Die Schlucht. Иван Гончаров
Читать онлайн книгу.versichert, Cousin! Und Sie wollten es mir sogar streng logisch beweisen, wenn ich Ihnen nur hätte zuhören wollen . . .«
»Ja, Cousine, Sie sind vollkommen; aber die Venus von Milo, und die Köpfe von Greuze, und die Rubensschen Frauen sind doch noch vollkommener als Sie. Dafür sind Ihre Grundsätze und die ganze Art, wie Sie leben, das Gegenteil von Vollkommenheit!«
»Was soll ich denn nun tun, um dieses Leben und seine verzwickten Prinzipien, die ja auch die Ihrigen sind, zu begreifen?« fragte sie in ruhigem Tone, der deutlich bewies, daß ihr durchaus nicht daran lag, irgend etwas zu begreifen, sondern daß sie nur eben redete, um etwas zu sagen.
»Was Sie tun sollen?« erwiderte er. »Sie sollen zunächst einmal diese Portiere, die Ihnen das Leben verbirgt, vom Fenster zurückziehen und die Dinge mit offenen Augen ansehen – dann werden Sie begreifen, daß diese verblichenen Greise in den Goldrahmen da Sie ganz gewissenlos täuschen und belügen . . .«
»Cousin!« rief Sophie lächelnd, und man konnte deutlich hören, daß sie ihre Ahnen dem kecken Angriff gegenüber in Schutz nehmen wollte.
»Ja, ja, sie lügen!« fuhr Raiski leidenschaftlich fort. »Betrachten Sie einmal diesen gepuderten Alten da mit den stahlgrauen, durchdringenden Augen,« sagte er und zeigte auf ein Porträt, das gerade vor ihm zwischen den beiden Fenstern hing. »Er soll sehr streng gewesen sein, selbst den Seinigen gegenüber, und alles fürchtete sich vor seinem Blick. ›Halte dich würdig!‹ – scheint er Ihnen zuzurufen. Wessen würdig? Deines Menschentums, deiner Weiblichkeit? Nein – sondern deiner Abstammung, deiner Familie, und wenn, was Gott verhüte, sich dir ein Mensch naht, dessen Name erst von gestern stammt, der sich mit seinem eigenen Kopfe und seinen eigenen Händen emporgearbeitet hat, dann würdige ihn keines Blickes, und vergiß nie, daß der Name der Pachotins auch der deinige ist! . . . Nicht einen Blick, nicht ein Fünkchen freier, natürlicher Sympathie darfst du für solch einen Menschen haben! . . . Gott behüte dich vor einer Mesalliance! Und er selbst – wen hat er seines näheren Verkehrs für würdig gehalten, und wen nicht? ›Il faut bien placer ses affections!‹ sagt er in seiner starren, kalten Sprache, die nichts Menschliches mehr an sich hat. Wem hat er selbst seine affections zugewandt, wem sein Leben und seine Gesundheit geopfert? Gehörten seine affections jener hageren alten Dame mit dem spitzen Näschen, die sich seine Gemahlin nennen durfte?« Raiski zeigte nach einem zweiten Porträt, das eine ältliche Dame darstellte. »Sicherlich nicht, sie schaut so vergrämt drein, und ihre Augen liegen so tief in den Höhlen; sie ist ganz ebenso ein Opfer des guten Tons, der Wohlanständigkeit und der vornehmen Abstammung – wie Sie selbst, meine arme, unglückliche Cousine . . .«
»Cousin, Cousin!« suchte Sophie lächelnd seinem Redeflusse Einhalt zu tun.
»Ja, Cousine – Sie sind betrogen, getäuscht worden! Auch Ihre Tanten haben ein ganzes Leben in einer schrecklichen Täuschung hingebracht und sich einem Gespenst, einem Phantom, einer verstaubten Erinnerung geopfert . . . Er hat es befohlen!« rief er und schaute dabei fast wütend auf das Porträt. »Er ist selbst vor Täuschung, List und Gewalttat nicht zurückgeschreckt, er hat sein Vermögen verschwendet und die tollsten Streiche gemacht – andern aber hat er aufs strengste verboten, zu lieben und zu genießen!«
»Cousin! Wir wollen in den Salon gehen – ich habe Ihnen auf Ihren wunderbaren Monolog nichts zu erwidern . . . Wie schade, daß er so wirkungslos verpuffen muß!« bemerkte sie mit feiner Ironie.
»Ja, der Ahnherr triumphiert,« antwortete er. »Die Grundsätze, die er Ihnen vererbt hat, sind fest und solid. Er schaut mit Wohlwollen auf Sie herab, vornehme Ruhe und tadelloser Schick umgibt Sie wie ein strahlender Glorienschein . . .«
Er stieß einen Seufzer aus.
