Seewölfe - Piraten der Weltmeere 60. Fred McMason
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An Bord der „Isabella“ hatten sie jegliches Zeitgefühl verloren. Ein Besteck ließ sich nicht nehmen, die genaue Position konnte daher nicht festgestellt werden, weil es ganz einfach keinerlei Anhaltspunkte gab.
Himmel und See hatten sich wiederum verändert. Es war nicht mehr das gleiche Wasser, das sie durchpflügten, es war auch nicht mehr der gleiche Himmel über ihnen. Es war etwas anderes, etwas, das ihnen langsam immer mehr Furcht und Grauen einflößte.
Wie Tote auf einem Geisterschiff kamen sie sich vor, das vom Satan durch die Meere getrieben wurde.
An die normale Bordarbeit war nicht mehr zu denken. Jeder lauerte auf das, was jeden Augenblick zweifellos passieren würde. Es mußte etwas geschehen, egal was.
„Der Vogel ist verschwunden!“ Ed Carberrys Stimme, sonst donnernd und explosiv, hatte ihre Gewalt verloren. Seine Worte waren nicht mehr als ein heiseres Krächzen.
„Und was hat das zu bedeuten?“ fragte der Kutscher, der mit den anderen auf der Kuhl stand. Alle hatten auf das Essen verzichtet, niemand verspürte auch nur den geringsten Appetit, und so hatte der Kutscher in der Kombüse nichts zu tun.
„Es bedeutet, daß gleich das Unglück losbricht“, prophezeite Carberry. „Der Vogel hat es nur angekündigt, und da es gleich losgehen wird, ist er verschwunden, um sich in Sicherheit zu bringen.“
Der Kutscher sah sich bedrückt im Kreis seiner Kameraden um, die immer wieder scheue Blicke über die Reling warfen.
Das Wasser war schwarz wie die Nacht. Die gläsern scheinenden Wellen trieben jetzt lautlos und langsam heran. Auch sie waren pechschwarz, Dämonen gleich, die das Schiff angriffen, zuerst an ihm herumspielten und es dann in die Tiefe zogen. Und der Himmel, seltsam fahl leuchtend, war so niedrig, daß man ihn mit den Händen greifen konnte.
Die Stimmung wurde immer drükkender. Niemand wußte, ob es Mittag, später Mittag oder Abend war. Immer wieder blickten sie zum Achterkastell mit dem Ruderhaus, zum Seewolf hin, zu Ben Brighton, die sich beide unterhielten.
Ferris Tucker schüttelte den Kopf. Seine roten Haare leuchteten wie eine Fahne aus Kupfer, sein Gesicht war blaß.
„Ich verstehe nicht, daß die beiden so ruhig sind“, sagte er, mit dem Daumen nach achtern deutend. „Das muß doch selbst dem Seewolf auf die Nerven gehen, zumindest aber Ben. Aber die tun fast so, als hätten wir das schönste Wetter.“
„Denen geht es auch nicht anders als uns“, versicherte Carberry. „Nur merkt man es ihnen nicht an. Habt ihr übrigens schon mal festgestellt, aus welcher Richtung der Wind weht? Seht doch einmal in die Takelage!“
An Deck war kein Windhauch mehr zu spüren, und doch waren die Segel schwach mit Wind gefülllt, und drängten das Schiff immer weiter vorwärts durch das schwarze Wasser. Unheimlich war das, nervenaufreibend. Woher wehte der Wind, den man nicht spürte, den man nicht hörte? Kam er aus jenem schmalen Himmelstreifen, der wie ein kleiner gelber Riß aussah?
Die See vor der „Isabella“ ließ sich kaum noch erkennen. Sie schien in ein riesiges Tor hineinzufahren, in die Wolken, wie der alte O’Flynn schon gesagt hatte. Schon jetzt reichten die Mastspitzen bis weit in den Himmel und verschmolzen mit ihm. Der Ausguck im Großmars war nicht mehr zu sehen.
„Dan!“ schrie der alte O’Flynn plötzlich voller Entsetzen. „Dan, melde dich!“
Alles blieb ruhig. Es folgte keine Antwort. In den Gesichtern der Männer spiegelte sich das Grauen.
Sie alle dachten an die Geschichte, die der Alte vorhin erzählt hatte. Von den Schiffsjungen, die als Greise wieder aus dem Großmars zurückgekehrt waren.
„Dan!“ brüllte er noch einmal.
