Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl

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Ströme meines Ozeans - Ole R. Börgdahl


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5. November 1893

      Es ist fast schon ein Wunder, wenn Victor an einem Sonntag keinen Dienst hat. Wie lange ist es her, dass wir an einem Wochenende etwas unternommen haben. Wir wollten den Eltern natürlich etwas bieten und so haben wir den Zug nach Vaux-de-Cernay genommen und sind von dort bis zum Kloster gewandert. Am Vormittag war es sogar noch sonnig, erst später zogen dunkle Wolken auf. Als es schlimmer wurde und zu regnen drohte, haben wir uns in ein nettes Lokal im Dorf geflüchtet.

      Paris, 11. November 1893

      Ich glaube, am Gare du Nord kennen mich die Schaffner und Bahnvorsteher bereits, so oft, wie ich dort jemanden verabschiede. Mutter und Vater sind wieder auf dem Weg nach Gayton. In Le Havre dürften sie jetzt schon ihre Fähre erreicht haben. Victor muss für das vergangene Wochenende büßen und verrichtet seinen sinnlosen Dienst in der Kaserne.

      Paris, 10. Dezember 1893

      Es ist ungeheuerlich, abscheulich, monströs. Die letzten beiden Worte verwendet der Figaro für das, was gestern im Palais Bourbon geschehen ist. Die Dritte Republik ist nicht mehr sicher, die Nationalversammlung, unsere Volksvertreter wurden angegriffen und verletzt. Ich habe nichts gegen Protest, nichts gegen Meinungsäußerung, aber sie darf nicht in brutaler Gewalt münden. Nein, es war kein Protest, es war ein Verbrechen. Die Täter können nur froh sein, dass sie ihr Gewissen nicht mit einem Menschenleben belastet haben. Ich glaube jedoch, solche Individuen besitzen gar kein Gewissen, keinen Anstand und keine Moral. Hier jetzt die Einzelheiten, wie ich sie aus dem Figaro zitiere, der erschreckend detailliert ist, weil einer seiner Journalisten als Augenzeuge zur Verfügung stand. Gestern, gegen vier Uhr am Nachmittag wurde von der Zuschauertribüne in der zweiten Galerie ein Gegenstand in die Menge der tagenden Parlamentarier geworfen. Der Gegenstand war eine Bombe, die explodierte, sodass Nägel und andere Metallteile in den Saal geschossen wurden. Ich erschauere, wenn ich daran denke, in einen solchen Hagel Fleisch zerfetzender Teile zu geraten. Es wird von schlimmen Verletzungen der Anwesenden geschrieben, Wunden an den Gliedmaßen, an Kopf und Brust. Das Palais Bourbon wurde sofort abgeriegelt und die, die es verlassen wollten, ob Attentäter oder Opfer, wurden mit Namen und Adresse polizeilich erfasst. Es gibt auch schon eine Gruppe von Tätern, die erkannt wurden. Eine Tat mildert sich nicht, weil die Täter verhaftet wurden, aber es ist der erste Schritt zur Abstrafung des Verbrechens. Victor spricht von Anarchisten, von dieser Gefahr, die in den letzten Jahren immer mehr in den Blickpunkt rückt und das Land und die Obrigkeit herausfordert. Jetzt gesteht er mir das Vorkommen weiterer Bombenattentate, die sich letztes Jahr im März ereignet haben und von denen neben zwei Wohnhäusern auch eine Kaserne getroffen wurde. Ich habe gefragt, welche. Victor hat nur geantwortet, dass er nicht in Gefahr gewesen sei. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Gazetten im letzten Jahr über derartige Vorfälle berichtet haben. Mag sein, dass ich es nicht wahrgenommen habe. Jetzt will ich aufmerksamer sein, aber es bedrückt mich. Ich hoffe nur, es wird einmal genug sein und dass wieder Ruhe einkehrt.

      Paris, 17. Dezember 1893

      Wir haben den dritten Advent. Das Jahr neigt sich dem Ende zu und auch im Strand Magazine von diesem Monat wurde der wohl letzte Fall von Sherlock Holmes veröffentlicht. Diese Endgültigkeit resultiert aus der Tatsache, dass Mr. Holmes nicht mehr unter den Lebenden weilt. Der Schriftsteller hat seinen Helden sterben lassen. Obwohl es nur fiktive Geschichten sind und kein wirklicher Mensch ums Leben gekommen ist, bin ich etwas traurig um dieses Ende. Schade, so bleibt mir nur, die Geschichten und Romane ein zweites oder drittes Mal zu lesen, um vielleicht noch die Dinge zu entdecken, die mir bei den Malen zuvor entgangen sind.

