Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole. H. G. Wells

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Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole - H. G. Wells


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Todes, den er nun auf sich nehmen muß, ebensosehr zum Heil der Welt wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld. Das sollte man ihm klar machen … Ich wünschte, es stünde nicht der Tod durch den Strang auf seinem Verbrechen. Der Henker ist barbarisch. Ein Schierlingsbecher wäre weit zivilisierter, ein besonnener Zeuge, der dabei sitzt, und eine freundliche Stimme, die tröstenden und stärkenden Zuspruch leistet.«

      »Wir werden so weit kommen«, sagte mein Onkel. »Fälle dieser Art werden immer seltener – in dem Maße eben, als wir toleranter werden und unser System sich bessert. Je zivilisierter wir werden, desto weniger Sorge, Kummer und Hoffnungslosigkeit wird es geben – desto weniger Ärmlichkeit, aus der solche Krisen entstehen. Aber auch weniger Strafen, wie wir sie jetzt verhängen. Es wird alles besser. Wenn du erst so alt sein wirst wie ich, Arnold, wirst du erkennen, daß alles stetig besser wird.«

      Er blickte auf seine Zeitung, schüttelte traurig den Kopf und schien unentschlossen, ob er weiter lesen sollte.

      Nein, er hatte einstweilen genug von der Zeitung. Er stand zerstreut auf, schritt zum Büfett und nahm sich noch einen Bückling …

      Er behauptete immer wieder, daß er während der ganzen Zeit seiner richterlichen Tätigkeit niemals einen wirklich schlechten Mann noch eine wirklich schlechte Frau verhört habe, sondern nur unwissende, in moralischer Hinsicht beschränkte und hoffnungslos verwirrte Geschöpfe. Der innere Widerspruch in seinem Wesen ist mir heute klar. Die Theologie, zu der er sich von Berufs wegen bekannte, war auf die Lehre vom Sündenfall aufgebaut, und er leugnete diesen Sündenfall jeden Tag. Was bedeutete Sünde für ihn? Die Sünde wich seiner Meinung nach vor der Zivilisation. In der Vergangenheit mochte es wirklich gottlose Sünden gegeben haben, doch war solches Unkraut so lange niedergehalten worden, daß es jetzt nur mehr sehr selten, wirklich nur mehr ganz selten vorkam. Die praktischen Belehrungen, die er erteilte, waren nicht vom Gedanken der Sünde, sondern von dem des unabsichtlichen Irrtums durchdrungen. Deshalb predigte er nicht. Die Menschen aufzuklären, dünkte ihn weit besser.

      Er lehrte mich, das Leben nicht zu fürchten. Furchtlos, ja völlig unbekümmert um die dunkelsten Ecken zu biegen. Die Wahrheit zu sagen und den Teufel zu beschämen. Den verlangten Preis wortlos und ohne Feilschen zu bezahlen. Man mochte dann und wann betrogen werden, mochte da und dort auf Roheit stoßen, im großen und ganzen aber würde man nicht verraten werden, wenn man den Menschen traute, sich ihnen anvertraute. Auch ein Hund beißt einen ja nur, wenn man ihm droht, ein Pferd schlägt nur dann aus, wenn man es erschreckt. Nur wer herausforderndes Mißtrauen oder einladende Furcht an den Tag legt, wird angegriffen. Solange die Bewegungen eines Menschen klar und selbstverständlich sind, wird selbst ein Hund ihn nicht beißen. Hätte man meinem Onkel vorgehalten, daß es nicht nur Hunde, sondern auch Tiger und Wölfe auf der Welt gebe, so würde er erwidert haben, man treffe diese letzteren in einer zivilisierten Welt so selten an, daß man ihnen keine Beachtung zu schenken brauche. Wir lebten in einer zivilisierten Welt, die täglich zivilisierter werde. Praktisch betrachtet, seien Übel, die man nicht beachtet, so gut wie ausgerottet. Es geschähen wohl Unglücksfälle, und zwar nicht nur solche materieller, sondern auch solche moralischer Art, doch gebe es genug anständige Menschen und genug guten Willen, daß man die bösen Zufälle außer acht lassen und unbewaffnet umhergehen könne. Ein Mensch, der eine Waffe bei sich trug, galt meinem Onkel als Raufbold oder als Feigling. Er konnte es nicht leiden, wenn einer Vorsichtsmaßregeln irgendwelcher Art gegen seine Mitmenschen gebrauchte. Deshalb haßte er Kassenregister. Er haßte es, wenn einer die Leute aushorchte, haßte Geheimnistuerei und Irreführung. Jedes Geheimnis war ihm eine Verdunkelung des Daseins, jede Lüge eine Sünde.

      Die Menschen sind gut, solange sie nicht bedrängt, gereizt, hintergangen, bedrückt, erschreckt oder in Furcht versetzt werden. Die Menschen sind wirklich Brüder. Dies klarzulegen und überzeugend zu lehren, und vor allem es selbst zu glauben und danach zu handeln, galt meinem lieben Onkel als Zivilisation. Man müsse die ganze Welt zivilisieren, dann werde jeder glücklich sein.

      Dank seinen Lehren und seinem überzeugenden Beispiel wurde ich, was ich, wie ich hoffe, trotz der entsetzlichen Abenteuer, die ich erlebt habe, und trotz der Furchtsamkeit und anderer niedriger Züge meines Wesens heute noch bin: ein wirklich zivilisierter Mensch.

