Gesammelte Erzählungen von Rudyard Kipling (116 Titel in einem Band). Rudyard 1865-1936 Kipling

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Gesammelte Erzählungen von Rudyard Kipling (116 Titel in einem Band) - Rudyard 1865-1936 Kipling


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Armen erhob Anspruch auf Verwandtschaft. Wie kann ich mich des genauen Grades entsinnen? Überdies, wir fressen die gleiche Nahrung, er hat es selbst gesagt«, war die Antwort des Schakals.

      Das machte die Sache noch schlimmer, denn der Schakal deutete an, daß der Mugger auf dem Überlandmarsche seine Nahrung frisch, und zwar jeden Tag frisch, gefressen hatte, anstatt sie aufzubewahren, bis sie in der richtigen anständigen Verfassung war, wie es jeder sich selbst achtende Mugger tut und auch die Mehrzahl der wilden Tiere. In der Tat ist »Frischfleischfresser« die tiefste Schmähung, beinahe so schmachvoll, als wenn man »Menschenfresser« zu jemandem sagt.

      »Die Nahrung wurde vor dreißig Regenzeiten gefressen«, sagte der Adjutant ruhig. »Wenn wir auch noch dreißig Regenzeiten weiter reden, so kommt sie doch nicht wieder… Erzähle nun, was geschah, als du die guten Wasser erreichtest, nach der merkwürdigen Landreise. Lauschte man jedem Schakalgeheul, so würde das Stadtleben zum Stillstand kommen, wie man zu sagen pflegt.«

      Der Mugger schien dankbar für die Unterbrechung, denn mit einem Ruck fuhr er fort zu erzählen: »Bei der Rechten und Linken der Ganga! Nie zuvor sah ich ähnliche Wasser, als ich dort ankam!«

      »Waren sie besser als die große Flut in der vergangenen Regenzeit?« fragte der Schakal.

      »Besser? Die Flut brachte nicht mehr als alle fünf Jahre – eine Handvoll ertrunkener Menschen, ein paar Hühner und einen toten Ochsen im Schlammwasser mit Querströmungen. Aber in der Zeit, von der ich rede, stand der Fluß niedrig, die Strömung war glatt und eben; und in der Tat, wie Gavial mir schon gesagt hatte, es kamen so viel tote Engländer den Fluß herunter, daß sie sich förmlich stauten. Damals erlangte ich meinen Umfang – meinen Umfang und meine Länge. Bei Agra, bei Etawah und in den breiten Wassern und Allahabad …«

      »Ah, der Strudel unter den Mauern der Festung von Allahabad«, schwelgte der Adjutant. »Der saugte sie an, wie Speckenten ins Ried fallen, rund im Kreise wirbelten sie – so!«

      Wieder verfiel er in seinen scheußlichen Tanz, während der Schakal neidisch dreinblickte. Er konnte sich natürlich nicht des grausigen Jahres der Meuterei entsinnen, von dem die anderen beiden sprachen. Der Mugger fuhr fort:

      »Ja, bei Allahabad lag man still im trägen Wasser und ließ zwanzig vorbei, ehe man sich die Mühe nahm, einen zu erschnappen. Vor allem aber waren die Engländer nicht mit Schmuck behangen, hatten keine Nasenringe und Fußspangen, wie die Frauen hier am Ghat. Wer allzusehr am Schmuck hängt, endet mit einem Strick als Halsband, sagt das Sprichwort. Alle Mugger an allen Flüssen wurden damals fett, aber mein Schicksal fügte es, daß ich fetter wurde als alle. Man jage die Engländer in die Flüsse, hieß es, und bei der Rechten und Linken der Ganga: wir konnten die Nachricht glauben! Soweit ich südwärts trieb, bestätigte sich die Nachricht, und bis über Monghyr hinaus kam ich flußabwärts, vorbei an den Grabmälern, die auf den Strom hinaussahen.«

      »Ich kenne den Ort«, nickte der Adjutant. »Seit den Tagen ist Monghyr eine verlassene Stadt. Nur wenige leben noch dort.«

      »Dann zog ich wieder stromaufwärts, sehr langsam und behaglich. Und ein Stück oberhalb von Monghyr kam ein Boot mit Bleichgesichtern herab – alle lebend! Frauen waren es, entsinne ich mich. Sie lagen unter einem Tuch, das über Stangen ausgebreitet war, und weinten laut. In jenen Tagen wurde niemals eine Flinte auf uns Wächter der Furten abgefeuert. Alle Rohre waren anderswo beschäftigt. Landeinwärts hörten wir ihr Knattern Tag und Nacht, je nachdem der Wind wehte. Ich kam ganz an die Oberfläche, dicht neben dem Boot tauchte ich auf, denn ich hatte noch nie Bleichgesichter lebendig gesehen, obwohl ich sie auf andere Art recht gut kannte. Am Bootsrande kniete ein nacktes weißes Kind, beugte sich über und versuchte gerade, die Hände in das Wasser zu tauchen. Kinder tun das gern, und lieblich ist es, sie dabei zu beobachten. Ich hatte am Tage schon reichlich gefressen, aber ein leeres Plätzchen war immerhin noch da. Eigentlich also mehr zum Zeitvertreib fuhr ich auf die Kinderhände los. Ganz hell zeichneten sie sich ab, so daß ich kaum hinsah, als ich zuschnappte; aber sie waren so klein – bestimmt weiß ich, daß ich meine Kiefer fest schloß –, daß das Kind sie doch schnell und unbeschädigt hochzog. Offenbar sind sie zwischen Zahn und Zahn hindurchgeglitten – diese kleinen weißen Hände. Kreuzweise am Ellbogen hätte ich zupacken müssen; aber wie gesagt, eigentlich nur zum Zeitvertreib und aus Neugier war ich an die Oberfläche gekommen. Im Boot schrien sie auf, und wieder ging ich hoch, um sie zu beobachten. Und das Boot zum Umkippen zu bringen, dazu war es zu schwer. Nur Frauen saßen darin; aber wer einer Frau traut, heißt es, der schreitet auf Wasserlinsen über einen Teich. Und bei der Rechten und Linken der Ganga, Wahrheit ist das.« »Einmal gab mir eine Frau etwas getrocknete Fischhaut«, erzählte der Schakal. »Ich hatte gehofft, ihr Baby zu erschnappen, aber, wie das Sprichwort sagt, Futter vom Pferd ist immer noch besser als ein Tritt vom Pferde. Was tat deine Frau?«

