Improvisationstheater. Dan Richter

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Improvisationstheater - Dan Richter


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Fehlern. Man feiert das Scheitern geradezu. Für manche ist das Impro-Spielen in einem Workshop das erste von Kritik befreite Handeln seit Jahren. Man erlebt hier Vertrauen, hat Spaß, wird für das, was man tut, geschätzt. Viele entdecken so nach langer Zeit, dass sie über eine kräftige Stimme verfügen, dass sie etwas zu sagen haben, dass es nicht schlimm ist, wenn man sich verspricht oder mal Unsinn verzapft. Dieses Selbstvertrauen wirkt natürlich zurück auf den Alltag.

      Ein weiteres Beispiel: Für Impro-Spieler ist es unerlässlich, gut zuzuhören, denn sonst könnten sie ja nicht auf ihre Mitspieler eingehen. Zuhören zu können ist aber auch im Alltag eine wichtige Eigenschaft. Ob zuhörende Ärztinnen, Chefs, Eltern, Lehrerinnen, Ehepartner – praktisch in jedem Lebensbereich werden Menschen geschätzt, von denen man merkt, dass sie einem ihre Aufmerksamkeit widmen.

      Drittens: Schauspieler brauchen eine hohe emotionale Flexibilität. Egal, wie es ihnen am Tag des Auftritts geht – sie müssen in der Lage sein, verschiedene Emotionen glaubwürdig zu verkörpern. Improvisierende Schauspieler müssen diese Emotionen aus dem Moment, aus der Notwendigkeit der Szene abrufen. Diese Flexibilität, wenn sie nur häufig genug im Alltag praktiziert wird, hat zur Folge, dass man eher in der Lage ist, sich in andere hineinzuversetzen, man entwickelt ein sensibleres Mitgefühl für seine Mitmenschen. Außerdem wird man nicht so leicht Opfer seiner eigenen Emotionen, das heißt, man wird sich eher über die Bedingtheit der Emotion im klaren: Wenn ich auf der Bühne in der Lage bin, meine Emotionalität blitzschnell zu ändern, warum soll das dann nicht auch im alltäglichen Leben geschehen?

      Diese sozial und psychisch wertvollen Charaktereigenschaften – Zuhören, emotionale Flexibilität, Achtsamkeit für den Moment, Mut zum Unbekannten, spielerischer Umgang mit Fehlern, Großzügigkeit gegenüber anderen – werden durchs Impro-Spielen verstärkt. Improtheater hat eine quasi-therapeutische Wirkung.2 Diese Art von Selbsterfahrung sollte man nicht geringschätzen. Sie ist ein Grund, warum selbst Impro-Spieler, die wissen, dass ihr schauspielerisches Talent beschränkt ist, oft trotzdem dabei bleiben und ohne Publikum – lediglich in der Gruppe – improvisieren.

       1.3Die Mitspieler – Inspiration und Kooperation

      Die Freude an der gemeinsamen Kreativität finden wir zwar auch in vielen anderen Bereichen der Kunst.3 Aber im Improvisationstheater brauchen wir unsere Mitspieler nicht nur, sie sind Quelle unserer Inspirationen, sie transformieren das scheinbar Banale, das wir anbieten, zu magischer Größe.

      Das Miteinander von Improtheater-Spielern ähnelt dem Spiel einer frei improvisierenden Jazz-Band. Auch hier unterstützen sich die Spieler, geben einander Halt und erschaffen gemeinsam Neues. Ein improvisiertes Stück ist nicht nur die Summe der einzelnen Teile, die jeder beiträgt. Jeder Mitspieler inspiriert mich auf eine andere Weise. Als guter Impro-Spieler stellt man sich auf jeden Mitspieler neu ein. Selbst wenn Paul dasselbe sagt wie Isabel, löst die Art, wie er es sagt, andere Assoziationen aus. Was und wie ich Paul antworte, ist hoffentlich überraschend genug für ihn, um mich wieder mit einer weiteren Überraschung zu beschenken.

      Mit guten Impro-Spielern zusammenzuarbeiten, fühlt sich an, als würde man andauernd Liebes-Geständnisse bekommen und erwidern; denn was tun wir denn sonst, wenn wir die Angebote unseres Mitspielers akzeptieren, fortführen und ihnen Bedeutung geben – wir sagen ihm indirekt: „Danke für diese wunderbare Inspiration.“

       1.4Synchronisierte Kreativität

      Improtheater ist nicht die einzige Form der improvisierten Künste. Letztlich liegt jeder Kunst ein Stück Improvisation zugrunde. Jeder Künstler steht erst einmal vor dem Nichts – dem unbehauenen Stein, der leeren Leinwand, dem weißen Blatt, der Stille im Studio. Die Unterschiede zur „reinen“ Improvisation sind graduell: Wieviel Vorbereitung lasse ich zu? Wieviel Nachbearbeitung ist möglich?

