Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig

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Crazy Zeiten - 1975 etc. - Stefan Koenig


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dass dieses Begabten-Abi nichts anderes war als ein willkürliches Verfahren im Stil des Russischen Roulettes – und ich war nun mal kein Spieler-Typ.

      Ich war und blieb Sternzeichen Jungfrau, fernab jeglicher Zockermentalität. Doro hatte mir ein süßes kleines Horoskop-Büchlein, dunkelblau eingebunden, zum Geburtstag geschenkt: „Die gründliche und verlässliche Jungfrau ist das solideste aller Sternzeichen. Sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden. Wer so berechenbar ist, der ist Gold wert. Herzlichen Glückwunsch!“

      Na ja, wenn ich mir so anschaute, wer noch alles Jungfrau war, schmolz mein insgeheimer Stolz doch etwas zusammen. Auf der Haben-Seite standen auf alle Fälle Sean Connery, Bruce Springsteen, Romy Schneider, Oskar Lafontaine, Freddy Mercury und Johann Wolfgang von Goethe – er unter anderem wegen der Frankfurter Grünen Soße, die Lollo so lecker zubereiten konnte. Auch ein neuer Jungfrauen-Schriftsteller tauchte am Horizont auf und veröffentlichte im Doubleday-Verlag seinen ersten Knüller. Der Knüller, den ich auf Englisch verschlungen hatte, hieß „Carrie“. Und der Autor hieß Stephen King. Wie stolz ich da war, dass ich Stefan Koenig hieß.

      Auf der Soll-Seite stand der fußballernde Emporkömmling Franz Beckenbauer, der sich aus meiner Sicht wie ein neureicher Karrierist aufführte. Er war mir einfach nicht sympathisch. In meinem persönlichen Jungfrauen-Soll standen aber auch Sophia Loren, Richard Gere und Reinhold Messner, mit denen ich partout nichts anzufangen wusste.

      Doro und ich hasteten voller neuer Ideen und sozialistischer Perspektiven durch die beschauliche Adventszeit, die wir als solche kaum wahrnahmen. Überall – das heißt überall in unserem Westberliner und dem uns bekannten Frankfurter Umfeld – war Eigeninitiative angesagt, nicht abwarten bis Väterchen Staat irgendetwas verordnete, gleich selbst anpacken und machen, organisieren, kollektiv arbeiten, mitbestimmen, mitgestalten. Rundum – sogar im Kreise der alten, eher unpolitischen Bekanntschaften – bewegte sich einiges, was wir so nicht erwartet hätten.

      Wir bekamen Anrufe und Besuche von ehemaligen Mitschülern, die vor sechs Jahren bei der 68er-Be­wegung – es war für uns Jungen eine Ewigkeit her – noch äußerst zurückhaltend gewesen waren. Und jetzt schwangen sie äußerst revolutionäre Töne. Oft schienen uns diese tönenden Thesen auf tönernen Füßen zu stehen, erschienen überzogen und unrealistisch. Doch wir selbst schwebten zu großen Teilen noch im siebten Himmel der gesellschaftlichen Umgestaltung, und so war uns jede irrwitzige Diskussion lieber als das Schweigen der Lämmer.

      Zuhause veränderte sich in diesen Monaten Tante Anneliese, die wir auch Dada nannten. Die Schwester meiner Mutter musste sich ins Zeug legen, um ihre Familie geordnet über den Tag zu bringen. Onkel Karl, der alte, einst quickfiedele Nazi, saß nach einer missglückten Bandscheiben-Operation nun schon das fünfte Jahr querschnittsgelähmt im Rollstuhl und machte seiner Frau das Leben zur Hölle. Lollo, die oftmals nach Wiesbaden fuhr, um ihrer Schwester zu helfen, hatte von dort nichts Angenehmes zu berichten.

      Zum ersten Mal in ihrem Leben übernahm Dada materielle Angelegenheiten, ohne jede Hilfe außer der meiner Mutter. Mit ihrem Mann konnte sie nicht mehr rechnen. Sie erwachte nun aus einer langen finanziellen Geborgenheit, in der sie bislang frei von Verpflichtungen und Sorgen, immer wohlbehütet und umhegt, in der größten Behaglichkeit hatte leben können.

      Onkel Karl verfiel auf den Trick, dass ihm nichts, was er aß, bekam, außer wenn Dada es gekocht hatte. So verbrachte sie einen guten Teil des Tages in der Küche. Zwar waren sie über Karls ehemaligen Direktorenposten bei der Allianz gut abgesichert, doch die laufenden Kosten ihrer Wiesbadener Sonnenberg-Villa waren hoch. Zudem waren neuerdings ganztägige Haushaltshilfen sozialversicherungspflichtig und somit überraschend teuer geworden. Meine Tante wurde die Krankenpflegerin ihres Mannes. Sie musste ihn waschen, seine Verbände wechseln, wenn er sich wundgesessen hatte und musste ihn auf die Bettpfanne setzen.

