Theodor Storm: Novellen, Märchen, Gedichte & Briefe (Über 400 Titel in einem Band). Theodor Storm

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Theodor Storm: Novellen, Märchen, Gedichte & Briefe (Über 400 Titel in einem Band) - Theodor Storm


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gefunden zu haben. Ich traf ihn am Sonntagnachmittage in einer Ecke des Kirchhofs auf der Bank sitzend. Seine Haut über den scharfen Backenknochen war noch gelber geworden und sein schwarzes Haar war stark ergraut; er hustete, aber die Sonne schien ihm wohlzutun. »Ah, Monsieur Philipp!« rief er, da er mich erkannte, und streckte mir zwei Finger seiner langen knöchernen Hand entgegen, während die andern die alte wohlbekannte Porzellandose umklammert hielten. »Damals – das waren andere Zeiten, Monsieur Philipp!« fuhr er seufzend fort. »Meine Alte, sie hat sich mit ihrer Menage unter die schwarzen Kreuze dort begeben; und das Kind, die Lore«, – er schluckte ein paarmal und nahm eine starke Prise – »Sie werden es ja gehört haben! – Sie wollte nicht, sie wollte ihren armen Vater nicht allein lassen, ich mußte mit Gewalt ihre kleinen Hände von mir losreißen; aber was hilft es denn! Das Kind muß doch sein Glück machen!« Er ließ den Kopf sinken und legte schlaff seine Hände auf die Knie. »Ich werde Ihnen ihre Briefe zeigen!« begann er dann wieder. »Sie werden sehen, Monsieur Philipp, Sie sind ja ein Gelehrter! Die allerliebsten Buchstaben, und all die lieben guten Worte; eine Marquise könnte es nicht besser.« –

      – – So sprach er noch eine Weile fort, bis ich ihn verließ.

      Ich habe den französischen Schneider nicht wiedergesehen; denn einige Tage darauf reiste ich ab, um zunächst auf einer ausländischen Universität meine juristischen Studien zu beginnen; und schon nach einem halben Jahre schrieb mir meine Mutter, der ich diese Begegnung erzählt hatte, daß auch Monsieur Beauregard, der Enkel des Ofenheizers vom Hofe Ludwig des Sechzehnten, unter den schwarzen Kreuzen eine Stelle gefunden habe.

      Drei Jahre später befand ich mich auf der Landesuniversität, um vor dem Examen noch das gesetzlich vorgeschriebene Jahr hier zu absolvieren. Fritz, mit dem ich das letzte Semester in Heidelberg zusammen gewohnt, wollte erst im nächsten Herbst zurückkehren. Aber mein Freund Christoph hatte die Universität bezogen; er war erster Arbeiter in einem großen Möbelmagazin. Ich traf ihn eines Nachmittags in einem öffentlichen Garten, wo er allein vor einem Seidel Lagerbier saß und, scheinbar in Sinnen verloren, den Rauch seiner Zigarre vor sich hinblies. Sein starker blonder Backenbart und seine feine bürgerliche Kleidung ließen mich ihn erst in nächster Nähe erkennen. Als ich schweigend meine Hand auf seine Schulter legte, warf er den Kopf rasch und trotzig nach mir herum; denn, wenn ich jetzt auch keine farbige Mütze trug, so gehörte ich doch unverkennbar genug zu den mutmaßlich noch immer nicht von ihm geliebten »Lateinern«. Allein kaum hatte er mich angesehen, als auch sogleich die freudigste Überraschung aus seinen Augen leuchtete. »Philipp! du bist es?« sagte er, indem er mit einer fast mädchenhaften Bescheidenheit meine dargebotene Hand nahm und sie dann desto kräftiger drückte. – Wir sprachen lange zusammen; über unsere Heimat, über Eltern und Altersgenossen; als ich mich dann der verhängnisvollen Eisfahrt erinnerte, fragte ich auch nach unserer gemeinschaftlichen Knabenliebe.

      Lenore lebte noch im Hause ihrer Verwandten, einer alten Schneiderin, mit der sie zum Nähen in die Häuser der vornehmen Einwohner ging. Aber Christoph wurde bei den Antworten auf diese Fragen immer wortkarger und suchte endlich mit einer gewissen Hast das Gespräch auf andere Dinge zu bringen. Er schien in seinem treuen Gemüte noch immer die Fesseln des schönen Mädchens zu tragen, die ich mit dem Staub der Heimat schon längst von mir abgeschüttelt zu haben glaubte.

