Gehirn. 100 Seiten. Markus Reiter

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Gehirn. 100 Seiten - Markus Reiter


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letzter Zeit gehen immer mehr Forscher davon aus, dass Gliazellen eine wichtige Rolle bei vielen neuronalen Prozessen wie Lernen und Erinnern spielen. Welche genau, weiß man noch nicht.

      Vom Kleinen zum Großen – das Gehirn als Ganzes

      Wenn in den Medien von neuen Erkenntnissen der Hirnforschung die Rede ist, heißt es oft: Bei dieser oder jener kognitiven Aktivität werde dieses oder jenes Hirnareal aktiv – und daraus könnten die Wissenschaftler unglaublich weitreichende Schlüsse ziehen. Sie ahnen schon: So einfach ist es nicht.

      Zum einen gibt die häufig eingesetzte funktionelle Magnetresonanztomographie nur unzureichend Auskunft darüber, welche Gehirnregion wann tatsächlich aktiv ist (das habe ich im ersten Kapitel bereits erläutert).

      Zum anderen setzt die Annahme voraus, dass es klar umrissene Zuständigkeitsbereiche in unserem Gehirn gibt. Oder ist das Gehirn als Ganzes für die einzelnen Funktionen zuständig? Die Frage ist seit dem 18. Jahrhundert heftig umstritten. Mal neigte sich die Mehrheitsmeinung der Forscher in die eine, mal in die andere Richtung. Heute sprechen Wissenschaftler lieber von Netzwerken und versuchen damit, beide Anschauungen unter einen Hut zu bringen.

      Trotzdem: Ganz falsch ist es nicht zu behaupten, die Funktionen seien im Gehirn bestimmten Arealen zuzuordnen, die miteinander in Kontakt stehen, sich gegenseitig beeinflussen und gemeinsam an bestimmten Aufgaben wirken. Seheindrücke zum Beispiel werden vornehmlich im visuellen Cortex verarbeitet, der sich im Hinterkopf im Okzipital- oder Hinterhauptslappen befindet. Die meisten kognitiven Aufgaben, zum Beispiel das Planen, Denken und das Management der Gefühle, werden vom Stirnhirn (dem Präfrontalcortex) gesteuert. Es kann also nicht schaden, sich den Aufbau des Gehirns genauer anzuschauen – auch hier für Schnellchecker als kurzer Überblick und für Neugierige detailliert erklärt.

      Gehirnaufbau für Schnellchecker

      Grob gesagt teilt sich das Gehirn in vier Teile:

      Da ist erstens der Hirnstamm, der sich um die grundlegenden Lebensfunktionen wie Atmung, Herzschlag und Verdauung kümmert. Er ist eine Art Technikzentrale und schließt direkt am Rückenmark an.

      Auf dem Hirnstamm sitzt, zweitens, das Kleinhirn. Es sorgt unter anderem dafür, dass wir nicht vornüber fallen, denn es steuert die Bewegung – was ein gewaltiger Rechenaufwand ist.

      Dann kommt, drittens, das Zwischenhirn. Es kontrolliert (oder auch nicht) unter anderem den Sexualtrieb, den Appetit, das Schlafen und Aufwachen und koordiniert die Sinneswahrnehmungen. Der Thalamus, eines seiner drei Teile (neben dem Hypothalamus und der Hirnanhangdrüse, der sogenannten Hypophyse), wird gern das »Tor zum Bewusstsein« genannt.

      Das Großhirn, viertens, ist der Boss von allem. Es macht rund 80 Prozent der Hirnmasse aus. Denken, Lieben, Hassen, Erinnern, Sprechen, der unstillbare Drang, eine ganze Staffel von Game of Thrones in einem Rutsch durchzugucken, oder die Lust, lieber einen Aufsatz von Derrida zu lesen: Das Meiste, um das es ab dem vierten Kapitel in diesem Buch geht, wird vom Großhirn gesteuert. Dieses Großhirn wiederum besteht aus einem für Gefühle zuständigen tiefer liegenden Teil, dem limbischen System, und vielen verschiedenen Arealen auf der Großhirnrinde, die sich alle um ihre speziellen Aufgaben kümmern.

      Das Gehirn und seine Teile

      Gehirnaufbau für Neugierige

      Vor nicht allzu langer Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass sich im Gehirn alles so gut zuordnen lässt, wie wir das für die Schnellchecker gemacht haben. So bezeichneten sie den Hirnstamm gern als »Reptilienhirn«, weil er entwicklungsgeschichtlich der älteste Teil ist: Er entstand bereits vor 500 Millionen Jahren. Folglich wiesen sie ihm nur vergleichsweise primitive Aufgaben zu. Je höher man gehe, desto anspruchsvoller würden die Aufgaben.

