Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel


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in das Inferno einer untergehenden Welt. Aber auch in dieser Welt hält man sich an Rituale. Dazu gehört auch Weihnachten.

       Bestemor mit uns auf der Treppe zum Gutshaus

      Weihnachten 1944

      Im Gutshaus ist man geschäftig. Es wird gekocht und geba­cken. Ein zarter Duft nach Zimt, Zucker und Weihnachtsplätzen streicht durch die Gänge des Gutshauses. Lockt uns in die große, warme Küche. Hans und Grete backen und werkeln „wie in Friedenszeiten“. Sie schöpfen aus den reichen Vorräten in Kellern und Kammern des Hauses. Einige Offiziere stecken ihre Köpfe im Herrenzimmer über Landkar­ten zusammen vernebeln den ganzen Salon mit Zigarrenrauch, aber die meisten der Offiziere sind auf Heimaturlaub. Von hier in Eichenwalde lässt sich der Krieg nun wohl nicht mehr gewinnen. Tante Inge ist es langweilig, sie schikaniert die Zwangsarbeiter und das andere Personal. „Wenn mein Mann zu Weihnachten kommt, muss alles picobello sein!“ Die Anspannung im Haus ist nicht nur wegen des bevorstehenden Festes, es sind auch schon andere Zeichen, die die kleine Gruppe bedrohen. Erste Flüchtlingstrecks ziehen auf der zwei Kilometer entfernten Hauptstraße vorbei. Tante Inge nennt sie spöttisch: „Fahnenflüchtige Flüchtlinge.“ Und „Ich verlasse dieses Haus nicht, da können noch so viele Russen kommen ...“ Frau Sommer, ihre Schwiegermutter schüttelt nur den Kopf, packt heimlich schon ihre wichtigsten Sachen. Mutter bereitet mit ihrem dicken Bauch Weihnachten vor. Sie ahnt nicht, dass es unser letztes Fest in Pommern ist.

      Auf den Speichern Eichenwaldes finden sich Spielsachen, die dort seit Generationen vor sich her rotten. Sie werden runter geholt, frisch angemalt, Teddys bekommen neue gehäkelte Hosen über den mor­schen Bauch, Puppenkörper werden aus alter Unterwäsche genäht und mit neuen Lumpen-Kleidchen geschmückt.

      Ich freue mich wie verrückt auf Weihnachten und die Geschenke. Ich habe nämlich gesehen, wie Mutter heimlich ein komisches Ding aus ihrer rosaroten Unterhose näht. Vor Spannung kann ich es fast nicht aushalten. Ich wünsche mir sehnlichst eine Puppe. Jetzt im Winter spielen wir meistens drinnen und da fehlt mir eine Puppe für das beliebte Vater-Mutter-Kind-Spiel. Christian weigert sich, unser Baby zu spielen. Nicht mal gewickelt oder gefüttert will er werden. Ich brauche also dringend eine Puppe. Ich bin sicher, ich bekomme eine Puppe, sonst hätte Mutter ja ihren Schlüpfer nicht zerschnitten.

      Der Heilige Abend schaltet den Krieg für ein paar Stunden aus. In der Ecke unseres kleinen Wohn-Schlafzimmers steht eine knubbelige Fich­te. Den Schmuck haben wir aus Buntpapier selbst gebastelt. Ich bin stolz auf meine kleinen Koffer aus leeren Streichholzschachteln, aus de­ren Seiten ein bisschen Watteschnee ragt. Sie hängen bunt und lustig in den grünen Zweigen. Die langen Ketten aus farbigen Papierringen umgarnen das Bäumchen wie ein Spinnennetz. Arne hat sie gemacht und sie sind sicherlich einige Meter lang. Als Kleber nehmen wir Mehl mit Wasser, hält prima. Kerzen für den Baum konnte Mutter nicht auftreiben. Uns fehlen sie nicht. So viele Weihnachten haben wir noch nicht erlebt, dass wir bestimmte Rituale vermissen. Wir singen: „Ihr Kinderlein kommet“ und „Oh, du fröhliche“ und dann ist Bescherung.

      Arne bekommt eine tolle Eisenbahn, Mutter hatte sie von Frau Som­mer geschenkt bekommen und bunt angemalt. Christian beglückt ein gelber Kran­wagen aus der gleichen Quelle und für mich bleiben ein paar blaue Stoffschuhe mit roter Holzsohle. Meine Enttäuschung ist maßlos. Denn die Schachtel sah doch aus, als wenn da eine Puppe rein passte! Schuhe in der Schachtel, die ich ausgepackt habe! Schuhe! Mit roten Holzsohlen ... Ich zieh sie an und trete Christian ans Schienbein. Er schreit und ich krieg eine geknallt. Heiliger Abend!