      Paris, 23. Dezember 1893

      Heute wurde im Petit Journal noch einmal groß über das Bombenattentat vom 9. Dezember berichtet. Auf der Titelseite prangte eine schreckliche Skizze, die in ihrer farbigen Ausmalung die Tat verdeutlicht. Die Bombe ist dargestellt wie ein Stern, der mit seinen Strahlen die verletzenden Geschosse in alle Richtungen treibt. Seit einiger Zeit ist auch der Name des Täters der Öffentlichkeit bekannt. Es ist der mittellose Handwerker und Streuner Auguste Vaillant. Sein Name geht jetzt überall in Paris um. Der Prozess gegen ihn ist bereits angestrengt. Es fragt sich nur, wie die Tat gesühnt werden muss. Es hat zum Glück keine Menschenleben gekostet, Vaillant ist somit also auch kein Mörder. Victor meint aber, dass die Tat auch ohne Todesopfer außerordentlich verwerflich sei und nur die Höchststrafe gefordert werden kann. Es war ein Angriff auf die Republik, auf Frankreich, auf die Vertreter des Volkes. Vaillant hatte großes Glück, weil alle Verletzten mit dem Leben davongekommen sind. Ob dies seine Absicht war, ist nicht klar, und ob es bei seiner Verurteilung in die Waage gelegt wird, ist ebenfalls noch offen.

      1894

      Paris, 10. Januar 1894

      Weihnachtsgrüße aus Amerika. Diesmal hat Jacques geschrieben. Pierre und er sind in New York. Mutter hatte es schon über Tante Carla erfahren. Onkel Joseph musste ihnen nun doch etwas Geld schicken. Jetzt soll es aber schon bessergehen. Seit ein paar Wochen arbeiten sie im Hafen, leider keine Büroarbeit, wie es sich die beiden über kurz oder lang wünschen. Für Pierre wird dies aber schwer, weil er noch immer nicht gut genug Englisch spricht. Zunächst haben sie sich aber an die körperliche Arbeit gewöhnt und machen natürlich alles, um Geld zu verdienen. In New York ist es jetzt auch sehr kalt, Winter eben. Jacques berichtet aber, dass es in Kalifornien, an der amerikanischen Westküste, das ganze Jahr über schön sein soll.

      Paris, 26. Januar 1894

      Jeannette wurde heute von einem Gendarmen nach Hause gebracht. Ihre Lippe war blutig und sie war auch noch ganz benommen. Es ist in der Fischhalle beim Großmarkt passiert. An einem der Stände hat sie unseren Fisch kaufen wollen. Die Marktfrau hat ihr einen angeboten, den Jeanette aber nicht sehr frisch fand und darüber ist dann der Streit entbrannt. Am Ende hat die Marktfrau doch tatsächlich mit dem Fisch auf unsere arme Jeanette eingeschlagen und sie verletzt. Die Polizei wurde gerufen und es soll auch noch ein Handgemenge mit den anderen Marktfrauen gegeben haben, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Ich habe Jeanette eben zum Arzt gebracht, die Lippe ist noch dick und mit Jod bestrichen. Es sieht nicht sehr vorteilhaft aus, aber Jeanette hat sich schon wieder beruhigt. Sie will auch niemanden anzeigen. Der Gendarmen hatte es ihr angeboten. Ich weiß auch nicht, was sie machen soll, aber vielleicht ist es ganz gut, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

      Paris, 14. Februar 1894

      Ich wollte eigentlich gar nicht mehr über das Thema schreiben und habe mich während des Prozesses gegen Auguste Vaillant auch erfolgreich zurückgehalten. Vor wenigen Tagen wurde aber das Urteil verkündet und dann auch am 5. Februar vollstreckt. Victor hatte recht, es ist die Guillotine geworden. In der Presse war noch zu lesen, dass Vaillants Tochter ein Begnadigungsgesuch an Madame Carnot gerichtet hat, dies aber ohne Erfolg, obwohl es namhafte Befürworter gab. Ich glaube, es ist richtig, einen anarchistischen Attentäter hart zu bestrafen, um die Anarchisten generell in die Schranken zu verweisen. Das Attentat vom 9. Dezember hat jedenfalls auch ein Echo im Ausland gefunden. Einige Exemplare der New York Times haben den Weg nach Paris gefunden, durch Zufall habe ich in einem Café die Ausgabe vom 6. Februar entdeckt und den Artikel gelesen. Die Amerikaner interessiert wohl mehr, wie die Strafe vollstreckt wurde, denn dies war minutengenau in der New York Times zu lesen. Der Grund aber, warum ich die Anarchie in Paris noch einmal erwähne, ist ein beängstigender Vorfall. Meine Gebete wurden nicht erhört. Gestern ist eine Bombe in einem Café am Gare Saint-Lazare explodiert. Diesmal hat es Menschenleben gekostet. Der Figaro schreibt von einer Frau, die getötet wurde und von weiteren zwanzig Personen, die Verletzungen erlitten haben.

      Paris, 16. Februar 1894

      Es gibt immer wieder neue Schlagzeilen und eine neue Bombe und das alles innerhalb nur weniger Wochen. Diesmal war nicht Frankreich das Ziel, nein, schlimmer, das königliche Observatorium in London. Schlimmer deswegen, weil ein französischer Anarchist dem Ansehen unserer Nation einen beschämenden Dienst erwiesen hat. Die


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