Die Welt von gestern. Stefan Zweig

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Die Welt von gestern - Stefan Zweig


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Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz. Redlich meinten sie, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsame Humane und damit Friede und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt sein.

      Es ist billig für uns heute, die wir das Wort ›Sicherheit‹ längst als ein Phantom aus unserem Vokabular gestrichen haben, den optimistischen Wahn jener idealistisch verblendeten Generation zu belächeln, der technische Fortschritt der Menschheit müsse unbedingterweise einen gleich rapiden moralischen Aufstieg zur Folge haben. Wir, die wir im neuen Jahrhundert gelernt haben, von keinem Ausbruch kollektiver Bestialität uns mehr überraschen zu lassen, wir, die wir von jedem kommenden Tag noch Ruchloseres erwarteten als von dem vergangenen, sind bedeutend skeptischer hinsichtlich einer moralischen Erziehbarkeit der Menschen. Wir mußten Freud recht geben, wenn er in unserer Kultur, unserer Zivilisation nur eine dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Kräften der Unterwelt durchstoßen werden kann, wir haben allmählich uns gewöhnen müssen, ohne Boden unter unseren Füßen zu leben, ohne Recht, ohne Freiheit, ohne Sicherheit. Längst haben wir für unsere eigene Existenz der Religion unserer Väter, ihrem Glauben an einen raschen und andauernden Aufstieg der Humanität abgesagt; banal scheint uns grausam Belehrten jener voreilige Optimismus angesichts einer Katastrophe, die mit einem einzigen Stoß uns um tausend Jahre humaner Bemühungen zurückgeworfen hat. Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute. Und etwas in mir kann sich geheimnisvollerweise trotz aller Erkenntnis und Enttäuschung nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar. Und trotz allem und allem, was jeder Tag mir in die Ohren schmettert, was ich selbst und unzählige Schicksalsgenossen an Erniedrigung und Prüfungen erfahren haben, ich vermag den Glauben meiner Jugend nicht ganz zu verleugnen, daß es wieder einmal aufwärts gehen wird trotz allem und allem. Selbst aus dem Abgrund des Grauens, in dem wir heute halb blind herumtasten mit verstörter und zerbrochener Seele, blicke ich immer wieder auf zu jenen alten Sternbildern, die über meiner Kindheit glänzten, und tröste mich mit dem ererbten Vertrauen, daß dieser Rückfall dereinst nur als ein Intervall erscheinen wird in dem ewigen Rhythmus des Voran und Voran.

      Heute, da das große Gewitter sie längst zerschmettert hat, wissen wir endgültig, daß jene Welt der Sicherheit ein Traumschloß gewesen. Aber doch, meine Eltern haben darin gewohnt wie in einem steinernen Haus. Kein einziges Mal ist ein Sturm oder eine scharfe Zugluft in ihre warme, behagliche Existenz eingebrochen; freilich hatten sie noch einen besonderen Windschutz: sie waren vermögende Leute, die allmählich reich und sogar sehr reich wurden, und das polsterte in jenen Zeiten verläßlich Fenster und Wand. Ihre Lebensform scheint mir dermaßen typisch für das sogenannte ›gute jüdische Bürgertum‹, das der Wiener Kultur so wesentliche Werte gegeben hat und zum Dank dafür völlig ausgerottet wurde, daß ich mit dem Bericht ihres gemächlichen und lautlosen Daseins eigentlich etwas Unpersönliches erzähle: so wie meine Eltern haben zehntausend oder zwanzigtausend Familien in Wien gelebt in jenem Jahrhundert der gesicherten Werte.

      Die Familie meines Vaters stammte aus Mähren. In kleinen ländlichen Orten lebten dort die jüdischen Gemeinden in bestem Einvernehmen mit der Bauernschaft und dem Kleinbürgertum; so fehlte ihnen völlig die Gedrücktheit und andererseits die geschmeidig vordrängende Ungeduld der galizischen, der östlichen Juden. Stark und kräftig durch das Leben auf dem Lande, schritten sie sicher und ruhig ihren Weg wie die Bauern ihrer Heimat über das Feld. Früh vom orthodox Religiösen emanzipiert, waren sie leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ›Fortschritts‹ und stellten in der politischen Ära des Liberalismus die geachtetsten Abgeordneten im Parlament. Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, paßten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr persönlicher Aufstieg verband sich organisch dem allgemeinen Aufschwung der Zeit. Auch in dieser Form des Übergangs war unsere Familie durchaus typisch. Mein Großvater väterlicherseits hatte Manufakturwaren vertrieben. Dann begann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die industrielle Konjunktur in Österreich. Die aus England importierten mechanischen Webstühle und Spinnmaschinen brachten durch Rationalisierung eine ungeheure Verbilligung gegenüber der altgeübten Handweberei, und mit ihrer kommerziellen Beobachtungsgabe, ihrem internationalen Überblick waren es die jüdischen Kaufleute, die als erste in Österreich die Notwendigkeit und Ergiebigkeit einer Umstellung auf industrielle Produktion erkannten. Sie gründeten mit meist geringem Kapital jene rasch improvisierten, zunächst nur mit Wasserkraft betriebenen Fabriken, die sich allmählich zur mächtigen, ganz Österreich und den Balkan beherrschenden böhmischen Textilindustrie erweiterten. Während also mein Großvater als typischer Vertreter der früheren Epoche nur dem Zwischenhandel mit Fertigprodukten gedient, ging mein Vater schon entschlossen hinüber in die neue Zeit, indem er in Nordböhmen in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr eine kleine Weberei begründete, die er dann im Laufe der Jahre langsam und vorsichtig zu einem stattlichen Unternehmen ausbaute.

