Marie Antoinette. Stefan Zweig

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Marie Antoinette - Stefan Zweig


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      Am 27. April 1774 befällt den König Ludwig XV. auf der Jagd plötzlich Mattigkeit; mit schweren Kopfschmerzen kehrt er nach seinem Lieblingsschloß Trianon zurück. In der Nacht stellen die Ärzte Fieber fest und holen Madame Dubarry an sein Lager. Am nächsten Morgen verordnen sie bereits beunruhigt die Übersiedlung nach Versailles. Selbst der unerbittliche Tod muß sich den noch unerbittlicheren Gesetzen der Etikette fügen: ein König von Frankreich darf nicht anderswo ernstlich krank sein oder sterben als in dem königlichen Paradebett. »C'est à Versailles, Sire, qu'il faut être malade.« Dort umstehen sofort sechs Ärzte, fünf Chirurgen, drei Apotheker, im ganzen vierzehn Personen das Krankenlager, sechsmal in jeder Stunde tastet jeder einzelne den Puls ab. Aber nur Zufall hilft zur Diagnose; als abends ein Diener die Kerze hochhebt, entdeckt einer unter den Umstehenden die berüchtigten roten Flecken im Gesicht, und im Nu weiß der ganze Hof und das ganze Schloß von der Schwelle bis zum First: die Blattern! Ein Windstoß von Schrecken fährt durch das riesige Haus, Angst vor der Ansteckung, die tatsächlich in den nächsten Tagen einige Personen ergreift, und mehr noch vielleicht Angst der Höflinge um ihre Stellung im Falle des Todes. Die Töchter zeigen den Mut der wirklich Frommen, tagsüber halten sie bei dem König die Wache, in der Nacht bleibt Madame Dubarry aufopfernd am Lager des Kranken. Den Thronerben dagegen, dem Dauphin und der Dauphine, verbietet das Hausgesetz, wegen der Ansteckungsgefahr das Zimmer zu betreten: seit drei Tagen ist ihr Leben um vieles kostbarer geworden. Und nun teilt sich mit einem gewaltigen Schnitt der Hof; an dem Krankenbett Ludwigs XV. wacht und zittert die alte Generation, die Macht von gestern, die Tanten und die Dubarry; sie wissen genau, daß ihre Herrlichkeit mit dem letzten Atemzug dieser fiebernden Lippen endet. In den andern Zimmern versammelt sich die kommende Generation, der zukünftige König Ludwig XVI., die zukünftige Königin Marie Antoinette und der Graf von Provence, der, solange sich sein Bruder Ludwig nicht entschließen kann, Kinder zu zeugen, sich heimlich gleichfalls als künftigen Thronanwärter fühlt. Zwischen diesen beiden Räumen steht das Schicksal. Niemand darf das Krankenzimmer betreten, wo die alte Sonne der Herrschaft untergeht, niemand das andere Zimmer, in dem die neue Sonne der Macht aufsteigt: dazwischen, in dem Œil de Bœuf, dem großen Vorraum, wartet ängstlich und schwankend die Masse der Höflinge, unsicher, wohin sie ihre Wünsche wenden sollen, zu dem sterbenden oder zu dem kommenden Könige, nach Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang.

      Inzwischen durchpflügt mit tödlicher Wucht die Krankheit den abgelebten, verbrauchten und erschöpften Leib des Königs. Gräßlich aufgeschwollen, von Pusteln übersät, geht der lebende Körper, während das Bewußtsein nicht einen Augenblick aussetzt, in grauenhafte Zersetzung über. Die Töchter und Madame Dubarry brauchen reichlich Mut, um durchzuhalten, denn trotz der geöffneten Fenster erfüllt pestilenzartiger Gestank das königliche Gemach. Bald treten die Ärzte zur Seite, sie geben den Körper verloren – nun beginnt der andere Kampf, das Ringen um die sündige Seele. Aber Entsetzen: die Priester weigern sich, an das Krankenbett zu treten, Beichte und Kommunion zu gewähren; erst solle der sterbende König, der so lange unfromm und nur seinen Lüsten gelebt habe, tätig seine Reue erweisen. Erst müsse der Stein des Anstoßes weggeräumt sein, die Buhlerin, die verzweifelt an einem Lager wacht, das sie so lange unchristlich geteilt hat. Schwer entschließt sich der König gerade jetzt, in dieser fürchterlichen Stunde letzten Alleinseins, den einzigen Menschen wegzuschicken, an dem er innerlich hängt. Aber immer grimmiger würgt ihm die Angst vor dem Höllenfeuer die Kehle. Mit erstickter Stimme nimmt er Abschied von Madame Dubarry, und sofort wird sie unauffällig in einem Wagen in das nahegelegene Schlößchen Rueil gebracht: dort soll sie warten, um wiederzukehren für den Fall, daß der König sich noch einmal erholt.

