Wachtmeister Studer. Friedrich Glauser

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Wachtmeister Studer - Friedrich  Glauser


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hatte: »Deine Dich ewig liebende Sonja…« Sonja? Es hießen nicht viele Mädchen Sonja…

      Dort stand das Mädchen, vor dem Kiosk, dessen Fenster mit farbigen Einbänden tapeziert war. Es beugte sich zum kleinen Schiebfenster und Studer hörte es sagen:

      »Ich geh jetzt heim, Mutter. Wann kommst du?«

      Ein Gemurmel war die Antwort.

      Also doch die Sonja Witschi… Und die Mutter mußte man sich auch gleich ansehen. Die Mutter, die durch die Vermittlung des Herrn Gemeindepräsidenten Aeschbacher den Bahnhofkiosk erhalten hatte.

      Frau Witschi hatte die gleiche spitze Nase, das gleiche spitze Kinn wie ihre Tochter.

      Studer kaufte zwei Brissagos, dann schlenderte er über den Bahnhofplatz. Eine Bogenlampe. Um ihren Sockel ein Beet mit roten, steifen Tulpen. Aus einem der oberen Fenster des Bahnhofes schmetterte ein Lautsprecher den Deutschmeistermarsch. Etwa fünfzig Schritte vor dem Wachtmeister ging das Mädchen Sonja.

      Vor einem Coiffeurladen stand ein bleicher Jüngling, der einen weißen Mantel mit blauen Aufschlägen trug. Sonja trat auf den Jüngling zu, Studer blieb vor einem Laden stehen. Er schielte zu dem Paar hinüber, das sich flüsternd unterhielt, dann reichte das Mädchen dem Jüngling einen Gegenstand und trippelte davon. Aus der Tür des Coiffeurladens quoll eine knödlige Stimme: »Sie hören jetzt das Zeitzeichen des chronometrischen Observatoriums in Neuchâtel…« Und gedämpft, durch die geschlossene Türe drang aus dem Laden, vor dem Studer stand, der ›Sambre et Meuse‹-Marsch…

      »Das Dorf Gerzenstein liebt Musik…«, stellte der Wachtmeister bei sich fest und betrat den Coiffeurladen.

      Er stellte den Koffer ab, hing seinen blauen Regenmantel an den Ständer und nahm aufseufzend in einem Fauteuil Platz.

      »Rasieren«, sagte er.

      Als der Jüngling sich über Studer beugte, sah der Wachtmeister zwischen den blauen Aufschlägen des Friseurmantels, im oberen Westentäschchen, den dicken Füllfederhalter, den das Mädchen Sonja im Zuge aus der Mappe genommen hatte.

      Studer fragte aufs Geratewohl:

      »Gäbig, he? Wenn man eine Freundin hat, die einem einen teuren Füllfederhalter schenkt?«

      Einen Augenblick blieb der schaumige Pinsel über seiner Wange hängen. Studer betrachtete die Hand, die den Pinsel hielt. Sie zitterte. Also stimmte etwas nicht. Aber was? Studer sah im Spiegel das Gesicht des Jünglings. Es war käsig. Die allzu roten Lippen waren geschürzt und ließen die oberen Zähne sehen, die bräunlich und schadhaft waren. Hatte sich Sonja in diesen Ladenschwengel verliebt? Da war doch der Schlumpf ein anderer Bursch, trotz seiner Vergangenheit, trotz seiner Verzweiflung gestern… Gestern? War das erst gestern gewesen? — Da hing einer am Fensterkreuz, da schrie einer in der Zelle, in der noch die Kälte des Winters hockte — und draußen vor den Fenstern sang eine Kleinmädchenstimme:

      »Allewil, allewil blib i dir treu…«

      Sanft strich der Pinsel wieder über Studers Wangen.

      — Ob er ihn denn so erschreckt habe, fragte Studer den käsigen Jüngling. Der schüttelte den Kopf. Studer beruhigte ihn weiter. Da sei doch weiter nichts dabei, wenn man von einer Freundin ein Geschenk erhalte. Obwohl es ihn immerhin merkwürdig dünke, daß ein Mädchen, das Löcher in den Strümpfen habe, so teure Füllfederhalter verschenken könne…

      — Der Füllfederhalter sei eine Erbschaft vom Vater… ja eine Erbschaft.

      Die Stimme des Jünglings war heiser, so, als ob Mund, Zunge, Rachen ausgedörrt seien.

      In der Ecke schnatterte der Lautsprecher — und plötzlich gab es Studer einen Ruck. Was der Mann irgendwo, ganz fern, am Mikrophon erzählte, ging auch ihn an. Der Jüngling, der abwesend mit dem Pinsel in dem Becken gerührt hatte, stellte seine Tätigkeit ein und verharrte reglos.

