Kleiner Kompass der wichtigsten Lebensgrundhaltungen. Christian Vöpel

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Kleiner Kompass der wichtigsten Lebensgrundhaltungen - Christian Vöpel


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auf den Menschen ist eine Haltung der Toleranz nur schwer möglich. Ist diese dynamische Sichtweise aber verinnerlicht, so ist es ein Grundmotiv für Freigebigkeit, den Anderen in seiner Entwicklung zu bereichern und ihn auf seinem Weg zu unterstützen. Der Bibelsatz „Geben ist seliger denn Nehmen“ kann hierfür Pate stehen: grundlos zu schenken aus sich selbst heraus, aus dem eigenen Inneren kreiert Sinn und Entwicklung.

      Der Kompass der Freigebigkeit:

      Das Sinnbild: Das verschenkte Glück

      Die Kernbotschaft: Tut wohl denen, die euch hassen. Segnet die, die euch verfolgen!

      Die Tugendmitte zwischen den Polen: Profillosigkeit – Freigebigkeit – Selbstsucht

      Die Aspekte:

      1) Erkenntnis der Subjektivität und Relativität des eigenen Bewusstseins. Der eigene Horizont ist nicht die Welt.

      2) Toleranz gründet auf einer offenen Geisteshaltung und der Würdigung der Vielfalt

      3) Toleranz ist nicht in erster Linie Ertragen des Anderen, sondern im Kern das „Freigeben“ der eigenen Sicht auf die Welt. Der Anspruch auf Durchsetzung der eigenen Wahrheit und auf Überzeugung der anderen entfällt.

      4) Toleranz bedeutet, nicht zu richten. Jeder befindet sich auf dem Weg, hat eine eigene Vergangenheit und wird in Zukunft ein anderer Mensch sein als in der Gegenwart. Die Geschichte „vom Saulus zu Paulus“ gilt in individueller Form für jeden.

      5) „Freigeben“ ist nicht nur „Loslassen“ des Anspruchs, sondern auch Darstellung der eigenen Sicht und Position für die anderen. Man verschenkt den eigenen Ausschnitt der Welt, den eigenen Teil an der Welt und macht ihn für andere zugänglich.

      6) Freigebigkeit ist die Haltung, andere zu bereichern. Sie in ihrer Entwicklung zu fördern, ohne sie verändern zu wollen. Jeder hat seinen persönlichen Weg, sein „Do“, auf dem er voranschreitet und sich verändert.

      7) Geben ist seliger denn Nehmen. Aber Geben und Nehmen ergänzen sich, und wenn man nicht versteht zu nehmen, dann wird auch das Geben sinnlos und läuft ins Leere.

      4) Barmherzigkeit – Vergebung – Hilfsbereitschaft

      Der Grundhaltungskomplex der Barmherzigkeit ist im Kern ein tieferes Mitfühlen mit dem Nächsten. Es ist die Fähigkeit und Bereitschaft, die Perspektive des anderen einzunehmen und die Dinge aus seiner Sicht heraus zu sehen – „über Verstehen zum Verständnis“. Es ist aber nicht nur die kognitive Ebene, die berührt wird, sondern vor allem die emotionale Ebene. Es geht bei der Haltung der Barmherzigkeit um Empathie, um die Entwicklung eines Einfühlungsvermögens, darum, sich selbst im anderen zu erkennen und den anderen in sich selbst.

      Das Menschenbild, was der Haltung der Barmherzigkeit zugrunde liegt, lässt sich am besten mit der Metapher beschreiben, dass jeder Mensch ein eigener Mikrokosmos ist. Ein jüdische Weisheit sagt: „Wer einen einzigen Menschen tötet, der tötet die ganze Welt, und wer einen einzigen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Und auch hier ist der grundlegende Respekt vor der Individualität des anderen entscheidend, das Verstehen seiner Bedingtheit und Subjektivität und der Blick für seinen langfristigen Weg. Daraus ergibt sich der große Sinn für jeden Menschen, dem anderen auf seinem Weg zu helfen und ihm Bereicherung und vielleicht sogar Vorbild zu sein.