      Die prominenteste Schwester des improvisierten Theaters ist wohl die Musik, insbesondere der Jazz und – in Verbindung mit improvisierter Dichtung – der Freestyle Rap. Ähnlich wie im Improtheater arbeitet der improvisierende Musiker selten allein, sondern mit einer Band. Es existieren ähnliche Regeln: Höre zu, arbeite am Gesamtwerk mit, gehe kreativ mit Fehlern um usw.

      Eines aber unterscheidet die Improtheater-Künstler von anderen improvisierenden Kollegen: Sie improvisieren auf mehreren künstlerischen Feldern gleichzeitig. Sie sind Schauspieler, Geschichten-Erfinder, Regisseure, Text-Autoren, abhängig vom Format oder improvisierten Stück oft auch Sänger, Komponisten, Tänzer, Choreographen, Lyriker. Im besten Fall entsteht so mit leichter Hand ein improvisiertes Stück, das die Zuschauer und die Künstler gleichermaßen fasziniert.

      Ein großer Teil dieser Faszination liegt darin, dass Improtheater eigentlich die ungeheure Anmaßung der Künstler ist, all diese Ebenen tatsächlich zu beherrschen. „Wie ist das überhaupt möglich?“, fragt man sich manchmal nach einer Improtheater-Show, sowohl als Zuschauer aber auch als Spieler.

      Wir entwickeln schauspielerisch Figuren, die es noch nie gegeben hat und nie wieder geben wird. Die Vorbereitungszeit für diese Figur beträgt nicht, wie bei unseren nicht-improvisierenden Schauspiel-Kollegen, mehrere Wochen oder Monate, sondern eine halbe Sekunde. Wenn wir anfangen nachzudenken, haben wir den Moment schon verloren. Jedes nachträgliche Anpassen oder Korrigieren würde für den Zuschauer zerstören, was er bereits gesehen hat.

      Wir erschaffen gemeinsam mit unseren Bühnenpartnern Storys, die ebenfalls einmalig sind. Das geschieht nicht, indem wir diese Storys vorher skizzieren und verabreden, sondern dadurch, dass wir durch unsere Kenntnis und unser Gefühl von Story-Strukturen die Geschichten einladen, sich zu entfalten.

      Die Szenenwechsel, die Auf- und Abgänge, die Bewegungen der Figuren auf der Bühne, sind ebenfalls nicht einstudiert, sondern entstehen organisch. Als geübter Impro-Spieler spürt man den Rhythmus einer Szene, erkennt ihren Bogen, nimmt ihre Dynamik wahr.

       1.5Interaktion mit dem Publikum

      Improvisationstheater ist heute fast immer interaktiv. Offensichtlich wird dies, wenn die Schauspieler das Publikum nach Vorschlägen oder Vorgaben für eine Szene fragen: Die „vierte Wand“ wird gebrochen. In dieser Situation spielen die Schauspieler keine Rolle, sie sind einfach nur die Schauspieler, die sich mit dem Publikum auf die Improvisation vorbereiten. Der Kunst wird hier der Heiligenschein genommen, die Schauspieler rücken den Zuschauern näher. Sie sind diejenigen, die (stellvertretend für die Zuschauer) das Wagnis der Improvisation eingehen.

      Das Publikum wird durch die Vorschläge auch konditioniert, genauer gesagt, das Zuschauen des Publikums wird konditioniert. Als Zuschauer fragen wir uns, ob es den Schauspielern gelingen wird, die Eifersuchts-Szene, wie vorgegeben, komplett gereimt vorzutragen, und dann auch noch an einem Königshof. Umso größer die Freude, wenn es tatsächlich funktioniert. Die Freude verdoppelt sich zudem für diejenigen Zuschauer, die die Vorschläge abgegeben haben, denn ihnen wird ein persönlicher Wunsch erfüllt. Alle Zuschauer sind mit der vorschlagenden Person verbunden. Man wünscht auch diesem einzelnen Zuschauer, dass die Szene gelingen möge. Und wenn die Szene schließlich vorbei ist, gibt es ein kollektives Gefühl, dass sich etwas erfüllt hat, der Kreis hat sich geschlossen.

      Nun gibt es aber durchaus Improvisations-Formate, die ganz ohne Publikums-Vorschläge auskommen oder in denen die Interaktion nur eine sehr geringe Rolle spielt: Stell dir vor, du kommst in eine Theatervorstellung und bist eine halbe Minute zu spät. Das Stück ist großartig. Ist es nun am Ende für dich von Bedeutung, ob es improvisiert war oder nicht? Diese Frage, der man manchmal als in Diskussionen über Improvisation begegnet, führt in die Sackgasse, denn entscheidend im Improtheater (wie auch in anderen improvisierten Künsten) betrachten wir nicht das Produkt vom Ende her, sondern immer als Prozess. Insofern spielt das Wissen, dass dieses Stück improvisiert ist ganz sicher während der Performance eine Rolle. Denn das Improvisieren selbst schafft die bereits erwähnte Doppelbindung, die dem


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