Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach

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Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach


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großes Loch mitten in der Mauer. Erich hastet hinzu und entdeckt neben dem Loch einen Zettel, darauf steht in flüchtiger Schrift: Erich, mach das Licht aus, du bist der Letzte.“

      Des Volkes Worte. Wie schnell sie sich noch in diesem Jahr bewahrheiten würden, hätte Holstein nicht möglich gehalten.

      Der noch hochsommerliche September trieb unablässig weitere DDR-Bürger in die BRD-Botschaften der mit der DDR verbündeten Staaten und Holstein machte in der monatlichen Parteiversammlung offen Front gegen die dafür an den Haaren herbeigezogenen Begründungen in Presse, Funk und Fernsehen. Gleichermaßen stellte er die gebetsmühlenartig gepriesene Wirtschafts- und Sozialpolitik der Parteiführung hochgradig in Zweifel.

      „Was ist eine Wirtschaftspolitik wert, die gegen jegliche ökonomische Vernunft, ja selbst gegen von den Klassikern des Sozialismus formulierte ökonomische Gesetze verstößt? Was ist eine Sozialpolitik wert, die soziale Zuwendungen aus einer Streusandbüchse verteilt, unbesehen von tatsächlicher Bedürftigkeit? Was ist daran ökonomisch oder sozial, wenn man jahrelange Mietschuldner bei einem lächerlichen Mietbetrag von hundert, allerhöchstens hundertfünfzig Mark für eine geräumige Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon inklusive aller Heiz- und Nebenkosten ohne ernsthafte Konsequenzen gewähren läßt, sich statt dessen als Begründung ihrer Schuld noch die freche Aussage sonst fehlender Benzingelder für ihr Auto, in solchen Fällen zumeist kein Trabant sondern eher ein Wartburg oder Lada, bieten lässt? Wie lachhaft ist das Festhalten an Durchhalteparolen aller Art. Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden. Wer von euch glaubt denn das wirklich, dass Lieschen Müller von solchem Gedankengut beseelt am frühen Morgen erst ihre Kinder zur Krippe bringt und dann vom genannten Motto hochgradig inspiriert mit Enthusiasmus bis spät abends an ihrer Kasse in der Kaufhalle Warenpreise eintippt, oder dass Mäxchen Pfiffig in einem fort an die Erhaltung des Weltfriedens denkend im Walzwerk den rotglühenden Stahl wendet? „

      Die Antwort vom anwesenden Sekretariatsmitglied der SED-Bezirksleitung erfolgte prompt, scharf und in persönliche Beleidigungen mündend. Holstein wies die Argumente als Beispiele der Entmündigung und der Arroganz zurück und stand hinfort seit genau diesem Tag wieder unter der direkten Beobachtung der SED-Bezirksleitung. Holsteins Parteisekretär kabelte wöchentlich, wenige Tage später sogar täglich, der zentralen Parteileitung über die Stimmungs- und Meinungslage Bericht, darin stets eingebunden der Sonderabschnitt „Holstein“, die zentrale Parteileitung telegrafierte darüber zu dem in Berlin mit anderen Genossen der Parteispitze den 40. Jahrestages der DDR vorbereitenden Ersten Sekretär. Der erinnerte sich nur äußerst ungern seines einstigen Mitarbeiters, der ihm nun erneut Ärger verschaffte. Ärgeren allerdings, viel ärgeren als damals. Da wäre er lieber wieder zu mitternächtlicher Stunde wegen eines Trunkenheitsdelikts aus dem Schlaf gerissen worden.

      Sie warfen Holstein in vereinter Front fehlenden Klassenstandpunkt vor, und der konnte es tags darauf im Organ des ZK der SED „Neues Deutschland“ nachlesen, was er unter diesem Klassenstandpunkt zu verstehen hatte:

      Es gilt, stand da zu lesen, dass sich die Mitglieder der Partei wieder intensiver mit den Beschlüssen des ZK befassen müssen, um die neuen Anforderungen richtig verstehen zu können und konsequent danach zu handeln. Revolutionärer Klassenstandpunkt bedeutet nichts anderes als fest und in unverbrüchlicher Treue zum ZK und seinem Politbüro zu stehen. Wer einmal der Partei sein Wort gegeben habe, tat dies auf Lebenszeit!

      Ja, so hätten sie es wohl gerne, und da glichen sie den Machthabern in aller Welt: blinde Ergebenheit und unverbrüchliche Treue!

      Holstein hatte in der Folgezeit eine schweren Stand in seiner Abteilung, nicht bei den Kollegen, abgesehen von denen, die ihm anonyme telefonische Anrufe bedrohlichen Inhalts zuteil werden ließen, wohl aber bei seinem neuen Leiter. Den bisherigen hatte man auf eigenen Wunsch, möglicherweise spielte dabei auch dessen Hang zum Alkohol und zu verheirateten Frauen eine nicht unbeträchtliche Rolle, in eine ihm besser gelegene Funktion außerhalb des Staatsapparates versetzt, der neue, Genosse Setzer, übte bis dahin das Amt des Ratsvorsitzenden eines Kreises im Erzgebirge aus. Als seine erste und vordringlichste Aufgabe im neuen Amt sah er es offenbar an, Holstein ideologisch wieder auf Vordermann zu bringen. So bestellte er ihn zu sich und überlud ihn dann sogleich stundenlang mit den Vorzügen des Sozialismus, dass Holstein die Ohren sausten und der Kopf schmerzte.

