Digitale Evolution, Revolution, Devolution?. Brendan Erler

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Digitale Evolution, Revolution, Devolution? - Brendan Erler


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Diskursanalyse. Ziel ist es, soweit möglich, die einzelnen Deutungsmuster und Interpretationsrepertoires zum Abschluss abstrahierend zu dem oder den Diskursen zu verdichten und somit den diskursiven Widerstreit oder Kulturkampf um kulturelle Hegemonie und die Konstruktion des Phänomens „Digitalisierung“[22] am Beispiel der Musik- und Literaturbranche zu illustrieren.

      2.3.3 Analyseerfahrungen und Darstellung der Ergebnisse

      Einige Anmerkungen zu den gemachten Codier- und Analyseerfahrungen und der Darstellung der Ergebnisse: Die Präsentation der Ergebnisse der praktizierten Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Da nahezu alle Themen in irgendeiner Weise mit Fragen des Urheberrechts verbunden sind, stellt sich erstens die Frage nach dem Grad vor allem juristischer Details im Spagat der Notwendigkeit ausreichender Information ohne den Anspruch einer juristischen Arbeit. Um ein Verständnis für die Bedeutung der unterschiedlichen Diskurse zu erhalten, ist ein notwendiges Maß an Kontextwissen selbstredend von Nöten. Gleichzeitig erfordert dieser Kontext nicht zwingend ein Abtauchen in die Untiefen juristischer „Paragraphenreiterei“. Somit wird zu allen identifizierten Diskursereignissen eine bündige Einführung zu den Hauptstreitpunkten (im Falle von Gesetzen), dem Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens und den wesentlichen Konfliktparteien vorangestellt. Wenngleich viele der angeführten Paragraphen für die eigentliche Diskursanalyse keine größere Rolle spielen, so soll der Leser, falls nicht schon der Fall, über den „Stand der Dinge“ ins Bild gesetzt werden.

      Zweitens bleibt das Problem der schriftlichen Darstellung der Codierergebnisse. Die zu Diskursen abstrahierten Codierungen werden an Einzelfällen (Zitaten) belegt. Dies erweckt schnell den Eindruck einer Nacherzählung, stellt aber das Ergebnis umfassender Codier-arbeit, Aggregations- und Abstraktionsarbeit dar. In diesem Sinne sind sie „stilisiert, sie haben idealtypischen Charakter, von dem empirische Diskursfragmente mehr oder weniger weit abweichen“ (Keller 2009, 61). Die einführenden „Zitatteppiche“ dienen dabei als konkrete sprachliche Belege der Debatte sowie als abstrahierte Reinformen der einzelnen Diskurspunkte, um ein Gefühl für die spezifischen Argumentationsweisen zu erhalten, die dann mit einer Einordnung in die grundlegenderen Interpretationsmuster und diskursiven Strukturen unterfüttert werden. Zentrale Argumentationsmuster, Diskurselemente und Topoi werden zur Veranschaulichung fett markiert. Diskursmuster, wie der Glauben an „digitale Evolution“ oder das „Versagen der Industrie“, die abstrahierte Etiketten des Forschers und weniger stehende Begriffe im Diskurs darstellen, werden als Abstraktionen weder in Überschrift noch Fließtext in Anführungszeichen gesetzt. Die darin enthaltenen Wertungen entsprechen nicht der Meinung des Forschers. Eigene Positionen werden als solche deutlich gemacht. Schon ein- und ausgeführte typische Diskursfragmente in den einzelnen Unterkapiteln werden in den folgenden Zeitblöcken eher komprimiert dargestellt und ein Fokus auf Unterschiede und Neuerungen gelegt.

      Je grundsätzlicher die Diskurselemente werden, umso mehr überschneiden sich die Punkte im Musik- Literatur- und Urheberrechtsdiskurs und ähneln den Mustern des abstrahierten Metadiskurses zur Fragen von Digitalisierung, Kultur und Urheberrecht. Auch diese Diskursmuster werden trotz Wiederholungen in den Subdiskursen ausgeführt, um ein vollständiges Bild zu zeichnen, einen interdiskursiven Vergleich zu ermöglichen und zu belegen, wie sehr die Einzeldiskurse auf das Basisrepertoire des Metadiskurses zurückgreifen. Der Metadiskurs stellt sozusagen die Essenz der Diskursanalyse dar, indem anhand besonders aufschlussreicher und grundsätzlicher Schlüsseltexte die den Einzeldebatten zugrundeliegenden divergierenden gesellschaftlichen Grundannahmen am deutlichsten zum Vorschein kommen.