      Garantiert hat man mich in der Klinik verwechselt, da bin ich mir jetzt aber wirklich sicher. Ein eigenes Kind quält man nicht so. Arne hat Muttis Locken, Christian ihre Grübchen und beide haben dunkle Haare wie sie. Nur ich bin blond, blauäugig und blöd, wie meine Brüder meinen. Und wenn ich meine Familie betrachte, Großmutter Martha Anna ist klein, faltig und o-beinig, Bestemor, also Martha Wilhelmine ist groß und dick und Großvater hat eine Glatze. Und das zerknitterte Passbild vom Vater, das Mutter immer mit sich rumschleppt, hat auch keine Ähnlichkeit mehr mit mir. Nee, mit denen habe ich nichts zu tun.

      Ich will weinen. Aber ich weiß: Ein deutsches Mädchen muss tapfer sein und es ist Krieg und da jammert man nicht rum. Ich muss, wie alle auf den Frieden warten. Was auch immer das ist, Frieden. Und bis dahin sollte ich meinen Kummer runter schlucken.

      „Freust du dich denn gar nicht?“ fragen Mutter und Emma hinterhältig und genießen meine Verzweiflung. Ich drehe ihnen den Rücken zu und spiele mit einem roten Apfel, der am Baum hängt. Ich tu, als höre ich sie nicht. Weihnachten ist blöd. Nie wieder mag ich Weihnachten und im Sommer, wenn es nicht mehr so kalt ist, suche ich meine richtigen Eltern, jawolllll!

      „Ja, dann guck doch hinter den Sessel!“

      Ich zögere, dann schaue ich durch meine Tränen hinter den sperrigen, roten Plüschsessel und da ist das Glück! Ein kleines weißes verschnörkeltes Himmelbettchen. Darin liegt sie, meine Puppe. Ein süßer, zart schimmernder Porzellankopf, Schlafaugen mit langen Wimpern. Bauch, Arme und Beine sind aus weichem, rosafarbenem Trikotstoff, aus Muttis Höschen. Hab ich doch richtig gesehen, als sie das genäht hat. Als ich sie fragte, was sie da macht, sagte sie: „Nix, und sei nicht so neugierig!“

      Hab ich aber doch genau gesehen, das waren Arme, Beine und Bauch und nicht Babysachen.

      Aber ich kann mich komischerweise über die Puppe und das süße Bettchen nicht freuen.

      „Ihr seid gemein!“ ich laufe aus dem Zimmer. Meine neuen Holzsohlen hallen im Flur wie Flakfeuer. Klack, klack, klack.

      Ich heule mich erst mal richtig aus. Großmutter Sommer setzt sich zu mir auf die Stufen und nimmt mich ganz still in den Arm, bis ich mich beru­higt habe. Auch sie ist an diesem Abend unglücklich, schließlich war sie die Herrin des Gutshofs. Jetzt ist sie nur noch lästige Schwiegermutter, die beim Treiben drinnen im Salon nur stört.

      Als ich dann zurück klappere und trotzig so tun will, als würde ich mich über Puppe und Bettchen nicht freuen, halte ich das nicht lange durch. Selig schließe ich mein Baby in die Arme und in glücklich wie noch nie in meinem kurzen Leben. Die Puppe hat mir aber noch viel Kummer gemacht.

      Mit dem Fahrrad ins Wochenbett

      Wenn mich etwas nervt, werde ich hysterisch und ausgesprochen ungerecht gegen alle und mich. Mutter wurde sehr laut oder ganz still. Je schwieriger die Situation war, desto stiller wurde sie. Sie hat den Fatalismus erfunden und nichts und niemand konnte sie von ihrer stoischen Ruhe abbringen, wenn sie wusste, an der Situation jetzt ist nichts zu ändern. Sie nahm die Dinge, wie sie sind, jammerte nicht viel rum.

      „Jammern macht nicht satt!“ sie ist durch und durch pragmatisch.

      Sie und ihr Hans hatten sich immer einen Stall voll Kinder gewünscht. Jetzt meldet sich Kind Nummer vier. Großmutter hatte versprochen, zum Geburtstermin des unerwünschten neuen Enkelkindes anzureisen und zu helfen. Nun ist es aber noch acht Wochen hin bis zum errechneten Termin und die Fahr- und Telefonverbindungen klappen auch nicht mehr richtig.

      Tante Inge bedauert süffisant, sie kann niemanden als Begleitung für Hanna entbehren. Autos sind beschlagnahmt für die Offiziere. Inge lächelt aufmunternd:

      „Das schaffst du schon. Das sind bestimmt nur Senkwehen, das kennst du doch von all deinen vielen Schwangerschaften. Du bist doch sonst auch nicht zimperlich! Nimm das Fahrrad von Karl-Hans und schenke dem Führer noch ein Kind, dann kriegst du ja auch das Mutterkreuz!“

      Hanna stülpt sich stumm die eben fertig gewordene rote Häkelmütze über die Locken, wickelt den Schal mit der Öse zum Durchschieben des anderen Endes um den Hals. Sie wendet sich ab, schaut keinen an, verabschiedet sich nicht von uns und geht hinaus.

      Es wird schon früh dunkel an diesem 12. Januar 1945 über dem tief verschneiten Land. Mühsam kämpft Hanna sich auf dem Herrenfahrrad über


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