      Ich hörte in jenen glücklichen Tagen des Viktorianischen Zeitalters, die ich im Hügellande von Wiltshire verlebte, nur wenig von den Kriegen und sozialen Konflikten, die drohend über uns schwebten. Der letzte große Krieg war der deutsch-französische gewesen, und mein Onkel behauptete, daß die aus ihm entsprungenen Feindseligkeiten mit jedem Jahre geringer werden. Daß Deutschland und England jemals gegeneinander Krieg führen würden, war seiner Meinung nach in Anbetracht der Gesetze der Blutsverwandtschaft ausgeschlossen. Es heiratet keiner seine Großmutter, noch weniger aber wird er es sich einfallen lassen, gegen sie zu kämpfen, und unsere Königin war die Großmutter der Welt im allgemeinen und die des deutschen Kaisers im besonderen.

      Revolutionen dünkten meinen Onkel noch unwahrscheinlicher als Kriege. Der Sozialismus galt ihm als ein sehr nützliches Mittel, um einer gewissen Härte, einer gewissen arithmetischen Voreingenommenheit von Fabrikanten und Geschäftsleuten entgegenzuwirken, die ihre Ursache in der sozialen Unerfahrenheit dieser Menschen hatten. Aus Unwissenheit taten sie Unrecht. Er gab mir Ruskins ›Unto this Last‹ zu lesen, später auch ›News from Nowhere‹ von William Morris. Ich stimmte den Ideen dieser Bücher begeistert zu und blickte in gelassener Zuversicht einer Zeit entgegen, da jedermann sie verstehen und gelten lassen würde.

      3

      Der Rektor erkrankt und stirbt

      In der Schule trat mir kaum Schlimmeres entgegen als im Heime meines Onkels. Ich habe seither oft sagen gehört, daß Schuljungen zuweilen besonders bösartige Geschöpfe und die Public-Schools in Großbritannien mitunter wahre Lasterhöhlen seien. Ein gut Teil dieses Geredes ist, dessen bin ich sicher, aufgebauschter Unsinn; in Imfield gab es jedenfalls nur sehr wenig oder gar keine Verderbtheit. Wir hatten die Wißbegier, die unserem Alter entsprach und befriedigten sie, ohne viel Aufhebens davon zu machen; gleich allen Knaben scherzten wir zuweilen über gewisse Dinge, die, spröde und aufreizend, hinter unseren gesellschaftlichen Konventionen lauern. Gott hat es in seiner unerforschlichen Weisheit für richtig befunden, gewisse Seiten des Lebens zu einem fortlaufenden Kommentar menschlicher Würde zu machen, und jedes jugendliche Gemüt erlebt in seinem Bestreben, das Weltall zu erfassen, eine Phase des entsetzten Staunens und des heilsamen Gelächters.

      Von einigen solchen durchaus erklärlichen Schrullen und Zerknitterungen des Gemüts abgesehen, wuchs ich einfach, sauber und gesund heran. Ich erwarb mir die gute Kenntnis dreier Sprachen, die ich seither kaum verwertet habe, und auch sonst ein ausreichendes Wissen und wurde ein tüchtiger Cricketspieler. Ich ritt ein bißchen und versuchte mich im primitiven Tennis jener Zeit. Meine Glieder streckten sich, mein Haar und meine Haut wurden heller. Wer mich im weißen Flanellanzug auf dem Wege zum Tennisplatz in Sir Willoughby Denby’s Park getroffen hätte, würde ebensowenig vermutet haben, daß meine Mutter halb portugiesischer, halb syrischer Abstammung mit einem Spritzer Madeirablut gewesen war, wie er daran gedacht hätte, daß die Urahnen der Blettsworthys ein Fell und einen Schwanz besaßen. In so starkem Maße hatte die Assimilationskraft des Heimatlandes der Blettsworthys auf mich eingewirkt und mich zivilisiert.

      Ich wuchs sauber, zuversichtlich und vertrauensvoll zum jungen Manne heran, und wenn ich den unangenehmen Tatsachen nicht ins Auge blickte, so lag das hauptsächlich daran, daß es in jenem lieblich grünen und friedlichen Teile von Wiltshire keine so unangenehmen Tatsachen gab, die sich meinem Blicke aufgedrängt hätten. Auch als ich schließlich nach Oxford in das Lattmeer College kam, erlebte ich weder dort noch auf dem Wege dahin eine bedeutsame Erschütterung. Meine Tante Constance hatte sich erbötig gemacht, die Kosten meines Universitätsstudiums zu tragen. Sie starb bald darauf und hinterließ mir ihr ganzes kleines Vermögen; allerdings mußte ich ihrer Gesellschafterin eine jährliche Rente auszahlen, die den größten Teil der Zinsen verschlang. Aus dem bestürzten Mißtrauen der beiden Damen gegen mich war eine ehrliche und offen eingestandene Zuneigung geworden, da ich mich unter meines Onkels Sorgfalt gleich einer Blume im Sonnenschein entfaltet hatte. Das Testament wurde gemacht, nachdem mein Vater im Betschuanaland getötet worden und ich als völlig unbemittelte Waise zurückgeblieben war. Er fiel in einer ziemlich verwickelten


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