Der Zauberberg. Volume 1. Томас Манн

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Der Zauberberg. Volume 1 - Томас Манн


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verstand, so machte sein still anschauendes Kinderauge im wesentlichen doch ganz die-selben Wahrnehmungen, – wortlose und also unkritische, viel-mehr nur lebensvolle Wahrnehmungen, die übrigens auch spä-ter, als bewußtes Erinnerungsbild, ihr wort – und zergliede-rungsfeindliches, schlechthin bejahendes Gepräge durchaus be-wahrten. Wie gesagt war da Sympathie im Spiele, jene ein Glied überspringende Nächstverbundenheit und Wesensverwandt-schaft, die nichts Seltenes ist. Kinder und Enkel schauen an, um zu bewundern, und sie bewundern, um zu lernen und auszubil-den, was erblicherweise in ihnen vorgebildet liegt.

      Senator Castorp war hager und hochgewachsen. Die Jahre hatten ihm Rücken und Nacken gekrümmt, aber er suchte die Krümmung durch Gegendruck auszugleichen, wobei sein Mund, dessen Lippen nicht mehr von Zähnen gehalten wurden, sondern unmittelbar auf dem leeren Zahnfleisch ruhten (denn sein Gebiß legte er nur zum Essen an), sich auf würdigmühsa-me Art nach unten zog, und hierdurch eben, wie auch wohl als Mittel gegen eine beginnende Unfestigkeit des Kopfes, kam die ehrenstreng aufgerückte Haltung und Kinnstütze zustande, die dem kleinen Hans Castorp so zusagte.

      Er liebte die Dose – es war eine längliche, mit Gold eingelegte Schildpattdose, die er handhabte, – und benutzte aus die-sem Grunde rote Taschentücher, deren Zipfel ihm aus der hinte-ren Tasche seines Gehrocks zu hängen pflegten. War das eine heitere Schwäche in seiner Erscheinung, so wirkte sie doch durchaus als Alterslizenz, als eine Nachlässigkeit, wie die Betagtheit sie sich entweder bewußt und jovialerweise gestattet oder in ehrwürdiger Unbewußtheit mit sich bringt; und jeden-falls blieb sie die einzige, die Hans Castorps kindlicher Scharf-blick je an des Großvaters Äußerem gewahrte. Für den Sieben-jährigen aber sowohl wie später in der Erinnerung des Herange-wachsenen war die alltägliche Erscheinung des Alten nicht seine eigentliche und wirkliche. In eigentlicher Wirklichkeit sah er noch anders, weit schöner und richtiger aus, als gewöhnlich, – nämlich so, wie er auf einem Gemälde, einem lebensgroßen Bildnis erschien, das früher im elterlichen Wohnzimmer gehan-gen hatte und dann zusammen mit dem kleinen Hans Castorp an die Esplanade übergesiedelt war, wo es seinen Platz über dem großen rotseidenen Sofa im Empfangszimmer erhalten hatte.

      Es zeigte Hans Lorenz Castorp in seiner Amtstracht als Rats-herrn der Stadt – dieser ernsten, ja frommen Bürgertracht eines verschollenen Jahrhunderts, die ein zugleich gravitätisches und verwegenes Gemeinwesen durch die Zeiten mitgeführt und in pomphaftem Gebrauch erhalten hatte, um zeremoniellerweise die Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Vergan-genheit zu machen und den steten Zusammenhang der Dinge, die ehrwürdige Sicherheit ihrer Handlungsunterschrift zu be-kunden. Senator Castorp stand da in ganzer Figur, auf rötlich gepflastertem Boden, in einer Pfeiler – und Spitzbogen-Perspektive. Er stand, das Kinn gesenkt, den Mund nach unten gezogen, die blauen, sinnig blickenden Augen mit den Tränensäcken dar-unter ins Weite gerichtet, in dem schwarzen und mehr als knielangen, talarartigen Überrock, der, vorne offen, am Rande und Saume eine breite Pelzverbrämung zeigte. Aus weiten, hochgepufften und bordierten Oberärmeln kamen engere Unterärmel von schlichtem Tuch hervor, und Spitzenmanschetten bedeckten die Hände bis zu den Knöcheln. Die schlanken Greisenbeine staken in schwarzseidenen Strümpfen, die Füße in Schuhen mit silbernen Schnallen. Um den Hals aber lag ihm die breite, ge-stärkte und vielfach gefaltete Tellerkrause, vorn niedergedrückt und an den Seiten aufwärts geschwungen, unter welcher hervor tum Überfluß noch ein gefaltetes Batistjabot auf die Weste hing. Unter dem Arme trug er den altertümlichen Hut mit brei-irr Krempe, dessen Kopf sich nach oben verjüngte.