       2.4 Diskursive Konstruktion von Wirklichkeit

      Studiendesign und Forschungsfragen basieren auf der Prämisse diskursiver Konstruktion von Wirklichkeit: „Diskurse produzieren, formen ihre Gegenstände, Objekte, indem sie entlang ‘machtvoller Regeln‘ über sie sprechen, und indem die jeweiligen diskursiven Praktiken bestimmen, was in welchem Diskurs gesprochen, was verschwiegen, was als wahr anerkannt und als falsch verworfen wird“ (Hirseland / Schneider 2001, 374), oder mit Foucault Praktiken, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben“ (Foucault 1981, 74). Somit spielen sie eine wichtige Rolle bei der gesellschaftlichen Konstruktion der „Ordnung der Dinge“ und dienen daher als Forschungsobjekte zur Analyse des Deutungskampfes um Wirklichkeit. Es wird nicht „die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens […] bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, dass sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten“ (Laclau / Mouffe 2000, 144).[23]

      Die Konsequenz dieser konstruktivistischen und kulturalistischen Weltsicht für „Philosophie und sozialwissenschaftliche Praxis kann nicht überschätzt werden. Seit der Aufklärung war die akzeptierte Aufgabe der »Wissenschaften« eine objektive, unparteiliche, rationale und wahrheitsgetreue Darstellung oder Wissensansammlung über die Welt“ (Hall 2002, 108). Dementsprechend ist nicht die Suche nach der ultimativen, einen Wahrheit das Ziel - „Foucault verabschiedet […] alle Vorstellungen einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung im Sinne ständig fortschreitender Wahrheitsfindung“ (Keller 2008, 106) - sondern die Analyse der temporäre Konstruktion von Wahrheit und Wissen: „Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht“ (Foucault, 1974, 34). Dementsprechend ist die „Wissensordnung […] keine ‘Darstellung‘ einer vordiskursiven Wirklichkeit“ (Diaz-Bone 2005, 186).

      In diesem Sinne ist sie antiessentialistisch. Nicht das „natürliche Wesen“ ist von Bedeutung, sondern die gesellschaftliche Zuweisung von zeitweise stabilen Bedeutungsmustern. Die Konstruktion der Wissensordnung bedingt die Kontingenz des Wissens. Information wächst im Laufe der Zeit und Geschichte [24], aber dieses akkumulierte Wissen wächst nicht linear auf dem Weg zu absoluter Erkenntnis. Phänomene (Digitalisierung) erfahren ihre konkrete Gestalt erst im Lichte des Diskurses. Dementsprechend sind die Phänomenkonstitution, die Problemdefinition und daraus abgeleitete Lösungsansätze keine Frage objektiver Wirklichkeit, sondern diskursiver Wirklichkeitskonstruktion. [25] Diese gilt es zu analysieren.

      Die zu diesem Zweck praktizierte Diskursanalyse folgt den Prämissen einer von Foucault inspirierten und um handlungstheoretische Elemente erweiterten Diskurstheorie[26] in Anlehnung an die von Reiner Keller elaborierte Form einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse: „Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit Prozessen und Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene der institutionellen Felder der Gegenwartsgesellschaften. Ihr Forschungsgegenstand ist - mit anderen Worten - die Produktion und Transformation gesellschaftlicher Wissensverhältnisse durch Wissenspolitiken, d.h. diskursiv strukturierte Bestrebungen sozialer Akteure, die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutungen als Faktizität durchzusetzen. Sie begreift damit sozialen Wandel nicht nur als sozialstrukturellen Prozess, sondern als Verschiebung von Wissensregimen“ (Keller 2008, 192f.).

      Im Gegensatz zu Diskurstheorien, die „allgemeine theoretische Grundlagenperspektiven auf die sprachförmige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit von Welt entwickeln, konzentrieren sich Diskursanalysen auf die empirische Untersuchung von Diskursen. Mit dem Begriff der Diskursanalyse wird allerdings keine spezifische Methode, sondern eher eine Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände bezeichnet. Was darunter konkret, im Zusammenhang von Fragestellung und methodisch-praktischer Umsetzung verstanden wird, hängt von der disziplinären und theoretischen Einbettung ab“ (Keller 2004, 8). Wesentlich sind hierbei folgende Aspekte: Realität und Wahrheit sind gesellschaftliche Konstrukte, keine objektiven, messbaren und verifizierbaren (wie im klassischen Positivismus / Rationalismus) oder falsifizierbaren (wie im kritischen Rationalismus) Tatbestände. Im Unterschied zum sozialen Konstruktivismus in der Tradition von Berger / Luckmann („social construction of reality“) geht die wissenssoziologische Versionen der Diskursanalyse von einer „diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit“ aus und betont auf diese Weise den von Berger / Luckmann vernachlässigten und von Foucault betonten Machtcharakter von Wissen und Macht.


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