Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
Читать онлайн книгу.gelegt – und die Wiege, lieber Daddy … der Mann betont mir viel zu oft, daß er zeit seines Lebens in guten Verhältnissen gelebt hätte – also hat er nicht. Er hat wahrscheinlich allerhand Saures geschluckt, bis sie ihn an das Süße herangelassen haben. Na, nun schmatzt er … Was? Natürlich hat er das vergessen, das mit dem Sauern. Ach, das tun sie ja alle. Erinnerung – Junge, Erinnerung … das ist ein alter Leierkasten. Die Leute haben doch heute ihr Grammophon! Wenn man nur mal rauskriegen könnte, wie so einer langsam was geworden ist – so einer wie der Chef –, wie das so vor sich geht … Verheiratet ist er nicht … und wenn er eine Frau hätte, die könnte es einem ja auch nicht sagen, weil sie nichts gemerkt hat. Sie fände es selbstverständlich, und vom Aufstieg wollen sie ja alle nichts hören, weil sie damit zugeben würden, daß ihre Ahnen noch ohne Visier herumgelaufen sind. Aufstieg … das sagen sie bloß, wenn sie einem keine Gehaltserhöhung geben wollen.«
Also sprach die kluge Prinzessin Lydia und beendete ihre Rede mit einem herrlichen –
Hier hatte die Prinzessin den Schluckauf.
Dann wollte sie vom Boden hochgezogen werden; dann stand sie allein auf, mit einem schönen gymnastischen Schwung – und dann krochen wir langsam zurück durch den Wald. Wir standen uns nach Haus, an jeder Schneise blieben wir stehn und hielten große Reden; jeder tat so, als ob er dem andern zuhörte, und er hörte ja auch zu, und jeder tat so, als bewunderte er den Wald, und er bewunderte ihn ja auch – aber im allertiefsten Grunde, wenn man uns gefragt hätte: wir waren nicht mehr in der großen Stadt und noch nicht in Schweden. Aber wir waren beieinander.
Da lag das erste Haus von Mariefred. Ein Grammophon kratzte sich eins. »Es ist hier zur Erholung, das Grammophon«, sagte die Prinzessin ehrfürchtig. »Hörst du – es ist noch ganz heiser. Aber die Luft hier wird ihm guttun.« – »Hast du Hunger, Lydia?« – »Ich hätte gern … Peter! Daddy! Allmächtiger Braten! Wie heißt der Genetiv von Smörgås … Ich möchte gern etwas Smörgåssens … achgottachgott!« Und dies bewegte uns sehr, bis wir bei Tisch saßen und die Prinzessin alle vier Fälle des schwedischen Vorgerichts herunterdeklinierte.
»Was machen wir nach Tisch?« – »Das ist eine Frage! Nach Tisch gehn wir schlafen. Karlchen sagt auch immer: in den Taghemden ist so viel Müdigkeit … man muß sich völlig ausziehn und schlafen. Dann schläft man. Und das ist eben Erholung.« – »Sage mal … sitzt dein Freund Karlchen noch immer beim Finanzamt im Rheinland?«
Ich sagte, er säße. »Und woanz ist diesen Mann denn nu eigentlich?« – »Lieber Mann«, sagte ich zur Prinzessin, »das ist vielleicht ein Mann! Aber das darf man ihm nicht sagen – sonst wachsen ihm vor Stolz Pfauenfedern aus den Ohren. Das ist ein … Karlchen ist eben Karlchen.« – »Keine Erklärung. So schwabbelt mein Konsul auch immer, wenn er was nicht sagen will. Ich für mein Teil gehe jetzt ins Bett, schlafas.« Ich hörte sie noch nach der Melodie von Tararabumdiä singen:
»Da hat das kleine Pferd
sich plötzlich umgekehrt
und hat mit seinem Stert
die Fliegen ab-ge-wehrt –«
Dann rauschten uns die Bäume in Schlaf.
Nachmittags standen wir vor dem Schloß – Touristen kamen und gingen.
Wir wandelten in den »innern Burggarten«; da war ein zierlicher Brunnen in der Mitte, kleine Erker klebten an den Mauern – man hatte an dem Schloß herumrestauriert … schade. Aber vielleicht wäre das Ganze sonst eingefallen; so alt war es schon.
Ein großer Tourenwagen fuhr vor.
Ihm entstieg ein jüngerer Mann, dann folgten zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, und dann wurde ein dicker Herr aus dem Fond gekratzt. Sie sprachen deutsch und standen etwas ratlos um den Wagen herum, wie wenn sie vom Mond gefallen wären. Dann sprach der Dicke hastig und laut mit dem Chauffeur. Der verstand ihn zum Glück nicht.
Sie lösten Karten für das Schloß. Der Führer war schon nach Hause gegangen, und man ließ sie allein pilgern. »Lydia …«, sagte ich. Wir gingen nach.