      Besonders eindringlich sagte die ferne Stimme:

      »Bevor wir unser Mittagskonzert fortsetzen, habe ich Ihnen noch eine kurze Mitteilung der kantonalen Polizeidirektion Bern zu machen: Seit gestern abend wird Herr Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger, Gerzenstein, vermißt. Es scheint sich um eine brutale Entführung zu handeln, deren Hintergründe bis jetzt noch nicht aufgehellt sind. Der Vermißte kehrte gestern abend in Begleitung seines Meisters, Herrn Ellenberger, mit dem Zehn-Uhr-Zug von Bern heim. Gerade als beide in den Feldweg einbiegen wollten, der außerhalb des Dorfes Gerzenstein liegt, wurden sie von einem Auto mit gelöschten Lichtern von hinten angefahren. Herr Gottlieb Ellenberger fiel mit dem Kopfe gegen einen Randstein und erlitt eine leichte Gehirnerschütterung. Als er aus einer kurzen Ohnmacht erwachte, sah er, daß sein Begleiter, Herr Jean Cottereau, verschwunden war. Von dem Auto war keine Spur zu entdecken. Trotz heftiger Kopfschmerzen begab sich Herr Ellenberger auf den Posten der Kantonspolizei. Die mit Hilfe des Landjägerkorporals Murmann und einiger Einwohner durchgeführte Streife in die Umgebung des Dorfes verlief resultatlos. Bis jetzt ist von dem Vermißten keine Spur zu entdecken gewesen. Das Signalement des Vermißten gibt die Kantonspolizei wie folgt an:

      Größe 1 Meter 60, korpulent, rotes Gesicht, spärliche Haare, schwarzer Anzug… Sachdienliche Mitteilungen sind zu richten…«

      Der Jüngling machte einige schleichende Schritte. Ein Knax. Die Stimme verstummte. Dann kam der Jüngling zurück. Das Klappen des Messers auf dem Abziehholz war deutlich zu hören.

      »Geht‘s Messer?« fragte er, als er eine Wange rasiert hatte.

      Studer brummte.

      Dann wieder Schweigen.

      Der Jüngling war fertig, Studer wusch sich über dem Becken.

      »Stein?« fragte der Jüngling und drückte rhythmisch auf die Gummiblase eines Zerstäubers.

      »Nein«, sagte Studer. »Puder.«

      Sonst wurde nichts gesprochen.

      Beim Fortgehen bemerkte Studer auf einem Tischchen im Hintergrunde einen Stapel broschierter Bändchen. Er sah sich den Titel des obersten an.

      ›John Klings Erinnerungen‹, stand darauf. Darunter:

      ›Das Geheimnis der roten Fledermaus.‹

      Studer grinste unter seinem Schnurrbart, als er den Laden verließ.

      Läden, Lautsprecher, Landjäger

      Dieses Gerzenstein!« murmelte Studer. An jedem Haus war ein Schild angebracht, rechts und links der Straße: Metzgerei, Bäckerei, Lebensmittelgeschäft, Ablage des Konsumvereins; Migros; dazwischen eine Wirtschaft, dann noch eine: Zum Klösterli, Zur Traube. Dann weiter: Metzgerei, Drogerie, Tabak und Zigarren; ein großes Schild: Kapelle der apostolischen Gemeinschaft. Dahinter, in einem Garten: Heilsarmee. Eine schmale Wiese unterbrach die Reihe. Aber gleich darauf begann es wieder: Apotheke, Drogerie, Bäckerei. Ein Arztschild: Dr. med. Eduard Neuenschwander. — So, so, der Mann, der die erste oberflächliche Untersuchung der Leiche gemacht hatte… Dann endlich, Studer dachte schon, er habe den Weg verfehlt, sah er ein breites, behäbiges Haus, aus grauem Stein erbaut, mit einem ausladenden Dach: den Gasthof zum ›Bären‹.

      Der Wachtmeister verlangte ein Zimmer und bekam eine Mansarde unterm Dach. Sie war sauber, roch nach Holz, das Fenster ging nach hinten auf eine Wiese, die überzogen war von weißem, blühendem Schaum. Nach der Wiese kam ein Roggenfeld von zart violetter Farbe. Und der Wald als Abschluß zeigte auf einem schwarzen Tannengrund die hellen grünen Flecke einiger Laubbäume. Diese Farben gefielen Studer ausnehmend. Er blieb ein paar Minuten am Fenster stehen, packte seinen Koffer aus, wusch sich die Hände und stieg wieder die Treppen hinunter. Er sagte der Kellnerin, er werde etwa in einer halben Stunde zum Essen kommen. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Landjägerposten.

      Und als er die Dorfstraße entlangging, vorbei an den vielen Schildern, die sich folgten, fiel ihm eine zweite Eigentümlichkeit dieses Gerzensteins auf. Aus jedem Hause drang Musik: manchmal unangenehm laut aus einem geöffneten Fenster, manchmal dumpfer, wenn die Fenster geschlossen waren.

      »Gerzenstein,


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