuchte, das Vergangene zur Seite zu schieben – und mit ihm Svea, ihren dänischen Verführer Sören, und jetzt diesen unbekannten arabischen Begleiter und ... die Drogen und ... den Tod.
Da hörte ich es flüstern. Doro und Quiny! Gut, dass ihr da seid; ihr seid so liebe Freunde! Mechanisch suchten meine Füße nach Doros Füßen. Erneutes Flüstern. Beruhigt legte sich mein Gefühl in die Nähe von Doros Kopf. Schlafen, ich will schlafen.
Das Flugzeug setzte sich langsam in Bewegung. Wahrscheinlich rollte es zur Startbahn. Jetzt konnte ich endgültig abschalten.
In diesem Moment erscholl die auffordernde Stimme der Stewardess gleich neben meinem Ohr: „Angeschnallt?“
„Hm, hm, ja“, murmelte ich.
Wahrscheinlich werden sie jahrelang darauf gedrillt, Passagiere aus ihrem Schlaf zu reißen, etwa nach dem Motto: „Dürfen wir Sie wecken, wenn Sie am Einschlafen sind? Nein? Oh, das tut uns aber leid.“
Ich hasste Aufdringlichkeiten. Meistens gut gemeinte.
Doch ich fegte die schlechten Gedanken hinfort. Passagiere quälende Stewardessen sind vom gleichen Kaliber, sie meinen, dass sie es gut meinen, flüsterte mir die Großhirnrinde zu.
„Möchten Sie einen Schluck …?“
Ich schlug für einen winzigen Moment die Augen auf, sagte „Bin angeschnallt“ und schloss die Augen wieder. Aber ich spürte, dass die Passagiere-Quälerin im Gang neben unserer Sitzreihe stehenblieb.
„Ob Sie einen Champagner möchten. Sie haben Geburtstag!“
„Ja“, entfuhr es mir automatisch. Danach lasst ihr mich verdammt nochmal in Ruhe. Ich bin saumüde! Bitte!
Noch einmal öffnete ich mit letzter Willensanstrengung die Augen, um den Champagner zum Mund zu führen. Doro und Quiny schienen das Spiel mitzumachen.
Das Prickeln im Hals war ein Anschlag auf den guten Geschmack; fast hätte ich mich übergeben. Ich verkippte das Glas.
Doro tupfte mich ab – vielleicht war es auch die Stewardess – und man reichte mir ein feuchtes Tuch und ein neues Glas.
„Ehrlich gesagt, trink ich lieber Karamalz. Der Champagner schmeckt wie Sprudel, das bekommt mir irgendwie nicht. Und dann lasst mich bitte schlafen.“
Wie um meinen Wunsch zu unterstreichen, drehten die Turbinen auf und erzeugten ein angsteinflößendes Dröhnen. Die Flugbegleiterin brachte mir noch schnell ein Glas Wasser, das genau wie dieser Champagner schmeckte, und eine Tablette, kurz bevor der Pilot die Startbeschleunigung freigab. Ich stürzte das Glas Wasser und die Pille sofort hinunter, und meine Hände umspannten krampfhaft die Lehnen.
Langsam sammelten sich kleine Schweißperlen an meinem Haaransatz und tropften gemächlich meine Schläfen hinunter. Widerwillig blieb ich einen kurzen Moment wach. Die Boeing schoss an den erleuchteten Hangars vorbei, und die Lichter und hellen Punkte seitlich der Startbahn wurden kleiner und kleiner, bis sie sich schließlich zu einem lang ausgestreckten Lichtstrich vereinten.
Ich warf keinen Blick hinunter. Meine Augen waren zugefallen. Als das Dröhnen und Vibrieren nachließen, drückte ich mich noch fester, aber beruhigt in meinen Sitz. Nun endlich konnte ich schlafen.
„Also, gute Nacht, Schatz“, murmelte ich.
„Gute Nacht“, hörte ich die Stimme meiner geliebten Doro.
Flug Nr. 3342 der Lufthansa-Flotte verlief bis zu diesem Zeitpunkt planmäßig. Ich schlief tief und fest und traumlos, wie ich