Die Welt von Gestern. Stefan Zweig

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Die Welt von Gestern - Stefan Zweig


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Söhne unwillig, die Banken, die Fabriken, die ausgebauten und warmen Geschäfte ihrer Väter zu übernehmen. Es ist kein Zufall, daß ein Lord Rothschild Ornithologe, ein Warburg Kunsthistoriker, ein Cassirer Philosoph, ein Sassoon Dichter wurde; sie alle gehorchten dem gleichen, unbewußten Trieb, sich von dem frei zu machen, was das Judentum eng gemacht, vom bloßen kalten Geldverdienen, und vielleicht drückt sich darin sogar die geheime Sehnsucht aus, durch Flucht ins Geistige sich aus dem bloß Jüdischen ins allgemein Menschliche aufzulösen. Eine ›gute‹ Familie meint also mehr als das bloß Gesellschaftliche, das sie selbst mit dieser Bezeichnung sich zubilligt; sie meint ein Judentum, das sich von allen Defekten und Engheiten und Kleinlichkeiten, die das Ghetto ihm aufgezwungen, durch Anpassung an eine andere Kultur und womöglich eine universale Kultur befreit hat oder zu befreien beginnt. Daß diese Flucht ins Geistige durch eine unproportionierte Überfüllung der intellektuellen Berufe dem Judentum dann ebenso verhängnisvoll geworden ist wie vordem seine Einschränkung ins Materielle, gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals.

      In kaum einer Stadt Europas war nun der Drang zum Kulturellen so leidenschaftlich wie in Wien. Gerade weil die Monarchie, weil Österreich seit Jahrhunderten weder politisch ambitioniert noch in seinen militärischen Aktionen besonders erfolgreich gewesen, hatte sich der heimatliche Stolz am stärksten dem Wunsche einer künstlerischen Vorherrschaft zugewandt. Von dem alten Habsburgerreich, das einmal Europa beherrscht, waren längst wichtigste und wertvollste Provinzen abgefallen, deutsche und italienische, flandrische und wallonische; unversehrt in ihrem alten Glanz war die Hauptstadt geblieben, der Hort des Hofes, die Wahrerin einer tausendjährigen Tradition. Die Römer hatten die ersten Steine dieser Stadt aufgerichtet, als ein Castrum, als vorgeschobenen Posten, um die lateinische Zivilisation zu schützen gegen die Barbaren, und mehr als tausend Jahre später war der Ansturm der Osmanen gegen das Abendland an diesen Mauern zerschellt. Hier waren die Nibelungen gefahren, hier hat das unsterbliche Siebengestirn der Musik über die Welt geleuchtet, Gluck, Haydn und Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Johann Strauß, hier waren alle Ströme europäischer Kultur zusammengeflossen; am Hof, im Adel, im Volk war das Deutsche dem Slavischen, dem Ungarischen, dem Spanischen, dem Italienischen, dem Französischen, dem Flandrischen im Blute verbunden, und es war das eigentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle diese Kontraste harmonisch aufzulösen in ein Neues und Eigenartiges, in das Österreichische, in das Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an sich, entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen.