      Jetzt erst, nach dieser sichtlichen Tat der Reue, sind Beichte und Kommunion möglich. Jetzt erst betritt ein Mann, der achtunddreißig Jahre lang der unbeschäftigteste am ganzen Hof gewesen, das königliche Schlafgemach: der Beichtiger Seiner Majestät. Hinter ihm schließt sich die Tür, und sehr zu ihrem Leidwesen können die neugierigen Höflinge im Vorgemach das Sündenregister des Hirschparkkönigs (und es wäre so interessant!) nicht mitanhören. Aber, die Uhr in der Hand, zählen sie draußen die Minuten sorgfältig mit, um wenigstens dies in ihrer bösartigen Skandalfreude zu berechnen, wieviel Zeit ein Ludwig XV. benötige, um seine sämtlichen Sünden und Ausschweifungen zu bekennen. Endlich, nach genau sechzehn Minuten, öffnet sich neuerdings die Tür, der Beichtiger tritt heraus. Aber schon deuten manche Zeichen darauf hin, daß Ludwig XV. die endgültige Absolution noch nicht gewährt sei, daß die Kirche von einem Monarchen, der achtunddreißig Jahre sein sündiges Herz nicht erleichtert und vor den Augen seiner Kinder in Schande und fleischlicher Lust gelebt hat, noch eine tiefere Demütigung verlange als dieses heimliche Bekenntnis. Gerade weil er der Höchste der Welt gewesen und sich sorglos über dem geistlichen Gesetz stehend gedünkt, verlangt von ihm die Kirche, daß er sich besonders tief vor dem Allerhöchsten beuge. Öffentlich, vor allen und zu allen, müsse der sündige König für seinen unwürdigen Lebenswandel Reue bekunden. Dann erst solle ihm das Abendmahl erteilt werden.

      Großartige Szene am nächsten Morgen: der mächtigste Autokrat der Christenheit muß christliche Buße vor der versammelten Schar seiner eigenen Untertanen tun. Die ganze Treppe des Schlosses entlang stehen die Garden unter Waffen, die Schweizer bilden von der Kapelle bis zum Sterbezimmer hin Spalier, dumpf wirbeln die Trommeln, sobald im feierlichen Zuge unter dem Baldachin die hohe Geistlichkeit mit dem Hostiengefäß eintritt. Jeder eine brennende Kerze in der Hand, schreiten hinter dem Erzbischof und dessen Gefolge der Dauphin und seine beiden Brüder, die Prinzen und Prinzessinnen, um das Allerheiligste bis zur Tür zu begleiten. Bei der Schwelle machen sie Halt und sinken in die Kniee. Nur die Töchter des Königs und die nicht erbberechtigten Prinzen betreten mit dem hohen Klerus das Sterbegemach.

      In der atemlosen Stille hört man den Kardinal eine leise Ansprache halten, man sieht ihn durch die offene Tür das heilige Abendmahl erteilen. Dann tritt er – Augenblick voll Schauer und ehrfürchtiger Überraschung – an die Schwelle des Vorsaales und spricht mit erhobener Stimme zu dem ganzen versammelten Hof: »Meine Herren, der König beauftragt mich, Ihnen zu sagen, daß er Gott um Verzeihung für die Beleidigungen bittet, die er ihm angetan, und für das schlechte Beispiel, das er seinem Volke gegeben hat. Wenn Gott ihm wieder Gesundheit schenkt, verspricht er, Buße zu tun, den Glauben zu unterstützen und das Schicksal seines Volkes zu erleichtern.« Vom Bett her hört man ein leises Stöhnen. Nur für die Nächststehenden deutlich vernehmbar, murmelt der Sterbende: »Ich wollte, ich hätte selbst die Kraft gehabt, es zu sagen.«

      Was jetzt kommt, ist nur noch Grauen. Nicht ein Mensch stirbt, sondern ein aufgedunsener, schwarz gefärbter Kadaver zerfällt in sich selbst. Aber riesenhaft wehrt sich, als wäre die Bourbonenkraft all seiner Ahnen in ihm versammelt, der Körper Ludwigs XV. gegen die unaufhaltsame Vernichtung. Furchtbar sind diese Tage für alle. Die Diener werden ohnmächtig von dem fürchterlichen Geruch, die Töchter wachen mit letzter Kraft, längst haben sich die Ärzte hoffnungslos zurückgezogen, immer ungeduldiger harrt der ganze Hof auf die baldige Beendigung der gräßlichen Tragödie. Unten stehen, seit Tagen angeschirrt, die Karossen bereit, denn um die Ansteckung zu vermeiden, soll der neue Ludwig, ohne eine Minute zu verlieren, mit seinem ganzen Gefolge nach Choisy übersiedeln, sobald der alte König den letzten Atemzug getan hat. Die Reiter haben bereits ihre Sättel zurechtgemacht, die Koffer sind gepackt, Stunde um Stunde warten unten die Diener und Kutscher; alles starrt nur noch auf die kleine brennende Kerze hin, die man ans Fenster des Sterbenden geklebt hat und die – ein vereinbartes Zeichen für alle – im bewußten Augenblick ausgelöscht werden soll. Aber der riesige Körper des alten Bourbonen wehrt sich noch einen ganzen Tag. Endlich, Dienstag, den 10. Mai, um halb vier Uhr nachmittags, verlischt die Kerze. Sofort wird das Murmeln zum Rauschen. Von Zimmer zu Zimmer läuft – eine springende Welle – die Nachricht, der Ruf, der wachsende Wind: »Der König ist tot, es lebe der König!«

      Marie Antoinette wartet mit ihrem Gatten in einem kleinen Zimmer. Auf einmal hören sie jenes geheimnisvolle Brausen, immer lauter, näher und näher brandet von Zimmer zu Zimmer eine unverständliche Wortwoge. Jetzt, als ob ein Sturm sie groß aufgerissen hätte, öffnet sich die Tür, Madame de Noailles tritt ein, sinkt in die Kniee und grüßt als erste die Königin. Hinter ihr drängen die andern, mehr, immer mehr, der ganze Hof, denn jeder will rasch heran, seine Huldigung darzubringen, jeder sich zeigen, unter den ersten Glückwünschenden sich bemerkbar machen. Die Tamboure


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