Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich

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Handbuch des Strafrechts - Bernd  Heinrich


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href="#uacec4988-33a8-4d89-a098-9278756f663e">Rn. 27 ff.).[68]

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      Diese Anknüpfung an einen Facharztstandard darf nicht als formelle Qualifikationsanforderung für die Rechtmäßigkeit ärztlichen Handelns missverstanden werden. Es handelt sich vielmehr um ein materielles Kriterium, das die rechtlich gebotene Qualität ärztlicher Behandlung am Maßstab eines Facharztes dieser Fachrichtung ausrichtet.[69] Entspricht eine ärztliche Behandlung diesem Standard, so handelt auch ein formell mangels Facharztprüfung nicht entsprechend qualifizierter Arzt nicht sorgfaltswidrig.[70] Während es in derartigen Fällen im Bereich zivilrechtlicher Arzthaftung zu Lasten des Arztes zu einer Beweislastumkehr in Bezug auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden kommt,[71] ist der Verstoß gegen dieses formelle Kriterium strafrechtlich nicht relevant. Allerdings wird mitunter für einen Arzt, der einen Noch-nicht-Facharzt anleitet und überwacht, eine derart formelle Qualifikation gefordert; begründet wird dies damit, dass diese anleitende und beaufsichtigende Tätigkeit über einen Noch-nicht-Facharzt eine besondere Kompetenz, Souveränität und Verantwortung erfordere.[72] Aber auch in derartigen Fällen sollte darauf abgestellt werden, ob der zu überwachende Nicht-Facharzt bei seiner konkreten Behandlung den materiellen Anforderungen an fachärztliche Tätigkeit entsprochen hat. Sollte dies nicht der Fall sein, dann ist allerdings unabhängig von der formellen Qualifikation des überwachenden Arztes dessen Strafbarkeit möglich.[73]

aa) Leitlinien und Standard

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      Auch im Bereich ärztlichen Handelns bestimmt sich die rechtlich maßgebliche Sorgfalt nach dem Verhalten besonnen und gewissenhaft Handelnder, so dass auch hier die für den Berufskreis des Täters geltenden Rechtssätze und Verkehrsgepflogenheiten zu beachten sind. Für die Bestimmung der zu fordernden Sorgfalt bei der strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung kommt den diesbezüglichen Sondernormen auch nichtgesetzlicher Natur indizielle Bedeutung zu, die für den jeweiligen Verkehrskreis spezifische Anforderungen an sorgfaltsgemäßes Verhalten aufstellen.[74] Mehr als diese indizielle Bedeutung ist ärztlichen Richt- und Leitlinien[75] aber nicht zuzusprechen.[76] Andernfalls läge eine unzulässige Selbstentmachtung des Gesetzgebers zugunsten nicht legitimierter Privater vor.[77] Diese Wirkung, die aber keineswegs mit einer richterlichen Bindung im Wege eines antizipierten Sachverständigengutachtens in eins gesetzt werden darf,[78] kommt als Dokumentation redlicher Praxis nicht nur im zivilrechtlichen Haftpflichtprozess, sondern auch im Strafverfahren eine Rationalisierungsfunktion zu.[79] Eine richterliche Inbezugnahme bei der Bestimmung ärztlicher Sorgfaltspflicht kann aber keineswegs im Wege einer strikten und vorbehaltslosen Anbindung an die Maßstäbe erfolgen,[80] die sich außerhalb des staatlich gesetzten Rechts entwickelt haben. Vielmehr ist eine richterlich kontrollierte Rezeption geboten:[81] Der Rechtsanwender übernimmt diese außerrechtlich gebildeten „Normen“ nicht unmittelbar, sondern hat sie unter dem Blickwinkel der normativen Schutzzielbestimmung der von ihm anzuwendenden Generalklausel zu überprüfen, vorliegend also unter dem Blickwinkel der die Rechtsgüter Leben bzw. Gesundheit/Körperintegrität des Patienten schützenden Generalklausel der Sorgfaltswidrigkeit in den §§ 222, 229 StGB. Auf diese Weise bleibt der auch verfassungsrechtlich gebotene Vorrang der staatlich gesetzten Rechtsordnung vor privater Rechtsetzung gewahrt. Die medizinisch herausgebildeten Standards wirken mithin informativ und nicht normativ.[82] Eine unbesehene Inbezugnahme von außergesetzlichen Regelungssystemen würde hingegen letztlich eine faktische Delegation von Rechtsetzungsmacht[83] an hierfür demokratisch nicht Legitimierte (hier also bspw. an die Bundesärztekammer oder an medizinische Fachgesellschaften) bedeuten. Eine entsprechende Delegation wäre nicht mit den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates für grundrechtlich geschützte Güter seiner Bürger zu vereinbaren.[84] Die bei der Einpassung von Problemlösungen, die im gesellschaftlichen Bereich staatsfern entwickelt wurden, in die für alle verbindliche Rechtsordnung (hier also: bei der Rezeption ärztlicherseits gebildeter Richt- bzw. Leitlinien) zu beachtenden Kautelen haben folgendem Umstand Rechnung zu tragen: Bei dieser Verfahrensweise handelt es sich keineswegs um eine begrüßenswerte Selbstbeschränkung des Gesetzgebers, der bei seinem Zurücktreten hinter gesellschaftliche Selbstregulation der Nachrangigkeit staatlicher Problemlösung (Subsidiarität) vorbildlich Rechnung trüge. Ließe man nämlich die medizinische Profession allein über das erlaubte Maß der für den Patienten zulässig zu setzenden Risiken entscheiden, so läge eine mit der Schutzpflicht des Staates für grundrechtlich geschützte Güter des Einzelnen nicht mehr vereinbare Kompetenzübertragung an Private (Neokorporatismus) vor.[85] Es kann nicht Angelegenheit einer Profession sein, selbst die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ihre Mitglieder in Rechtsgüter Dritter eingreifen dürfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der namentlich den ärztlichen Standesorganisationen staatlicherseits verliehenen Autonomie. Diese beschränkt sich auf die Regelung eigener Angelegenheiten. Diese berufsständische Regelungshoheit endet aber dann, wenn hierdurch grundrechtliche Positionen insbesondere bei Dritten betroffen sind.[86] Eine unbesehene Gleichsetzung von richtlinien- bzw. leitlinienkonformem Verhalten mit fehlender strafrechtlicher Sorgfaltswidrigkeit verbietet sich im Übrigen bereits aufgrund der unterschiedlichen Ordnungsfunktionen einer binnenfunktional wirkenden ärztlichen „Normsetzung“ einerseits, der Allgemeingültigkeit staatlichen Rechts andererseits.[87]