      »Mit einer kurzen Flinte, wie ich sie nie zuvor noch nachher gesehen habe, schoß sie auf mich: fünfmal hintereinander (der Mugger bekam es anscheinend mit einem alten Trommelrevolver zu tun); und ich verharrte mit offenem Maul gaffend, und mein Kopf war ganz von Dampf umhüllt. So ein Ding sah ich noch nie. Fünfmal, und so rasch, wie ich mit dem Schwanze schlage – so!«

      Der Schakal, den die Erzählung mehr und mehr fesselte, hatte gerade noch Zeit, zur Seite zu springen, als der mächtige Schwanz wie eine Sense an ihm vorbeipfiff.

      »Nicht vor dem fünften Schuß«, fuhr der Mugger fort, als hätte er nie gedacht, einen seiner Zuhörer zu treffen, »nicht vor dem fünften Schuß tauchte ich unter und kam dann rechtzeitig wieder hoch, um zu hören, wie der Bootsführer den weißen Frauen erzählte, ich wäre sicherlich tot. Eine Kugel war mir unter eine Nackenplatte gefahren. Ich weiß nicht, ob sie noch dort sitzt, denn so weit kann ich meinen Kopf nicht wenden, komm und sieh nach, Kind. Die Kugel wird beweisen, daß meine Geschichte wahr ist.«

      »Ich?« sagte der Schakal zusammenfahrend. »Könnte einer, der alte Schuhe frißt und Knochen nagt, sich erdreisten, an dem Wort des Erhabenen zu zweifeln? Möge der Schwanz mir abgebissen werden von blinden neugeborenen Hunden, wenn auch nur der Schatten eines solchen Gedankens meinen demütigen Sinn gestreift hätte. Der Beschützer der Armen war leutselig genug, mir, seinem Sklaven, mitzuteilen, daß ihn einmal im Leben eine Frau verwundete. Das genügt, und ich will die Geschichte allen meinen Kindern erzählen, ohne nach Beweisen zu fragen.«

      »Übergroße Höflichkeit ist so oft nicht besser als übergroße Unhöflichkeit; man kann einen Gast mit Quark ersticken, wie man zu sagen pflegt. Ich wünsche nicht, daß deine Kinder erfahren, die einzige Wunde des Muggers stamme von einer Frau. An ganz andere Dinge werden sie zu denken haben, wenn sie ihr Futter so elend zusammenkratzen müssen wie der Vater.«

      »Es ist längst vergessen. Es wurde niemals ausgesprochen. Nie hat es eine weiße Frau gegeben. Kein Boot war da. Nichts – gar nichts ist geschehen.«

      Die Rute des Schakals wischte durch die Luft, um zu zeigen, wie vollständig alles aus seinem Gedächtnis ausgelöscht war. Mit Würde ließ er sich nieder.

      »Wahrlich, sehr vieles geschah«, sagte der Mugger, dem es zum zweitenmal in dieser Nacht mißglückte, den Freund zu überlisten.

      (Aber das verübelte keiner dem anderen. Fressen und gefressen werden ist Gesetz und Recht am ganzen Strome hin; und dem Schakal blieb sein Teil von der Beute, wenn der Mugger sein Mahl beendet hatte.)

      »Ich ließ das Boot weiterziehen und wandte mich stromaufwärts; als ich dann Arrah erreichte und den toten Flußarm dahinter, trieben keine toten Engländer mehr. Eine Zeitlang blieb der Fluß leer. Dann kamen zuerst ein bis zwei Tote vorüber, in roten Röcken, keine Engländer, aber alle von gleicher Art – Hindus und Purbiahs –, dann fünf bis sechs in einer Reihe nebeneinander; und zuletzt von Arrah nach Norden zu bis über Agra hinaus war es, als ob ganze Dörfer in die Wasser marschiert wären. Aus kleinen Buchten kamen sie heraus, einer nach dem anderen, wie Baumklötze in der Regenzeit heruntergeschwemmt werden. Wenn der Fluß stieg, dann kamen sie in Trupps von den Sandbänken hoch, auf denen sie gerastet hatten. Und die sinkenden Fluten schleiften sie mit sich an den langen Haaren über die Felder und durch die Dschungel. Die ganzen Nächte hindurch, während ich nordwärts zog, hörte ich die Flinten; am Tage aber durchwateten Männer mit beschuhten


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