Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
Читать онлайн книгу.zur Fahrlässigkeitsrestriktion angestellte Überlegung sein: In bestimmten Tätigkeitsfeldern (z.B. im Straßenverkehr oder bei der Heilbehandlung) hat es letztlich der Einzelne, dessen Handlung vom Ansatz her als angemessenes Mittel zur Erreichung eines sozialnützlichen „Gesamtbetriebszweckes“ anzusehen ist, nicht mehr in der Hand, stets durch eigenes Verhalten seine Bestrafung zu vermeiden,[743] es sei denn, er würde entsprechende risikoträchtige, gesamtgesellschaftlich aber als nützlich (oder gar unerlässlich) erachtete Tätigkeiten völlig unterlassen. Deshalb sollten jedenfalls typischerweise fehleranfällige Verhaltensweisen, die Teil einer gesamtgesellschaftlich trotz ihres Risikopotentials für nützlich eingestuften und deshalb als akzeptabel angesehenen „Betriebstätigkeit“ sind, auch bei einer leicht fehlerhaften Einzelhandlung („kann jedem einmal passieren“) nicht mehr als eine rechtlich missbilligte Gefahrschaffung eingestuft werden. Auf diese Weise wird der Widerspruch zwischen einer auf Nutzen-Kosten-Kalkulation beruhenden gesellschaftlichen Risikoakzeptanz des „Gesamtbetriebes“ (hier: Heilbehandlung) und der Sanktionierung einer hierfür vorauszusetzenden, unvermeidlich aber fehlerträchtigen Mitwirkung Einzelner an eben diesem „Betrieb“ vermieden.[744] Auch verstößt dieser restriktive Ansatz angesichts des ausgeuferten zivilrechtlichen Arzthaftungsrechts nicht gegen ein aus verfassungsrechtlichen Schutzpflichten hergeleitetes sog. Untermaßverbot zum Schutze der Grundrechtsgüter Leib und Leben des Patienten.[745]
116
Auf Basis dieser Überlegungen können dann allerdings die sich immer stärker verästelnden, insbesondere auf Chancengleichheit im Arzt-Patienten-Verhältnis (mittels Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten[746]) abzielenden Judikate der Zivilrechtsprechung nicht pauschal übernommen werden. Sicherlich kommt Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht in Betracht, wenn schon aus zivilrechtlicher Sicht kein Sorgfaltsverstoß vorliegt.[747] Umgekehrt besteht aber diese Akzessorietät – ungeachtet eines hiermit verbundenen Gewinns an Rechtssicherheit[748] – unter dem Blickwinkel von Verhältnismäßigkeitsprinzip[749] und Schuldgrundsatz[750] keineswegs.[751] Dem steht auch nicht der Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ entgegen: Die Rechtsordnung ist in einzelne Gebiete ausdifferenziert, die die auftretenden Interessenkonflikte nach den ihr jeweils zugewiesenen Funktionen und Aufgaben zu lösen haben; Einheit der Rechtsordnung kann deshalb nur als Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung verstanden werden. Sie gebietet keine sachwidrige Gleichbehandlung der Rechtsfolgen eines Sachverhaltes in verschiedenen, von ihrem Aufgabenbereich her abweichenden Regelungsbereichen.[752]
117
Zukünftig sollte die gebotene Haftungsbegrenzung bereits de lege lata durch eine sinnvolle Beschränkung ärztlicher Sorgfaltspflichten bewerkstelligt werden.[753] Dies wird – wenn auch leider nur vereinzelt – sogar im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht praktiziert:[754] So ist bei der Diagnose-Stellung (Rn. 82) dem Arzt ein Beurteilungs- und Bewertungsspielraum eingeräumt;[755] ein Behandlungsfehler wird erst dann angenommen, wenn dem Arzt bei seiner Fehldiagnose ein evidenter Irrtum unterläuft, so dass seine Fehlinterpretation als unvertretbar einzustufen ist.[756] Dieser ärztliche Spielraum sollte – den über den ärztlichen Tätigkeitsbereich hinausreichenden Vorschlag von Mikus[757] aufgreifend – allgemein bei der Heilbehandlung[758] anerkannt werden: Immer dann, wenn der Handelnde mangels normativer Leitlinie letztlich zu eigener Entscheidung aufgerufen ist, handelt er nicht sorgfaltswidrig, wenn sein Verhalten als (zwar nicht optimal, aber noch) vertretbar einzustufen ist. Unvertretbar wäre erst ein unverantwortliches Handeln.[759] Damit dürfte eine gewisse Nähe zu dem von der zivilrechtlichen Arzthaftung her bekannten (und dort zur Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität führenden[760]) Institut des groben Behandlungsfehlers erreicht sein, der bislang strafrechtlich allenfalls im Rahmen der Strafzumessung sowie der Art der Verfahrenserledigung eine Rolle spielt.[761] Für die Annahme eines derartigen schweren Behandlungsfehlers genügt es nicht, dass ein ärztliches Verhalten vorliegt, wie es einem hinreichend befähigten und allgemein verantwortungsbewussten Arzt zwar zum Verschulden gereicht, aber doch passieren kann; es muss vielmehr ein Fehlverhalten vorliegen, das aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint,[762] weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht „schlechterdings nicht unterlaufen darf“.[763] Dieser Bereich dürfte sich – auch angesichts einer Konkretisierung durch zivilrichterliche Fallgruppenbildung – einigermaßen rechtssicher bestimmen lassen.