      Wenn nur ein Viertel, so Setzer, aller Parteimitglieder die Parteipolitik tagtäglich mit allerhöchstem Eifer in ihrer Arbeit umgesetzt hätte, wäre der derzeitig desolate Zustand in der DDR sicher zu vermeiden gewesen. Auch wäre eine gewisse Unmäßigkeit in den Forderungen der Bürger festzustellen, ein Beispiel nur: Als Ratsvorsitzender habe er mit unzähligen Eingaben in Fragen Wohnraumversorgung zu tun gehabt. Einer siebenköpfigen Familie habe er dazu verholfen, außer der Reihe aus ihrer dem Zusammenbruch geweihten Altbausubstanz aus der Zeit des mittelalterlichen Silberbergbaus in eine Neubauwohnung umziehen zu können, mit Bad, Innentoilette, vier Zimmern, einer geräumigen Küche. Aber anstelle des erwarteten Dankschreibens wäre ihm zwei Wochen nach dem Einzug von dieser Familie die nächste Eingabe auf seinen Tisch geflattert: Es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe der Wohnung, auch keine Gaststätte. Ja zum Kuckuck, wo leben wir denn? Etwa schon im Schlaraffenland? Unmäßig, völlig unmäßig!

      Der 40.Jahrestag der Gründung der DDR stand ins Haus. Wie seit Jahrzehnten gewohnt mit der obligatorischen Militärparade und dem abendlichen Fackelzug der aus allen Teilen der Republik herangekarrten Jugendlichen in den blauen Hemden und Blusen der FDJ, in hohem Grade erinnernd an die Aufmärsche der Heiligen Inquisition, des Ku Klux Klan und der Nazis. Parallel dazu die Bekundungen der Andersdenkenden, mehrheitlich noch formiert unter Rosa Luxemburgs Freiheitsanspruch. Erwartungsgemäß kam es zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen, so auch an diesem Tag in Leipzig und anderen Städten, so auch in Holsteins Heimatstadt. Noch allerdings war die Zahl der öffentlich Aufmüpfigen klein, unüberhörbar zwar, aber doch bescheiden. Für den nachfolgenden Montag hatte das Neue Forum in Leipzig zu einer Massendemonstration aufgerufen. Polizei und Armee standen in Bereitschaft, es drohte der offene Konflikt, ein Bürgerkrieg. Trotz seiner unbegrenzten Sympathie mit den Demonstranten und ihren Forderungen konnte sich Holstein nicht dazu entschließen, sich selbst an den Demonstrationen zu beteiligen. Nicht aus Angst, nein, Holstein umging Massenaufläufe welcher Art auch immer, außerdem hoffte er darauf, dass die Parteigenossen der Basis sich endlich an die Spitze stellen und die Wende herbeiführen würden. Doch die Genossen der Basis waren entweder gelähmt oder marschierten selbst schon in den Demonstrationen des Neuen Forums. Tausende Parteimitglieder hatten ihr Mitgliedsbuch bereits zurückgegeben, die Marienkäfer am Ostseestrand tanzten vor Holsteins Augen. Er wusste sich in einer geschichtlichen Situation von außergewöhnlicher Tragweite und sah seine Partei darin in Agonie, die, die immerfort bisher vollmundig verkündete, ein für alle mal die historische Wahrheit gepachtet zu haben. Da half ihm nicht mehr Lenins „Was tun?“, Lenin selbst auch nicht. Nur der alberne Witz erhielt plötzlich reales Gewicht, in dem Lenin, von einem Wunderdoktor aus dem Todesschlaf erweckt, helfen soll, die Probleme des Sowjetlandes zu lösen. Nach etlichen Tagen finden die Genossen dort, wo sie ihn nebst aktuellen Zeitdokumenten alleine zurück ließen, nicht ihn selbst sondern nur seine Nachricht vor: Bin auf der Aurora, die Scheiße geht von vorne los! Also, was tun? Alle Kennzeichen und Signale im Land deuteten in Richtung einer sozialen Revolution. Die Herrschenden können nicht mehr und die Beherrschten wollen nicht mehr, so sagte es Marx. Noch aber schienen sich die Herrschenden ihrer Sache sicher zu sein.

      Im Oktober begann der alle zwei Jahre stattfindende Lehrgang für die Mitarbeiter Holsteins Fachorgans. Fachliche und politische Vorträge und Seminare wechselten sich ab, in der Eröffnungsansprache hörte Holstein das alte Lied vom Sieg des Sozialismus, jetzt in den Farben schwarz-rot-gold, von der Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, von der wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung in der DDR, von den Erfolgen der Sowjetunion beim Aufbau des Sozialismus-Kommunismus bis 1985 (danach schien es damit vorbei zu sein)...und die Flüchtlingswelle rollte derweil weiter, unaufhaltsam, westwärts.

      Für den wie gewöhnlich anberaumten militär-politischen Vortrag hatte man einen Oberstleutnant aus dem hiesigen Wehrbezirkskommando gewonnen, ein ehemaliger Divisions-Planungsoffizier einer brandenburgischen motorisierten Schützeneinheit, gerade und von dort frisch versetzt. Seine Darlegungen veranlassten Holstein zum radikalen


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