»Alles das ist so unzutreffend und so überflüssig, Cousin!« sagte sie. »Nichts von alledem, was Sie da ausführten, trifft zu. Weder blickt der Ahnherr mit Wohlwollen auf mich herab, noch umgibt mich ein Glorienschein. Ihre hitzigen Ausführungen amüsieren mich nur, ich brauche nun eine ganze Weile nicht ins Theater zu gehen, denn ich habe ja die schönste Komödie hier vor Augen, ohne mich vom Platze zu rühren! . . . Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern? An Tschazki (Held der Seibojedowschen Komödie »Wissen bringt Schmerz«) . . .«
Er verfiel in Nachsinnen, prüfte gleichsam sich selbst in Gedanken und lächelte unwillkürlich.
»Sie haben recht, ich bin töricht und lächerlich,« sagte er, während er mit einem gutmütigen Lächeln auf sie zutrat. »Und ich bin auch sozusagen direkt vom Schiffe zum Ball gekommen . . . Auch ein paar Famussows sind vorhanden, nur daß sie hier Unterröcke tragen« – er wies mit dem Finger nach den Tanten. »Und in fünf, in zehn Jahren . . .« Er ließ den Satz unbeendet, machte eine ungeduldige Handbewegung und setzte sich auf den Diwan.
»Sie sprachen von Täuschung, List und Gewalttat – was meinten Sie damit?« fragte sie. »Nichts von alledem kommt in Frage, niemand hat mir auch nur im geringsten Zwang angetan . . Was hat mein Ahne verbrochen? Ist er vielleicht schuld daran, daß Sie nicht imstande sind, mir Ihre Prinzipien darzulegen? Sie haben es schon mehrmals versucht, jedoch immer vergeblich . . .«
»An Ihnen sind meine Versuche allerdings abgeprallt, Cousine! Ihre Ahnen . . .«
»Und auch die Ihrigen: denn auch Sie haben doch Ahnen!«
»Gut, also sagen wir: unsere Ahnen waren kluge, verschlagene Leute,« fuhr er fort. »Wo sich mit Gewalt nichts mehr erraffen ließ, brachten sie ein raffiniertes System in Anwendung, das sie zur Tradition erhoben – und Sie gehen als Opfer dieses Systems, dieser Tradition zugrunde, wie die Indierin, die zugleich mit dem Leichnam ihres Gatten verbrannt wird . . .«
»Hören Sie einmal, Mr. Tschazki,« fiel sie ihm ins Wort, »sagen Sie mir doch wenigstens, woran ich denn zugrunde gehe? Etwa daran, daß ich das neue Leben nicht begreife, daß ich mich nicht . . . wie nennen Sie es doch? . . . der Entwicklung unterordnen mag? Das ist ja wohl Ihr Lieblingswort! Sind Sie denn in dieser Entwicklung so weit vorgeschritten, wie? Jeden Tag höre ich von Ihnen, daß Sie sich langweilen . . . und sehe, daß Sie alles mögliche tun, damit auch die anderen sich langweilen . . .«
»Habe ich auch bei Ihnen nur diesen Erfolg zu verzeichnen?«
»Nein, in allem Ernst – Sie tun mir leid . . .«
»Sie treten sich selbst zu nahe, Cousine, wenn Sie zwischen sich und mir auch nur im geringsten Vergleiche anstellen. Ich bin ein . . . nun, sagen wir: verbummeltes Genie . . . ein . . . ein, ach, ich weiß selbst nicht, was ich bin, und kein Mensch weiß es überhaupt. Ich bin ein kranker, anormaler Mensch und habe mein Leben verzettelt und verpfuscht . . . oder vielmehr: ich hab’ es überhaupt nicht begriffen. Sie aber sind eine ganze, bestimmte, in sich vollendete Persönlichkeit, Ihr Leben ist klar und durchsichtig. Und dennoch ist mir bange um Sie! Es quält mich, daß ich Ihr Leben so nutzlos verrinnen sehe, wie einen Fluß in der Wüste . . . Hat die Natur Sie dazu bestimmt? Schauen Sie sich doch an! . . .«
»Was soll ich also tun, Cousin? Ich begreife es noch nicht! Sie sagten vorhin, um das Leben zu begreifen, müsse man zunächst den Vorhang wegziehen, der es verhüllt. Nehmen wir an, dieser Vorhang sei weggezogen, ich hätte den Ahnen den Gehorsam gekündigt und wüßte, wohin alle diese Leute« – sie zeigte nach der Straße hinaus – »so hastig rennen, was sie treibt und beunruhigt: was hätte ich dann nach Ihrer Meinung weiter zu tun?«
»Weiterhin müßten Sie . . .«
Er erhob sich, warf einen Blick in den Salon, trat leise auf sie zu und sagte mit gedämpfter, doch klar vernehmbarer Stimme:
»Sich verlieben!«
»Voilá le grand mot!« bemerkte sie spöttisch.
Sie schwiegen beide.
»Ich glaube,« sagte sie dann lächelnd und nickte mit dem Kopfe nach den Tanten im Salon – »Sie machen auch ihnen einen Vorwurf daraus, daß sie sich nicht verliebt haben?«
Raiski machte eine ärgerliche Handbewegung nach dem Salon.
»Sind Sie etwa besser als die Tanten, Cousine?« versetzte er gereizt. »Nur daß sie alt und krank sind, während Sie in jugendlicher, blendender Schönheit strahlen . . .«
»Merci, merci,« unterbrach