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      Da auch das zivil- und strafrechtliche Haftungsrecht auf den medizinischen Standardbegriff rekurriert,[88] ist letztlich jede rechtliche Entscheidung zunächst von der – durch die ärztliche Profession selbst definierten[89] – medizinisch-normativen Aussage abhängig, dass eine Behandlung dem Standard entspreche. Folglich stellt letztlich auch die rechtliche Bewertung der Ordnungsgemäßheit einer Behandlung eine Mischung von medizinischer Qualitätskontrolle und deren Rezeption in den rechtlichen Rahmen des zivil- und strafrechtlichen Haftungsrechts dar.[90] Angesichts des Rekurrierens des Haftungsrechts auf den medizinischen Standard steht letztlich jede rechtliche Entscheidung in Abhängigkeit zu einer normativ geprägten medizinischen Aussage,[91] die Behandlung entspreche dem Standard.[92] Dies ändert aber nichts daran, dass der in diesen medizinischerseits gesetzten „Sondernormen“ enthaltene Pflichtenkanon mit dem strafrechtlich gebotenen Pflichtenstandard zwar korrelieren kann; er vermag ihn aber nicht allein zu determinieren.[93] Bei diesem interdisziplinären Entscheidungsprozess über die Bildung strafbelegter Handlungsvorgaben hat das Recht die Letztentscheidungsbefugnis![94]

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      Hiermit soll nicht die Rationalisierungsfunktion[95] von Leitlinien im Haftungsprozess bestritten werden: In ihnen kommt nicht nur eine individuell-ärztliche, sondern eine institutionell-ärztliche Bewertung zum Ausdruck.[96] Dies ändert aber nichts daran, dass für die (straf)rechtliche Bewertung die Verfehlung des in casu gebotenen Standards maßgeblich ist: Der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall, also die Standardanwendung im Einzelfall, bedarf einer individuell-sachverständig unterstützten Bewertung,[97] weil namentlich Leitlinien ihrerseits begründete Abweichungen erlauben oder sogar gebieten. Diese Entscheidung hat der regelmäßig sachverständig beratene Rechtsanwender zu treffen, dem es ermöglicht wird, anhand von Richt- und Leitlinien eine gewisse Plausibilitätskontrolle der Aussagen des Sachverständigen vorzunehmen. Die Abweichung von einer den Standard korrekt abbildenden Richt- oder Leitlinie stellt aber nie automatisch einen Behandlungsfehler dar,[98] da die medizinische Plausibilität der Gründe für die Abweichung im Einzelfall über die Korrektheit oder Fehlerhaftigkeit der Behandlung entscheidet. Der Standard trifft eine Aussage „über die Behandlung von Kollektiven, nicht von Individuen“.[99] Liegt konkret eine unbegründete Abweichung von einer Richt- oder Leitlinie vor, so vermag dies dann nur im Zivilrecht eine Vermutung zugunsten des Patienten hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für die Rechtsverletzung auszulösen, sofern es sich um einen groben Behandlungsfehler[100] handelt.[101] Im Strafrecht gilt für die zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Kausalität und Zurechnung zwischen dem Behandlungsfehler, der die Sorgfaltswidrigkeit begründet,


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