      Aus der Grundhaltung der Barmherzigkeit heraus ergeben sich eine Haltung der Vergebung und eine Haltung der Hilfsbereitschaft. Die Haltung der Vergebung lässt sich durch ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer veranschaulichen: „Man muss die Menschen zuallererst danach betrachten, was sie zu leiden und auszuhalten haben und nicht danach, was sie tun.“ Die Haltung der Hilfsbereitschaft lässt sich an einem Zitat von Erich Fromm veranschaulichen: „Jeder Mensch lebt im Kerker des eigenen Abgetrennt Seins von der Welt. Das ist seine Grundsituation.“ Für jeden Menschen ergibt sich daraus ein existentieller Widerspruch: man selbst empfindet sich als Subjekt, alle anderen aber nur als Teil der eigenen Außenwelt und damit als Objekt. Tatsächlich aber sind alle anderen ebenso Subjekt wie ich selbst, die in demselben Dilemma leben, dass sie andere Menschen auch nur als Teil ihrer Außenwelt wahrnehmen und damit - fälschlicherweise - als Objekt. Der Kern der Hilfsbereitschaft ist es, aus diesem Dilemma herauszutreten und den anderen eben gerade als Subjekt wahrzunehmen, eingedenk seiner existentiellen Grundsituation, und ihm so zu begegnen.

      Barmherzigkeit ist der Weg, sich im anderen zu erkennen und den anderen in sich selbst. Ohne diese Haltung ist kein wahres Band zwischen Menschen möglich.

      Der Kompass der Barmherzigkeit:

      Das Sinnbild: Der barmherzige Samariter

      Die Kernbotschaft: Was ihr getan habt an einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr auch mir getan!

      Die Tugendmitte zwischen den Polen: Gleichgültigkeit – Barmherzigkeit – Verurteilung

      Die Aspekte:

      1) Perspektivenwechsel und Einfühlungsvermögen als Grundlage der Barmherzigkeit: die Dinge aus der Sicht des anderen zu sehen

      2) Bild vom Menschen als Mikrokosmos: Sein Verhalten ist nur die Spitze des Eisbergs, das Wesentliche und sein eigentlicher Wert liegen unter der Oberfläche. „Man muss die Menschen mehr danach betrachten, was sie zu leiden und auszuhalten haben als danach, was sie tun.“ (Dietrich Bonhoeffer)

      3) Barmherzigkeit und Vergebung als Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit: Man erkennt sich selbst im anderen und den anderen in sich selbst. Dadurch wird er vom Objekt zum Subjekt.

      4) Barmherzigkeit stellt die Verbindung zu Gott her und entfaltet ein neues, besseres Selbst

      5) Vergebung ist ein Ausdruck der Barmherzigkeit. Ohne Barmherzigkeit, ohne sich selbst im anderen zu erkennen und ihn als Subjekt wahrzunehmen, ist keine wahre Verbundenheit zwischen Menschen möglich.

      6) „Irren ist menschlich. Vergebung ist göttlich.“

      5) Verbundenheit – Treue – Verantwortlichkeit

      Dieser Grundhaltungskomplex steht für die Überwindung der reinen Selbstbezüglichkeit. Es ist das Aufgehen und die Erweiterung des Selbst in der Verbundenheit zum Anderen.

      Der Andere wird wichtiger als man selbst. Das Tragen seiner Last wird wichtiger als das Tragen meiner eigenen Last. Diese tiefe Form der Verbundenheit ist die Haltung des für den Anderen Einstehens und des unbedingten Zueinanderstehens. Es ist das uneingeschränkte Vertrauen zum anderen. Die Verbundenheit ist die Vorstufe zum spirituellen Ideal der Vereinigung, die in der heiligen Dreieinigkeit zum Ausdruck kommt. Das Selbst des Menschen wird gewissermaßen transferiert in eine höhere Vereinigung und er erreicht so eine höhere Sinnstufe des Lebens. Und dies geschieht genau in dem Moment, wo ein Anderer wichtiger wird als das eigene Ich. Hierfür steht der biblische Satz „Wer sein Selbst verliert um meinetwillen, der wird es erhalten zum ewigen Leben“.

      Ein wesentlicher Punkt bei der Haltung der Verbundenheit sowie der Treue ist die prinzipielle Unverzichtbarkeit des Anderen. Diese Unverzichtbarkeit ist der Kern der Liebe, in welcher Ausprägung auch immer. Und aus dieser Unverzichtbarkeit heraus ergibt sich die Verantwortung für den Anderen, die Haltung, immer für ihn da zu sein und seine Last zu tragen.

      Verbundenheit und seine Eckpfeiler Treue und Verantwortlichkeit sprengen den bereits zitierten „Kerker des eigenen Abgetrennt Seins von der Welt“ und sind in ihrer Hinwendung zum Anderen dazu angetan, das existentielle Grunddilemma des Menschen aufzulösen.

      Der Kompass der Verbundenheit:

      Das Sinnbild: Die Spuren Gottes im Sand - sein Tragen meiner Last

      Die Kernbotschaft: Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!

      Die Tugendmitte zwischen den Polen: Abhängigkeit – Verbundenheit – Distanziertheit

      Die Aspekte:

      1) Bild von der Grundsituation des Menschen als „im Kerker des eigenen Abgetrennt seins von der Welt


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