      Diese Kunst der Angleichung, der zarten und musikalischen Übergänge, sie ward schon offenbar im äußern Gebilde der Stadt. In Jahrhunderten langsam gewachsen, aus innerem Kreise organisch entfaltet, war sie volkreich genug mit ihren zwei Millionen, um allen Luxus und alle Vielfalt einer Großstadt zu gewähren, und doch nicht so überdimensional, um abgelöst zu sein von der Natur wie London oder New York. Die letzten Häuser der Stadt spiegelten sich im mächtigen Strome der Donau oder sahen hinaus über die weite Ebene oder lösten sich auf in Gärten und Felder oder klommen in sachten Hügeln die letzten grün umwaldeten Ausläufer der Alpen hinauf; man fühlte kaum, wo die Natur, wo die Stadt begann, eines löste sich ins andere ohne Widerstand und Widerspruch. Innen wiederum spürte man, daß wie ein Baum, der Ring an Ring ansetzt, die Stadt gewachsen war; und statt der alten Festungswälle umschloß den innersten, den kostbarsten Kern die Ringstraße mit ihren festlichen Häusern. Innen sprachen die alten Paläste des Hofs und des Adels versteinerte Geschichte; hier bei den Lichnowskys hatte Beethoven gespielt, hier bei den Esterházys war Haydn zu Gast gewesen, da in der alten Universität war Haydns ›Schöpfung‹ zum erstenmal erklungen, die Hofburg hatte Generationen von Kaisern, Schönbrunn Napoleon gesehen, im Stefansdom hatten die vereinigten Fürsten der Christenheit im Dankgebet für die Errettung vor den Türken gekniet, die Universität hatte unzählige der Leuchten der Wissenschaft in ihren Mauern gesehen. Dazwischen erhob sich stolz und prunkvoll mit blinkenden Avenuen und blitzenden Geschäften die neue Architektur. Aber das Alte haderte hier so wenig mit dem Neuen wie der gehämmerte Stein mit der unberührten Natur. Es war wundervoll hier zu leben, in dieser Stadt, die gastfrei alles Fremde aufnahm und gerne sich gab, es war in ihrer leichten, wie in Paris mit Heiterkeit beschwingten Luft natürlicher das Leben zu genießen. Wien war, man weiß es, eine genießerische Stadt, aber was bedeutet Kultur anderes, als der groben Materie des Lebens ihr Feinstes, ihr Zartestes, ihr Subtilstes durch Kunst und Liebe zu entschmeicheln? Feinschmeckerisch im kulinarischen Sinne, sehr um einen guten Wein, ein herbes frisches Bier, üppige Mehlspeisen und Torten bekümmert, war man in dieser Stadt anspruchsvoll auch in subtileren Genüssen. Musik machen, tanzen, Theater spielen, konversieren, sich geschmackvoll und gefällig benehmen wurde hier gepflegt als eine besondere Kunst. Nicht das Militärische, nicht das Politische, nicht das Kommerzielle hatte im Leben des einzelnen wie in dem der Gesamtheit das Übergewicht; der erste Blick eines Wiener Durchschnittsbürgers in die Zeitung galt allmorgendlich nicht den Diskussionen im Parlament oder den Weltgeschehnissen, sondern dem Repertoire des Theaters, das eine für andere Städte kaum begreifliche Wichtigkeit im öffentlichen Leben einnahm. Denn das kaiserliche Theater, das Burgtheater war für den Wiener, für den Österreicher mehr als eine bloße Bühne, auf der Schauspieler Theaterstücke spielten; es war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzig richtige ›cortigiano‹ des guten Geschmacks. An dem Hofschauspieler sah der Zuschauer vorbildlich, wie man sich kleidete, wie man in ein Zimmer trat, wie man konversierte, welche Worte man als Mann von gutem Geschmack gebrauchen durfte, und welche man zu vermeiden hatte; die Bühne war statt einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste Magnat konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber ein Hofschauspieler, eine Opernsängerin erkannte jede Verkäuferin und jeder Fiaker; stolz erzählten wir Knaben es uns einander, wenn wir einen von ihnen (deren Bilder, deren Autographen jeder sammelte) im Vorübergehen gesehen, und dieser fast religiöse Personenkult ging so weit, daß er sich sogar auf seine Umwelt übertrug; der Friseur Sonnenthals, der Fiaker von Josef Kainz waren Respektspersonen, die man heimlich beneidete; junge Elegants waren stolz, von demselben Schneider gekleidet zu sein. Jedes Jubiläum, jedes Begräbnis eines großen Schauspielers wurde zum Ereignis, das alle politischen Geschehnisse überschattete. Im Burgtheater gespielt zu werden, war der höchste Traum jedes Wiener Schriftstellers, weil es eine Art lebenslangen Adels bedeutete und eine Reihe von Ehrungen in sich schloß, wie Freikarten auf Lebenszeit, Einladung zu allen offiziellen Veranstaltungen; man war eben Gast in einem kaiserlichen Hause geworden, und ich erinnere mich noch an die feierliche Art, mit der meine eigene Einbeziehung geschah. Am Vormittag hatte mich der Direktor des Burgtheaters zu sich ins Büro gebeten, um mir – nach zuvorigem Glückwunsch – mitzuteilen, daß mein Drama vom Burgtheater akzeptiert worden sei; als ich abends nach Hause kam, fand ich seine Visitenkarte in meiner Wohnung. Er hatte mir, dem Sechsundzwanzigjährigen, einen formellen Gegenbesuch gemacht, ich war als Autor der kaiserlichen Bühne schon durch die bloße Annahme ein ›gentleman‹ geworden, den ein Direktor des kaiserlichen Instituts au pair zu behandeln hatte. Und was im Theater geschah, betraf indirekt jeden einzelnen, sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte. Ich erinnere mich zum Beispiel aus meiner frühesten Jugend, daß unsere Köchin eines Tages mit Tränen in den Augen in das Zimmer stürzte: eben habe man ihr erzählt, Charlotte Wolter – die berühmteste Schauspielerin des Burgtheaters – sei gestorben. Das Groteske dieser wilden Trauer bestand selbstverständlich darin, daß diese alte, halb analphabetische Köchin nicht ein einziges Mal selbst im vornehmen Burgtheater gewesen war und die Wolter nie auf der Bühne oder im Leben gesehen hatte; aber eine große nationale Schauspielerin gehörte in Wien so sehr zum Kollektivbesitz der ganzen Stadt, daß selbst der Unbeteiligte ihren Tod als eine Katastrophe empfand. Jeder Verlust, das Weggehen eines beliebten Sängers oder Künstlers verwandelte sich unaufhaltsam in Nationaltrauer. Als das ›alte‹ Burgtheater, in dem Mozarts ›Hochzeit des Figaro‹ zum erstenmal erklungen, demoliert wurde, war die ganze Wiener Gesellschaft wie bei einem Begräbnis feierlich und ergriffen in


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