Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor Storm

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Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band) - Theodor Storm


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soll aus denen werden?«

      »O – – Adel – –« sagte die junge Mutter, und sah mit stolzen liebevollen Augen zu ihrem Mann hinauf.

      Der lächelte und sagte: »Streichen, Großmutter; oder wir werden alle Freiherrn, ganz Deutschland mit Mann und Maus. Sonst seh ich keinen Rat.«

      Die Großmutter erwiderte nichts darauf; sie sagte nur: »Auf meiner Hochzeit wurde nichts von Staatsgeschichten geredet; die Unterhaltung ging ihren ebenen Tritt, und wir waren ebenso vergnügt dabei als ihr in euren neumodischen Gesellschaften. Bei Tische wurden spaßhafte Rätsel aufgegeben und Leberreime gemacht, beim Dessert wurde gesungen: ,Gesundheit, Herr Nachbar, das Gläschen ist leer’ und alle die andern hübschen Lieder, die nun vergessen sind; dein Großvater mit seiner hellen Tenorstimme war immer herauszuhören. – Die Menschen waren damals noch höflicher gegeneinander; das Disputieren und Schreien galt in einer feinen Gesellschaft für sehr unziemlich. – Nun, das ist alles anders geworden; – aber dein Großvater war ein sanfter friedlicher Mann. Er ist schon lange nicht mehr auf dieser Welt; er ist mir weit vorausgegangen; es wird wohl Zeit, daß ich nachkomme.«

      Die Großmutter schwieg einen Augenblick, und es sprach niemand. Nur ihre Hände fühlte sie ergriffen; sie wollten sie alle noch behalten. Ein friedliches Lächeln glitt über das alte liebe Gesicht; dann sah sie auf ihren Enkel und sagte: »Hier im Saal stand auch seine Leiche; du warst damals erst sechs Jahre alt und standest am Sarg zu weinen. Dein Vater war ein strenger rücksichtsloser Mann. ,Heule nicht Junge’, sagte er und hob dich auf den Arm. ,Sieh her, so sieht ein braver Mann aus, wenn er gestorben ist/ Dann wischte er sich heimlich selbst eine Träne vom Gesicht. Er hatte immer eine große Verehrung für deinen Großvater gehabt. Jetzt sind sie alle hinüber; – und heute hab ich hier im Saal meine Urenkelin aus der Taufe gehoben, und ihr habt ihr den Namen eurer alten Großmutter gegeben. Möge der liebe Gott sie ebenso glücklich und zufrieden zu meinen Tagen kommen lassen!«

      Die junge Mutter fiel vor der Großmutter auf die Knie und küßte ihre feinen Hände.

      Der Enkel sagte: »Großmutter, wir wollen den alten Saal ganz umreißen und wieder einen Ziergarten pflanzen; die kleine Barbara ist auch wieder da. Die Frauen sagen ja, sie ist dein Ebenbild; sie soll wieder in der Schaukel sitzen und die Sonne soll wieder auf goldene Kinderlocken scheinen; vielleicht kommt dann auch eines Sommernachmittags der Großvater wieder die kleine chinesische Treppe herab, vielleicht – –« Die Großmutter lächelte: »Du bist ein Phantast«, sagte sie; »dein Großvater war es auch.«

       Inhaltsverzeichnis

      Ein Grabgeleite betrat den Kirchhof; ein schmaler Sarg, ein Blumenkranz darauf, sechs Träger und zwei Folger. Es war stille Sommerfrühe, der größte Teil des Kirchhofes lag noch in feuchtem Schatten; nur an dem Rande einer frischen Grube war die aufgeworfene Erde schon von der Sonne angeschienen. Hier sank der Sarg hinab; die Männer nahmen die Hüte herunter, neigten einige Augenblicke den Kopf hinein und gingen dann plaudernd ihren Weg zurück, dem Totengräber den Rest überlassend. – Bald war die Erde aufgeschüttet, und es wurde wieder Stille, einsamer Sonnenschein; nur die Schatten der Kreuze und Gedenktafeln, der Urnen und Obelisken rückten unmerklich über den Rasen.

      Das Grab war in dem Viertel der Armen, wo keine Steine auf den Gräbern liegen; erst ein niedriger Erdhügel, dann kam der Wind und wehte den losen Staub in den Weg; dann fiel der Regen vom Himmel und verwusch die Ecken; an Sommerabenden liefen die Kinder darüber weg. Endlich wurde es Winter; und nun fiel der Schnee darauf, dichter und dichter, bis es ganz verschwunden war. – Aber der Winter blieb nicht; es wurde wieder Frühling, es wurde Sommer. Auf den andern Gräbern brachen die Schneeglöckchen aus der Erde, das Immergrün blühte, die Rosen trieben große Knospen. Nun hatte auch hier das Grab sich überwachsen; erst ein feines Grün, Gras und Marienblatt, dann schossen rote Nesseln auf, Disteln und anderes Gewächs, was die Menschen Unkraut nennen; und an warmen Sommermittagen war es voll von Grillengesang. – Dann wieder eines Morgens waren alle Disteln und alles Unkraut verschwunden und nur das schöne Gras war noch da. Wieder einige Tage später stand an dem einen Ende ein schlichtes schwarzes Kreuz; endlich war auf der Rückseite des Kreuzes, vom Wege abgekehrt, ein Mädchenname eingeschnitten, mit kleinen Buchstaben, ohne Färbung, nur in der Nähe erkennbar.