118
Stellt man bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit wegen eines Behandlungsfehlers auf eine gravierende ärztliche Pflichtverletzung ab, so würde eine Überlegung nutzbar gemacht, die auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Judikat aus dem Jahre 2010[764] zugrunde gelegt hat: Eine zur Verfassungswidrigkeit führende Unbestimmtheit des § 266 StGB wurde nur deshalb verneint, weil Unklarheiten über seinen Anwendungsbereich durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung ausgeräumt werden können. Diese höchstrichterlich aufgegebene Nachjustierung des Untreuestrafrechts legt allgemein gesprochen dem Strafrechtsanwender die verfassungsrechtliche Pflicht auf, relativ unbestimmt formulierten Tatbeständen im Wege der Normkonkretisierung schärfere Konturen zu verleihen.[765] Hierbei ist darauf zu achten, keine Fälle zu erfassen, denen es unter Berücksichtigung des subsidiären Charakters des Strafrechts an Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit mangelt.[766] Dies sollte nicht nur beim Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht (Rn. 130 ff.),[767] sondern auch beim Behandlungsfehler beherzigt werden.
1. Hypothetische Einwilligung im Zivilverfahren
119
Sowohl im Bereich zivilrechtlicher als auch strafrechtlicher ärztlicher Verantwortlichkeit kommt neben der Zurechnung von Behandlungsfehlern auch etwaigen Aufklärungsmängeln besondere Bedeutung zu. Diese führen zu einer Haftung bzw. Strafbarkeit infolge rechtswidriger Körperverletzung, da die Einwilligung des Patienten in diesen Fällen unwirksam ist.[768] Immer höher geschraubten ärztlichen Aufklärungslasten[769] soll mit dem Rechtsinstitut der hypothetischen Einwilligung gegengesteuert werden.[770] Dieses Institut knüpft daran an, dass ein nicht hinreichend aufgeklärter Patient ggf. auch bei einer den rechtlichen Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte. Auf diese Weise kann – so der Ausgangspunkt im Zivilrecht[771] – möglicherweise dem Vorbringen des Patienten, der Arzt habe seine Aufklärungspflicht verletzt – einem Ersatz für vermutete, aber nicht hinlänglich beweisbare Behandlungsfehler[772] – begegnet werden. Die Erfolgsaussichten einer entsprechenden Schadensersatzklage wegen Körperverletzung sind größer, als wenn der Patient sein Begehren auf einen Behandlungsfehler stützen würde: Ein Patient, der sich als Opfer eines ärztlichen Behandlungsfehlers sieht, muss vom Ansatz her sowohl die ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung als auch die Voraussetzungen der haftungsbegründenden und -ausfüllenden Kausalität darlegen und ggf. beweisen. Insoweit helfen ihm in Bezug auf die Kausalität zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und eingetretener Gesundheitsbeschädigung auch die Grundsätze des Anscheinsbeweises zumeist nicht weiter, da dieser nicht in Betracht kommt, sobald vom beklagten Arzt die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des vom Patienten angeführten typischen Geschehensablaufs dargetan wird.[773] Günstiger ist die Position des Patienten nur im Falle eines groben Behandlungsfehlers; hier kehrt sich die Beweislast für die schadensbegründende Kausalität zulasten des Arztes um.[774] Im Bereich strafrechtlicher Verantwortlichkeit kommen derartige Beweisverschiebungen zulasten des Täters von vornherein nicht in Betracht.
120
In Arzthaftungsprozessen,[775] in denen der Patient eine nicht hinreichende Aufklärung geltend macht, pflegt ärztlicherseits die entlastende Behauptung aufgestellt zu werden, der Patient hätte dem Eingriff auch dann zugestimmt, wenn er hinreichend aufgeklärt worden wäre. Für die hiermit geltend gemachte hypothetische Einwilligung trifft den Arzt