      Das ist nicht ganz falsch. Aber die Wirklichkeit ist, man ahnt es, wesentlich komplizierter. Zum Beispiel besteht der Hirnstamm selbst aus verschiedenen Teilen. Der untere Teil, das verlängerte Rückenmark (die Medulla oblongata) kümmert sich um die vegetativen Funktionen, also jene, die nicht dem Bewusstsein unterliegen, wie Atmung, Verdauung, Herzschlag. Es sorgt also dafür, dass man nicht ständig bewusstlos (oder tot) wird. Die darüber liegende Brücke (der Pons), ein olivenförmiger Nervenkern, verarbeitet bereits Sinneswahrnehmungen, etwa beim Hören. Das darüberliegende Mittelhirn ist vollgepackt mit weiteren Nervenkernen. Es hat viel mit Bewegungssteuerung zu tun. Wenn in einem dieser Kerne, der Substantia nigra, bestimmte Nervenzellen absterben, dann erkrankt der Betroffene an Parkinson.

      Anders als in vielen Unternehmen wurstelt im Gehirn keine Abteilung alleine vor sich hin. Die einzelnen Teile kommunizieren miteinander; höhere Hirnfunktionen beeinflussen tiefer liegende Teile des Gehirns und umgekehrt. So haben Wissenschaftler aus Leipzig kürzlich untersucht, was im Gehirn von erwachsenen Frauen passiert, die Lesen und Schreiben lernen – eindeutig eine kognitive Aufgabe, für die es tatsächlich zuständige Areale auf der Großhirnrinde gibt. Deshalb lautete die Arbeitshypothese der Forscher: Auf dieser neocortikalen Ebene wird kräftig umgebaut, wenn die neue Fähigkeit erlernt wird. Zu ihrem Erstaunen stellten die Forscher jedoch fest, dass sich die Alphabetisierung sogar auf den Hirnstamm auswirkte. In unserem Gehirn hängt alles zusammen. Viele Wissenschaftler sprechen deshalb lieber von Netzwerken, innerhalb derer die einzelnen Areale agieren. Das sollten Sie in Erinnerung behalten, wenn Sie in den folgenden Kapiteln von den Aufgaben einzelner Systeme wie der Amygdala, dem Hippocampus und dem Präfrontalcortex lesen.

      Ganz gut deutlich machen lassen sich die gegenseitigen Abhängigkeiten an einem beliebten Partythema, wenn es um das Gehirn geht: linkes Hirn, rechtes Hirn. Angeblich denken und analysieren wir mit der linken Hälfte; rechts sitzt unsere Kreativität. Ein ideenloser Erbsenzähler müsse einfach seine rechte Gehirnhälfte ankurbeln, und werde – schwuppdiwupp – zum Künstler.

      Was stimmt davon? In der Tat ist das Gehirn in zwei Hälften unterteilt, die durch ein dickes Nervenbündel aus rund 200 Millionen Nervenfasern, dem Balken, miteinander verbunden sind. Neurowissenschaftler sprechen in diesem Fall von Lateralität. Bei einigen wenigen Menschen haben Ärzte den Balken durchtrennt, um eine schwere Epilepsie zu lindern. Der amerikanische Hirnforscher Michael Gazzaniga (* 1939) hat viele dieser sogenannten Split-Brain-Patienten untersucht. Auf den ersten Blick wirken sie unauffällig. Gazzaniga gelang es jedoch, mit geschickten Experimenten Beeinträchtigungen zu zeigen, aus denen man viel über die Funktionsweise des Gehirns lernen kann.

      Ein Beispiel: Unsere Augen sind kreuzweise mit den Hirnhälften vernetzt. Informationen aus dem linken Gesichtsfeld werden in der rechten Hemisphäre verarbeitet und umgekehrt. Gazzaniga zeigte Split-Brain-Patienten im linken Gesichtsfeld ein Objekt. Das rechte Auge war abgedeckt. Er fragte sie, was sie sehen. Antwort: »Keine Ahnung!« Weil die entscheidenden Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte angesiedelt sind, hatten die Patienten keine Worte für ihren visuellen Eindruck.

      Die meisten Neurowissenschaftler halten den Linkes-Hirn-rechtes-Hirn-Partytalk allerdings für so vereinfacht, dass sie ihn als Unsinn bezeichnen. Das gilt vor allem für die Vorstellung, man müsse nur seine rechte Hemisphäre richtig im Schwung bringen, um kreativ zu werden. Wenn es sich nicht gerade um einen Split-Brain-Patienten handelt, kommunizieren die beiden Hirnhälften bei jedem Menschen jederzeit miteinander – übrigens bei Männern so stark wie bei Frauen (deren angeblicher Gehirn-Unterschied auch ein beliebtes Partythema ist).

      Das gilt zum Beispiel beim Sprechen und Zuhören: Zwar werden Wortbedeutung und Grammatik linkshemisphärisch analysiert; Sprachmelodie und Tonfall aber verarbeitet die rechte Hirnhälfte (mehr zu den Aufgaben in der Infografik). Bei einigen Schlaganfallpatienten kann es nun vorkommen, dass die rechte Hemisphäre geschädigt


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