„Was ist denn los?“ Die Stimme ertönte aus einer diffusen Nebelwand, die fahlgelblich schimmerte. Sie klang weit entfernt. Zu sehen war Dan immer noch nicht.
„Junge!“ keuchte Old Flynn. „Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Was siehst du, Dan?“
„Überhaupt nichts. Ich glaube, ich befinde mich irgendwo im Himmel. Ich sehe nichts mehr!“
„Enter sofort ab!“ donnerte der Alte.
„Ich darf den Ausguck nicht verlassen“, widersprach Dan.
„Und ich sage dir, verdammt noch mal, du sollst sofort abentern, nur ganz kurz, dann kannst du wieder aufentern.“
„Möchte wissen, was in den Alten gefahren ist“, nörgelte Dan vor sich hin. Aber er gehorchte, denn vor dem alten Donegal hatte er immer noch gehörigen Respekt.
Er enterte die Wanten ab, bis sie ihn alle sahen.
„Und jetzt?“ fragte Dan.
„Jetzt kannst du wieder aufentern. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet.“
Kopfschüttelnd verschwand Dan wieder. Er hatte den Großmars noch nicht ganz erreicht, da war er wie durch Zauberei verschwunden. Der Alte sah richtig erleichtert aus, er stieß einen langen Seufzer aus.
Hasard sah dem Treiben mit stoischer Ruhe und Gelassenheit zu. Was soll’s? dachte er. Ich kann es ja doch nicht ändern. Sollen sie sich meinetwegen die Köpfe heiß reden. Einmal werden sie sich schon wieder beruhigen. Und ich selbst fühle mich ja auch nicht ganz wohl in meiner Haut, wenn ich ehrlich zu mir bin.
Zu allem Überfluß begann es am Bug, des Schiffes leicht zu schaben und zu kratzen. Das Schaben verstärkte sich und wurde lauter.
„Gott steh uns bei“, murmelte Carberry und schlug mit den Fingern ein Kreuz in die Luft.
„Tiefe ausloten!“ rief Hasard laut. „Beeil dich, Smoky!“
Smoky schien ihn gar nicht gehört zu haben. Mit schreckgeweiteten Augen lauschte er dem unheimlichen Geräusch nach.
Da war es schon wieder. Die „Isabella“ hob sich ein wenig höher aus dem Wasser. Das Schaben und Kratzen lief an der Steuerbordseite entlang, dann hörte es auf.
Erst jetzt gehorchte Smoky. Blitzschnell lief er nach Backbord und feuerte das Lot über Bord. Es lief ab, bis er den Rest der Lotleine in der Hand hielt.
„Mehr als fünfzig Faden“, verkündete er.
Der Seewolf warf dem Deckältesten einen strengen Blick zu.
„Das nächste Mal etwas schneller, Smoky, verstanden?“
„Aye, aye, Sir, Verzeihung!“
Wieder ein ganz feines Schaben am Schiffsrumpf. Ferris Tucker begannen sich die Haare zu sträuben. Carberrys Gesicht überzog sich mit einer fahlen Blässe. Die anderen duckten sich unwillkürlich hinter das Schanzkleid, als würde gleich der Teufel persönlich seine Klauen nach ihnen ausstrecken.
„Meermänner“, flüsterte der Profos.
Es kostete ihn eine unwahrscheinliche Überwindung, über Bord zu sehen. Jeden Augenblick glaubte er, dort einen Kopf aus dem Wasser ragen zu sehen, den Kopf eines Meermannes, wie sie seit eh und je durch die Geschichten der Seefahrt geisterten. Aber er sah nichts. Dennoch wurde das Schaben und Kratzen wieder lauter.
„Es müssen mehrere sein“, sagte er leise. „Sie sehen einem Menschen verblüffend ähnlich, nur der Unterkörper läuft ähnlich spitz zu wie bei einem Fisch. Manche sind den Seeleuten wohl gesonnen, andere wiederum bösartig.“
Das hatten die anderen auch schon gehört. In den Kneipen erzählte man davon, daß es im geheimnisvollem Sargassomeer etliche von ihnen geben sollte. Sogar Nathaniel Plymson, der feiste Wirt von der „Bloody Mary“, kannte sie.
Aber zum Glück hatte der Profos ein Rezept gegen sie.
„Kutscher!“ befahl er mit heiserer Stimme. „Lauf schnell in die Kombüse und bringe eine leere Flasche mit. Verschließe sie gut!“