      Es war Nacht geworden. In der Stadt waren die Fenster dunkel, es schlief schon alles; nur oben in den hohen Zimmern eines großen Hauses wachte noch ein junger Mann. Er hatte die Kerzen ausgetan und saß mit geschlossenen Augen in einem Lehnsessel, horchend, ob unten alles zur Ruhe gegangen sei; in der Hand hielt er einen Kranz von weißen Moosrosen. So saß er lange.

      Draußen ward eine andere Welt lebendig; das Getier der Nacht strich umher, es wimmerte etwas in der Ferne. Als er die Augen aufschlug, war das Zimmer hell; er konnte die Bilder an den Wänden erkennen; durchs Fenster sah er die gegenüberstehende Wand des Seitenflügels in herber Mondscheinbeleuchtung. Seine Gedanken gingen den Weg zum Kirchhof. »Das Grab liegt im Schatten«, sagte er – – »der Mond scheint nicht darauf.« Dann stand er auf, öffnete vorsichtig und stieg mit seinem Kranz die Treppen hinab. Auf dem Hausflur horchte er noch einmal, und nachdem er geräuschlos die Tür aufgeschlossen, ging er auf die Straße und im Schatten der Häuser zur Stadt hinaus; eine Strecke fort im Mondschein, bis er den Kirchhof erreicht hatte.

      Es war, wie er gesagt hatte; das Grab lag im tiefen Schatten der Kirchhofsmauer. Er hing den Rosenkranz über das schwarze Kreuz; dann lehnte er den Kopf daran. – Der Wächter ging draußen vorüber; aber er bemerkte ihn nicht; die Stimmen der Mondnacht erwachten, das Säuseln der Gräser, das Springen der Nachtblüten, das feine Singen in den Lüften; er hörte es nicht, er lebte in einer Stunde, die nicht mehr war, umfangen von zwei Mädchenarmen, die sich längst über einem stillen Herzen geschlossen hatten. Ein blasses Gesichtchen drängte sich an seins; zwei kinderblaue Augen sahen in die seinen.

      Sie trug den Tod schon in sich; noch aber war sie jung und schön; noch reizte sie und wurde noch begehrt. Sie liebte ihn, sie tat ihm alles. Oft war sie seinetwegen gescholten worden; dann hatte sie mit ihren stillen Augen dreingesehen, es war aber deshalb nicht anders geworden. Nachts im kalten Vorfrühling, in ihrem vertragenen Kleidchen kam sie zu ihm in den Garten; er konnte sie nicht anders sehen.

      Er liebte sie nicht, er begehrte sie nur und nahm achtlos das ängstliche Feuer von ihren Lippen. »Wenn ich geschwätzig wäre«, sagte er, »so könnte ich morgen erzählen, daß mich das schönste Mädchen in der Stadt geküßt hat.«

      Sie glaubte nicht, daß er sie für die Schönste halte, sie glaubte auch nicht, daß er schweigen werde.

      Ein niedriger Zaun trennte den Fleck, worauf sie standen, von der Straße. Nun hörten sie Schritte in ihre Nähe kommen. Er wollte sie mit sich fortziehen; aber sie hielt ihn zurück. »Es ist einerlei«, sagte sie.

      Er machte sich von ihren Armen los, und trat allein zurück.

      Sie blieb stehen, regungslos; nur daß sie ihre beiden Hände an die Augen drückte. – So stand sie noch, als draußen die Menschen vorübergegangen waren und als sich das Geräusch der Schritte unten zwischen den Häusern verloren hatte. Sie sah es nicht, daß er wieder zu ihr getreten war und seinen Arm um ihren Nacken legte; aber als sie es fühlte, neigte sie den Kopf noch tiefer. »Du schämst dich!« sagte sie leise, »ich weiß es wohl.«

      Er antwortete nicht; er hatte sich auf die Bank gesetzt und zog sie schweigend zu sich nieder. Sie ließ es geschehen, sie legte ihre Lippen auf seine schönen vornehmen Hände; sie fürchtete ihn betrübt zu haben.

      Er hob sie lächelnd auf seinen Schoß und wunderte sich, daß er keine Last fühle, nur die Form ihres zarten, elfenhaften Körpers; er sagte ihr neckend, sie sei eine Hexe, sie wiege keine dreißig Lot. – Der Wind kam durch die nackten Zweige; er schlug seinen Mantel um ihre Füße. Sie sah mit glücklichen Augen zu ihm auf. »Mich friert nicht!« sagte sie und preßte ihre Stirn fest an seine Brust.

      Sie war in seiner Gewalt; sie wollte nichts mehr für sich allein. – Er schonte ihrer;


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