      Er wurde von Tag zu Tag jähzorniger und despotischer. „Steck mir ein Kissen dahin“, verlangte er, „nein, weiter oben hab‘ ich gesagt, bring‘ mir Wein, nein, Weißwein hab‘ ich gesagt, mach‘ das Fenster zu, mach‘ es auf, hier tut es mir weh, ich habe Hunger, mir ist heiß, kratz‘ mich am Rücken, weiter oben, nicht so fest, viel zu weich, mach’s mal richtig, warum muss ich immer alles sagen!“

      Wenn Dada rund um die Villa den herbstlichen Garten pflegte, ließ er sich zuvor von seinem Sohn Gerd, wenn dieser zufällig zuhause war, an ein Fenster bringen. Von dort aus konnte er seine Frau beobachten und – kochend vor Wut über seine erzwungene Unbeweglichkeit – seine Befehle hinaus schreien. Als Lollo mir davon berichtete, drängte sich mir die Frage auf, ob das, was jetzt aus ihm herausbrach, seiner damaligen Rolle als SS-Standartenführer zuzuschreiben war. Ich blieb mit dieser Frage für immer und ewig alleine.

      Tante Anneliese fürchtete ihn schließlich weit mehr als früher den gesunden und herrischen Mann, der sie mit seinem Macho-Geruch, seiner unterschwelligen Gewittersturmstimme, seinem erbarmungslosen inneren und äußeren Krieg gegen alles, was ihm links schien, seiner Überheblichkeit als großer Allianzmanager, der immer seinen Willen durchsetzte, erst fasziniert und zuletzt genervt hatte. Schließlich hatte er in ihren persönlichen Neuaufbruch nach der „unnötigen schändlichen Niederlage“, wie sie als Ex-BDM betonte, eine Falle eingebaut, wie ihr schien. Meine Mutter war der Ansicht, dass Dada die Krankheit ihres Mannes als Bestrafung durch eine höhere Macht betrachtete.

      Als wir unter uns waren, meinte Doro: „Deine Tante ist zweigeteilt. Sie teilt einerseits Onkel Karls reaktionären Ansichten, ist allerdings in der Realität der faschistischen Niederlage angekommen. Nach dem Krieg bewunderte sie seine neue Funktion und den neuen sozialen Rang und war ihm zugleich als herrischem Aufsteiger ausgeliefert. Nun sieht sie, wie sich andere Frauen aus der Vormundschaft der Männerwelt befreien. Eine ziemlich vertrackte Sache für diese Frau.“

      „Ich glaube, sie ist im tiefsten Inneren sehr verzweifelt. Sie wird ihn hassen, was sie aber nicht zugeben wird, noch nicht einmal vor sich selbst. Es widerspricht ihrer eingefleischten Führer-wir-folgen-dir-Mentalität. Einen Mann im Rollstuhl sitzen lassen – das macht man nicht, auch wenn er noch so ekelig ist. Der arme Gerd!“

      Ich bedauerte meinen Cousin, der immer schon ein unterwürfiges Kerlchen war, geduckt und schleimend. Er musste das alles mitansehen, das eheliche Drama live erleben. Vielleicht würde er selbst bald heiraten und von seiner Ursprungsfamilie den Absprung schaffen. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass konservative Familienstrukturen die eher zurückhaltend veranlagten Familienmitglieder in unsichtbare Fesseln zwangen. Da lobte ich mir meine kleine sozialistische Freiheit.

      Doro und ich streiften jetzt die negativen Eindrücke über „die Alten“ ab, denn es weihnachtete sehr; lieber nahmen wir an den üblichen christ-kindlichen Ritualen unserer Eltern teil. Als Kinder fanden wir das toll, aber jetzt schien es uns wirklich ein wenig infantil. Da gab es das umständlich-stilvolle Verpacken der Geschenke und das Geschenke-Versteckspiel vor Heilig Abend. Dann gab es das auf der Treppe verstreute Lametta als Beweis für die Existenz der dahergeflogenen Engelchen, die ihr Silberhaar verloren hatten.

      Da war das von den Eltern handgeschüttelte Glockengeläut, gefolgt vom Plattenspieler, der Rille für Rille „Stille Nacht, heilige Nacht“ und „Ihr Kinderlein kommet“ abspielte. Beide Lieder, wie auch die darauffolgenden, wurden von einigen familiären Gesangsgrößen mitgesungen. Otto, mein Vater, war der treibende Bariton; in Doros Familie war es die Mutter, sie übernahm die Rolle der Vorsängerin, während Doros Vater Helmut sich mehr im Sprechgesang übte, ein früher Rapper.

      Schließlich kam zu guter Letzt der Fotoapparat mit den teils defekten, teils funktionierenden Blitzlichtern zum Einsatz, gefolgt vom Streit um die richtige Hintergrund- und Motivzusammenstellung. Dann kam der von den unfreiwilligen Fotomodellen halb aus dem Christbaumständer gedrückte Weihnachtsbaum ins Spiel, der hart am Kippen war und schnell wieder ins rechte Lot gebracht werden musste, bevor die Wachskerzen den Baum zum Brennen brachten und das erste Foto geschossen wurde. Dann musste nur noch der Selbstauslöser funktionieren, was selten geschah, sodass die ersten Kerzen am Baum erloschen und das Spiel von vorne begann.

      Da wir nun schon in Frankfurt zu Gast waren, besuchten Doro und ich an Silvester den Club Voltaire, wo wir auf gute alte Frankfurter Freunde trafen – Hörbi und Chrissi, die nun auch in


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