»Was willst du machen?« fragte Lydia, und dabei senkte sie die Stimme, so gut hatte sie mich verstanden. »Ich weiß noch nicht«, sagte ich. »Es wird mir schon etwas einfallen … Komm mit.« Die Touristen standen im großen Reichssaal, sie sahen zur getäfelten Decke auf, und eine der Damen sagte so laut, daß es hallte: »Ganz nett!« – »Offenbar schwedischer Stil!« sagte der Dicke. Sie murmelten. »Wenn sie jetzt noch fragen, ob das alles hier gebaut ist … Rasch!« – »Wohin?« – »Komm dahin, wo der große Brunnen ist. Irgend etwas müssen wir da aufführen …«
Man hörte sie schlurren und husten – dann waren wir außer Hörweite. Wir gingen leise und schnell.
Da war ein großer, runder Raum, mit einer Holzgalerie, und in der Mitte des fest gestampften Bodens lag eine kreisrunde Holzscheibe: der Eingang zum Verlies. Und da fanden wir eine Leiter. Lydia half, wir setzten die Leiter an – hurra! Sie stand. Also sehr tief konnte es nicht sein. Ich kletterte hinunter, gefolgt von den spöttisch-bewundernden Blicken der Prinzessin. »Grüß die Fledermäuse!« – »Hol din Mul!« sagte ich. Ich kletterte – ein ganzes Endchen … ein amerikanischer Filmkomiker mimt den Feuerwehrmann, so sah das aus, und mir war gar nicht komisch zu Mute, wohin ging das hier? Aber für einen Spaß ist uns nichts zu teuer. Dunkelheit und Staub. Nur der runde Schein von oben … »Bitte Streichhölzer! Aus deiner Tasche!« Die Schachtel kam herunter und fiel mir auf die Füße. Ich suchte und stieß mir den Kopf an der Leiter – dann hatte ich sie. Ein Flämmchen … das war also doch ein großer Raum, an der einen Wandseite waren Ringe in die Mauer gelassen; offenbar hatten sie hier ihre Gefangenen nicht in drei Stufen gebessert, sondern gleich in einer einzigen … Und da war auch ein zweites Brunnenloch.
»Lydia?« – »Ja?« – »Zieh die Leiter auf – kannst du das? Ich werde dir helfen. Ich hebe an – horupp! So … hast du?« Die Leiter war oben. »Stell sie weg!« Ich hörte, wie die Prinzessin mit der Leiter wirtschaftete. »Setz die runde Scheibe wieder auf, kannst du? Und versteck dich.« Nun war es ganz dunkel. Schwarz.
Das ist merkwürdig, wenn man so etwas nicht gewöhnt ist. Im Augenblick, wo man in völliger Dunkelheit steckt, belebt sich das Dunkel. Nein, man erwartet, daß es sich belebt; man fürchtet das und sehnt sich nach dem Belebenden. Ich räusperte mich leise, zum Zeichen, daß ich auch noch da wäre, jedoch keine feindlichen Absichten hegte … Ich tastete mich umher. Da war ein Nagel an der Wand, von dem wollen wir nicht fortgehn … He? Da waren sie. Man hörte deutlich die Stimmen; die Holzscheibe war nur dünn.
»Hier ist nichts«, sagte eine Stimme. »Wahrscheinlich ein Brunnen – für die Belagerung oder so. Sehr interessant. Na, gehn wir weiter. Hier ist nichts.«
Hier wird gleich was sein. »Huuuuuuu –«, machte ich. Oben wurde es totenstill. Die schleppenden Fußschritte waren verstummt. »Was war das?« sagte jemand. »Hast du das gehört?« – »Ja, mir war auch so – wahrscheinlich nur so ein Klang –«
»Huuuuuuu-aa-huuuuuuu –!« machte ich von neuem.
»Adolf, um Gottes willen – vielleicht ist hier ein Tier eingesperrt, ein Hund – komm weg!« – »Na, erlaube mal, das gibt’s doch nicht! Ist – ehö – ist da jemand?« – Ich blieb so still. »Eine Täuschung«, sagte eine Männerstimme. »Komm – da war ja nichts«, sagte der andre der Männer. Und da dachte ich an die Löwen in den Zoologischen Gärten vor der Fütterung, holte tief Atem und begann zu röhren: »Huuuuuu-brru-aa-huuuuuuuah!« –
Das war zuviel. »Hi!« kreischte oben eine Frau, und dann gab es ein eiliges Gestiefel, einer sagte noch schnell: »Aber das ist doch – das muß doch geklärt werden … werden gleich unten mal fragen … Unerhört – das ist doch … tte. Nicht« – »Komm hier weg! Was müssen wir auch in alle Schlösser …« Fort waren sie. Da stand ich in meiner Dunkelheit. Mucksmäuschenstill.
Ganz leise: »Lydia?« … Nichts. Ein wenig Kalk rieselte von der Mauer. Hm … Ein Ton? Hier ist doch alles aus Holz und Stein; das klingt doch nicht. Ich lauschte. Mein Herz klopfte um eine Spur schneller, als ich ihm das erlaubt hatte. Nichts. Man soll keine Leute erschrecken, siehst