      Ich mochte mich darin indessen irren. – Einige Zeit darauf hatte ich mit befreundeten Damen jenseit der Meeresbucht, an welcher die Stadt liegt, einen damals beliebten Vergnügungsort besucht. Der Nachmittag war zu Ende, und wir gingen an den Strand hinab, um nach einem Fahrzeug für die Heimkehr auszuschauen. – Zwei Boote, beide schon fast besetzt, lagen zur Abfahrt bereit. Neben dem einen, das etwa dreißig Schritte von uns entfernt sein mochte, stand an der Seite einer ältlichen lahmen Nähterin, die ich mitunter im Wohnzimmer meines Hauswirts gesehen hatte, eine auffallend schöne Mädchengestalt. Sie hatte schon den Fuß auf den Rand des Bootes gesetzt und schien im Begriff hineinzusteigen; aber sie zögerte plötzlich, da sie den Kopf nach uns zurückwandte. Zwei schwarze fremdartige Augen, wie ich sie lange nicht, aber wie ich sie einst gesehen, trafen in die meinen; ich wußte jetzt, daß es Lenore Beauregard sei. Sie war größer geworden, und unter den braunen Wangen schimmerte das Rot der vollsten Jungfräulichkeit; aber noch immer war ihr in der Haltung jene graziöse Lässigkeit eigen, die mir unbewußt schon einst mein Knabenherz entführt hatte. Es wallte heiß in mir auf, und ich hatte der Damen neben mir fast ganz vergessen. Denn jene dunkeln Augen schienen mich bittend anzublicken; ich hörte, wie die alte Nähterin ihr zusprach, wie der Schiffer sie nicht eben in den höflichsten Worten zum Einsteigen drängte; aber noch immer stand die schlanke Mädchengestalt unbeweglich, wie im Traum, die Augen nach mir hingewandt.

      Schon hatte ich, wie von dunkler Naturgewalt getrieben, ein paar Schritte nach dem Boote zu getan; aber ich bezwang mich; ich dachte an Christoph; seine ehrlichen blauen Augen schienen mich plötzlich anzusehen. »Es wird nicht Platz dort für uns alle sein«, sagte ich zu den Damen. Dann gingen wir seitwärts nach dem andern Fahrzeug am Wasser entlang. – Doch noch einmal mußte ich nach Lore zurückblicken. Sie hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen, und stieg eben langsam über den Bord in das Innere des Bootes, das im Gold der Abendsonne auf dem regungslosen Wasser lag.

      Bei der Heimfahrt saß ich am Steuer, wortkarg und innerlich erregt; meine Augen mochten wohl mitunter auf dem andern in ziemlicher Entfernung vor uns rudernden Boote ruhen, während die jungen Damen mich vergebens in ihre Plaudereien zu ziehen suchten.

      »Aber Sie sind heut nicht zu gebrauchen!« sagte die eine; »unsere schöne Nähterin scheint Sie stumm gemacht zu haben!«

      »Ist Lore Ihre Nähterin?« fragte ich noch halb in Gedanken.

      »Lore! Woher wissen Sie denn, daß sie Lore heißt?«

      »Wir sind aus einer Stadt; ich habe in der Tanzschule meine erste Mazurka mit ihr getanzt.«

      »So! – Sie soll auch jetzt noch gern mit Studenten tanzen.«

      Unser Gespräch über Lore war zu Ende; aber ich wußte jetzt, weshalb Christoph nicht hatte reden mögen.

      Dennoch sah ich ihn später im Lauf des Winters mehrmals an öffentlichen Orten mit Lore zusammen, meistens in Gesellschaft der lahmen Marie oder einer ältern Person, welche niemand anders als die Erbtante sein konnte, die dem armen Schneider noch so kurz vor seinem Ende das Kleinod seines Herzens entführt hatte. Eines Abends, es mochte einige Wochen nach Neujahr sein, hörte ich von meinem Zimmer aus einen Tumult auf der Straße. Als ich das Fenster öffnete, bemerkte ich unter dem vorbeiziehenden Haufen hie und da rote Studentenmützen; endlich erkannte ich beim Schein der Straßenlaterne auch einen unserer Pedelle.

      »Was gibt’s, Dose?« rief ich hinunter.

      »Holz hat’s gegeben, Herr Doktor.« – Dose nannte mich aus einem nur uns beiden bekannten Grunde allzeit Herr Doktor.

      »So? Und wohl wieder auf dem Ballhaus?« fragte ich.

      »Nun, wo denn anders?«

      Das Ballhaus war ein öffentliches Tanzlokal, wo die altherkömmliche Feindschaft zwischen Studenten und Handwerksgesellen sich zu Zeiten Luft zu machen pflegte. Es schien diesmal indessen arg geworden zu sein; denn Dose machte andeutungsweise eine höchst kräftige Bewegung mit der Faust.

      »Wer hat’s denn gekriegt?« fragte ich noch.

      Der Alte hielt die Hand vor den Mund und flüsterte mir zu: »Es ist auf die rechte Stelle gekommen, Herr Doktor.« Ein Bekannter, der unser Gespräch hörte, rief im Vorübergehen: »Es ist der Raugraf; die Knoten haben ihm auf Abschlag gezahlt.«

      Der sogenannte »Raugraf« war ein ebenso schöner, als wüster junger Mann, der in den Hörsälen der Professoren selten, dagegen häufig auf der Mensur und regelmäßig auf der Kneipe zu finden war; einer von denen, die auf Universitäten eine Rolle spielen, um dann im spätern Leben spurlos zu verschwinden. Von den jungen Handwerkern, denen er ihre Mädchen abspenstig machte, wurde er ebensosehr gehaßt, als er für die größere Anzahl der jüngern Studenten der Gegenstand einer scheuen Bewunderung war. Nachdem er eine Reihe anderer Universitäten besucht und, teilweise durch Relegation gezwungen, wieder verlassen hatte, fand er für gut, auch die unsrige


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