      Es war ein vortreffliches Bild, von nahmhafter Künstlerhand geschaffen, mit gutem Geschmack in dem altmeisterlichen Stile gehalten, den der Gegenstand nahelegte, und in dem Beschauer allerlei spanisch-niederländisch-spätmittelal-terliche Vorstellun-gen weckend. Der kleine Hans Castorp hatte es oft betrachtet, nicht mit Kunstverstand natürlich, aber doch mit einem gewis-sen allgemeineren und sogar eindringlichen Verstande; und ob-gleich er den Großvater so, wie die Leinwand ihn darstellte, in Person nur ein einziges Mal, bei einer feierlichen Auffahrt am Rathaus, und auch da nur flüchtig gesehen hatte, konnte er, wie wir sagten, nicht umhin, diese seine bildhafte Erscheinung als seine eigentliche und wirkliche zu empfinden und in dem Großvater des Alltags sozusagen einen Interims-Großvater, ei-nen behelfsweise und nur unvollkommen angepaßten zu erblik-ken. Denn das Abweichende und Wunderliche in dieser seiner Alltagserscheinung beruhte offenbar auf solcher unvollkomme-nen, vielleicht etwas ungeschickten Anpassung, es waren nicht ganz zu tilgende Reste und Andeutungen seiner reinen und wahren Gestalt. So waren die Vatermörder, die hohe weiße Binde altmodisch; aber unmöglich war diese Bezeichnung an-wendbar auf das bewunderungswürdige Kleidungsstück, wovon jene nur die Interimsandeutung bildeten, nämlich auf die spani-sche Krause. Und ebenso verhielt es sich mit dem unüblich ge-schweiften Zylinder, den der Großvater auf der Straße trug, und dem in höherer Wirklichkeit der breitkrempige Filzhut des Ge-mäldes entsprach; mit dem langen und faltigen Gehrock, als dessen Urbild und Eigentlichkeit dem kleinen Hans Castorp der bordierte, pelzverbrämte Talar erschien.

      So war er denn auch im Herzen einverstanden, daß der Großvater in seiner Richtigkeit und Vollkommenheit prangte, als es eines Tages hieß, Abschied von ihm zu nehmen. Das war im Saale, demselben Saal, wo sie so oft am Eßtisch einander ge-genübergesessen; in seiner Mitte lag Hans Lorenz Castorp nun auf der von Kränzen umstellten und umlagerten Bahre im sil-berbeschlagenen Sarge. Er hatte die Lungenentzündung durch-gekämpft, hatte zäh und lange gekämpft, obgleich er doch, wie es schien, im gegenwärtigen Leben nur anpassungsweise zu Hause gewesen war, und lag nun, man wußte nicht recht ob siegreich oder überwunden, auf jeden Fall mit streng befriede-tem Ausdruck und stark verändert und spitznäsig vom Kampfe auf seinem Paradebett, den Unterkörper von einer Decke ver-hüllt, auf welcher ein Palmzweig lag, den Kopf vom seidenen Kissen hochgestützt, so daß das Kinn aufs schönste in der vor-deren Einbuchtung der Ehrenkrause ruhte; und zwischen die halb von den Spitzenmanschetten bedeckten Hände, deren Finger bei künstlich-natürlicher Anordnung Kälte und Unbelebt-heit nicht verhehlten, hatte man ihm ein Elfenbeinkreuz ge-steckt, auf das er mit gesenkten Lidern unverwandt niederzu-bücken schien.

      Hans Castorp hatte den Großvater zu Anfang von dessen letzter Krankheit wohl mehrmals, gegen das Ende hin aber nicht mehr gesehen. Mit dem Anblick des Kampfes, der auch zu seinem Hauptteile nächtlicherweile vor sich gegangen war, hatte man ihn gänzlich verschont, nur mittelbar, durch die beklom-mene Atmosphäre des Hauses, die roten Augen des alten Fiete, das An – und Wegfahren der Doktoren, war er davon berührt worden; das Ergebnis aber, vor das er sich im Saale gestellt fand, ließ sich dahin zusammenfassen, daß der Großvater der Interimsanpassung nun feierlich überhoben und in seine eigentliche und angemessene Gestalt endgültig eingekehrt war, – ein billigenswertes Ergebnis, wenn auch der alte Fiete weinte und ununterbrochen den Kopf schüttelte, und wenn auch Hans Castorp selber weinte, wie er beim Anblick seiner unvermittelt ge-storbenen Mutter und seines bald darauf ebenfalls still und fremd daliegenden Vaters geweint hatte.

      Denn es war ja nun schon das drittemal binnen so kurzer Zeit und bei so jungen Jahren, daß der Tod auf den Geist und die Sinne – namentlich auch auf die Sinne – des kleinen Hans Castorp wirkte; neu war ihm der Anblick und Eindruck nicht mehr, sondern bereits recht wohl vertraut, und wie er schon die beiden ersten Male sich durchaus gesetzt und verläßlich, keines-wegs nervenschwach, wenn auch mit natürlicher Betrübnis da-gegen verhalten hatte, so auch jetzt, und in noch höherem Grade. Unkundig der praktischen Bedeutung der Ereignisse für sein Leben oder auch kindlich gleichgültig dagegen, in dem Vertrau-en, daß die Welt schon so oder so für ihn sorgen werde, hatte er an den Särgen eine gewisse ebenfalls kindliche Kühle und sach-liche Aufmerksamkeit an den Tag gelegt, welche beim dritten-mal durch das Gefühl und den Ausdruck erfahrener Kenner-schaft noch eine besondere, altkluge Abschattung erhielt, – häu-figer Tränen der Erschütterung und der Ansteckung durch ande-re als einer selbstverständlichen Rückwirkung nicht weiter zu gedenken. In den drei oder vier Monaten, seit sein Vater gestorben war, hatte er den Tod vergessen, nun erinnerte er sich, und alle Eindrücke von damals stellten sich genau, gleichzeitig und durchdringend in ihrer unvergleichbaren Eigentümlichkeit wie-der her.

      Aufgelöst und in Worte gefaßt, hätten sie sich ungefähr fol-gendermaßen ausgenommen. Es hatte mit dem Tode eine from-me, sinnige und traurig schöne, das heißt geistliche Bewandtnis und zugleich eine ganz andere, geradezu gegenteilige, sehr kör-perliche, sehr materielle, die man weder als schön, noch


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