      Solche vorsichtige Art der Erweiterung trotz einer verlockend günstigen Konjunktur lag durchaus im Sinne der Zeit. Sie entsprach außerdem noch besonders der zurückhaltenden und durchaus ungierigen Natur meines Vaters. Er hatte das Credo seiner Epoche ›Safety first‹ in sich aufgenommen; es war ihm wesentlicher, ein ›solides‹ – auch dies ein Lieblingswort jener Zeit – Unternehmen mit eigener Kapitalkraft zu besitzen, als es durch Bankkredite oder Hypotheken ins Großdimensionale auszubauen. Daß zeitlebens nie jemand seinen Namen auf einem Schuldschein, einem Wechsel gesehen hatte und er nur immer auf der Habenseite seiner Bank – selbstverständlich der solidesten, der Rothschildbank, der Kreditanstalt – gestanden, war sein einziger Lebensstolz. Jeglicher Verdienst mit auch nur dem leisesten Schatten eines Risikos war ihm zuwider, und durch all seine Jahre beteiligte er sich niemals an einem fremden Geschäft. Wenn er dennoch allmählich reich und immer reicher wurde, hatte er dies keineswegs verwegenen Spekulationen oder besonders weitsichtigen Operationen zu danken, sondern der Anpassung an die allgemeine Methode jener vorsichtigen Zeit, immer nur einen bescheidenen Teil des Einkommens zu verbrauchen und demzufolge von Jahr zu Jahr einen immer beträchtlicheren Betrag dem Kapital zuzulegen. Wie die meisten seiner Generation hätte mein Vater jemanden schon als bedenklichen Verschwender betrachtet, der unbesorgt die Hälfte seiner Einkünfte aufzehrte, ohne – auch dies ein ständiges Wort aus jenem Zeitalter der Sicherheit – ›an die Zukunft zu denken‹. Dank diesem ständigen Zurücklegen der Gewinne bedeutete in jener Epoche steigender Prosperität, wo überdies der Staat nicht daran dachte, auch von den stattlichsten Einkommen mehr als ein paar Prozent an Steuern abzuknappen und andererseits die Staats und Industriewerte hohe Verzinsung brachten, für den Vermögenden das ImmerreicherWerden eigentlich nur eine passive Leistung. Und sie lohnte sich; noch wurde nicht wie in den Zeiten der Inflation der Sparsame bestohlen, der Solide geprellt, und gerade die Geduldigsten, die Nichtspekulanten hatten den besten Gewinn. Dank dieser Anpassung an das allgemeine System seiner Zeit konnte mein Vater schon in seinem fünfzigsten Jahre auch nach internationalen Begriffen als sehr vermögender Mann gelten. Aber nur sehr zögernd folgte die Lebenshaltung unserer Familie dem immer rascheren Anstieg des Vermögens nach. Man legte sich allmählich kleine Bequemlichkeiten zu, wir übersiedelten aus einer kleinen Wohnung in eine größere, man hielt sich im Frühjahr für die Nachmittage einen Mietswagen, reiste zweiter Klasse mit Schlafwagen, aber erst in seinem fünfzigsten Jahr gönnte sich mein Vater zum erstenmal den Luxus, mit meiner Mutter für einen Monat im Winter nach Nizza zu fahren. Im ganzen blieb die Grundhaltung, Reichtum zu genießen, indem man ihn hatte und nicht indem man ihn zeigte, völlig unverändert; noch als Millionär hat mein Vater noch nie eine Importe geraucht, sondern – wie Kaiser Franz Joseph seine billige Virginia – die einfache ärarische Trabuco, und wenn er Karten spielte, geschah es immer nur um kleine Einsätze. Unbeugsam hielt er an seiner Zurückhaltung, seinem behaglichen, aber diskreten Leben fest. Obwohl ungleich repräsentabler und gebildeter als die meisten seiner Kollegen – er spielte ausgezeichnet Klavier, schrieb klar und gut, sprach Französisch und Englisch – hat er beharrlich sich jeder Ehre und jedem Ehrenamt verweigert, zeitlebens keinen Titel, keine Würde angestrebt oder angenommen, wie sie ihm oft in seiner Stellung als Großindustrieller angeboten wurde. Niemals jemanden um etwas gebeten zu haben, niemals zu ›bitte‹ oder ›danke‹ verpflichtet


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