Aus meinem Jugendland. Isolde Kurz

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Aus meinem Jugendland - Isolde Kurz


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Es war ein maßloser Schmerz wie ein erzwungener ewiger Verzicht auf alle Freuden dieser grünen Erde. Und Mama begriff ihr dummes kleines Mädel nicht, das nur mit Mühe unter Aufbietung allen Stolzes den Tränen wehrte. Kann aber ein Erwachsenes, auch das liebevollste, nachfühlen, was jenes Nichtdabeisein dem Kinde bedeutete?

      Und nun läuten auf einmal in meiner Erinnerung Osterglocken. Aus München, wohin mein Vater sich auf ein paar Wochen zu seinem Freund Paul Heyse begeben hatte, kam die Heilsbotschaft, daß wir alle binnen kurzem nach der großen bayrischen Kunstresidenz übersiedeln würden, wo uns endlich ein freies, ein wahrhaft menschenwürdiges Leben erwartete. Dort würden die Eltern einen gleichgesinnten, fein gebildeten Freundeskreis finden, die Buben Mittel zum Studieren, ich die Gelegenheit, das Kunsttalent, das man mir zuschrieb, weil ich noch immer eifrig für mich zeichnete, auszubilden. Die Mutter ging in einem beständigen Glücksrausch umher. Aber das Verheißungsland versank, wie es aufgetaucht war; wie und warum, steht in meines Vaters Lebensgeschichte. Es war der höchste Wellenberg der Hoffnung, den unser Schifflein je erkletterte, und nun schoß es jäh in einen trostlosen Abgrund hinunter, in dem mein rasches Mütterlein schon den Untergang sah. Doch es tauchte wieder auf und schwamm einem nicht so verlockenden, aber sicheren Hafen zu, dem alten Tübingen, wo unser Vater vor Jahresschluß einen Bibliothekarsposten an der Universität antrat.

       Inhaltsverzeichnis

      Den Ort, an den mich jetzt meine Erinnerung führt, würde man heute auf Erden vergeblich suchen. Zwar hat sich mein altes Tübingen äußerlich nicht allzuviel verändert. Seine Gestalt ist durch den hügeligen Boden, der es trägt, und durch die geschlossenen Linien des mittelalterlichen Städtebaus für alle Zeiten festgelegt. Noch immer spiegelt sich die hohe und steile Giebelreihe der Neckarfront mit dem aus der Asche von 1875 wiedererstandenen Hölderlinsturm in dem still ziehenden Fluß, und unverrückt steht auf der höchsten Hügelkuppe Schloß Hohentübingen mit seiner gestreckten Masse und den stumpfen Türmen, die noch die Spuren Turennes und Melacs am Leibe tragen. Und die beherrschende Stiftskirche auf einem steilen, hochgemauerten Vorsprung reckt sich trotzig wie ein gewappneter Erzengel im Stadtinnern empor. Solche Züge sind unverwischbar. Aber was diesen Zügen in den sechziger und siebziger Jahren ihren ureigenen geistigen Ausdruck gab, die mittelalterliche Romantik, ist für immer daraus verschwunden. Das Studentenleben hat sich in die häßlichen Korporationshäuser auf den Anhöhen zurückgezogen, die für die weichen, niederen Hügel viel zu groß sind und laut aus der Harmonie des Ganzen herausfallen. Damals spielte sich dieses Leben noch in den krummen und steilen Straßen ab, wo das Treiben und Tollen niemals ruhte. Zwar seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Trunk, lag der Musensohn, mit Ausnahme der beliebten „Naturkneipereien“ auf dem Wöhrd oder dem Schänzle, auch damals im geschlossenen Raume ob, aber die Folgen tobten sich im Freien aus. Es sang und klang straßenauf und -ab, noch öfter brüllte und grölte es. Dann gab es die Anrempelungen mit nachfolgender „Kontrahage“ nach dem berühmten Muster: Geschah das mit Vorsatz? — Nein, mit dem Absatz — und solche Scherze mehr. Ferner die Keilereien zwischen Farben, die sich nicht leiden mochten, und endlich die ganz großen Studentenschlachten, wo die gesamte Studentenschaft einmütig gegen die Obrigkeit oder das Philisterium, oder was sonst in ihre Vorrechte eingegriffen hatte, zu Felde zog.

      Gleichfalls ein Augenblick vollkommener Eintracht war es, wenn die Schwarzwaldflößer an Tübingen vorüberfuhren. Sobald flußaufwärts die Spitze eines Floßes erschien, füllte sich die Neckarbrücke und der alte Hirschauer Steg mit Studenten, die der Anblick wie mit Besessenheit ergriff. Und so lange sich unten der vielgliedrige Wurm, von mächtigen Gestalten in hohen Flößerstiefeln gesteuert, vorüberschob, brüllte es oben von den Brücken und aus den Fenstern der Neckarhalde in langgezogenen Tönen: „Jockele, sp-e-e-e-err!“ und dann schneller: „Jockele sperr, ’s geit en Aileboga!“ (Ellbogen). Entferntere hingen, um nicht unbeteiligt zu bleiben, gewaltige Schaftstiefel zu den Neckarfenstern heraus, was die Flößer gleichfalls zu erbosen pflegte. Der Jockele war für seine saftige Grobheit in Schwarzwälder Mundart berühmt, zu meiner Zeit aber war er es schon müde geworden, auf den jahrhundertealten Ruf zu antworten. Schweigend, in philosophischer Ruhe steuerten die Riesen mit langen Stangen ihre Flöße zwischen den Pfeilern der Neckarbrücke durch, noch eine lange Strecke verfolgt von dem Gebrüll, in das auch die Gassenjugend einstimmte.

      Ein anderer löblicher Brauch war, des Nachts die Laternen zu löschen und zu zerschlagen oder das Brennholz, die sogenannte „Scheiterbeig“, die nach Urvätergewohnheit vor den Häusern aufgestapelt lag, zu verschleppen. Kam der Nachtwächter oder ein Polizeidiener hinzu, so gab es tausend Mittel, ihn an der Haftbarmachung der Schuldigen zu verhindern. Es war der Geist der süßen Zwecklosigkeit, der die Jugend von dazumal beseelte und ihr als höchster Lebenswert erschien. Immer blieb der Mann der Ordnung der Geprellte, und der Philister selbst, obgleich der Schabernack sich gegen ihn richtete, stand mit seiner geheimen Sympathie auf seiten der Studenten. Die Menschheit zerfiel damals in zwei Hauptgattungen, die zugleich ihre äußersten Pole darstellten: Student und Philister. Aber beide brauchten einander, waren in jahrhundertelangen Reibereien einer um des anderen willen da. Als eine der ältesten und kleinsten Universitäten, dazu ganz abseits der größeren Verkehrswege gelegen, hatte Tübingen noch gewisse studentische Überlieferungen, die weit ins Mittelalter zurückgingen; im Untergrund des studentischen Bewußtseins lebte noch ein Rest vom Geiste der Fahrenden, dem auch gelegentliches „Schießen“ (Stehlen) zum Schaden der Philister nicht für unehrenhaft galt. So schwärmte eines Tages eine Schar Musensöhne über die Wiesen nach Lustnau aus und fand unterwegs in einem Wässerlein zwölf wohlgenährte Enten lustig schwimmend. Nur eine davon sah der Besitzer wieder. Sie trug einen Zettel am Hals mit den Worten:

      Wir armen zwölf Enten

      Sind gefallen unter die Studenten,

      Ich zwölfte komm zurück allein

      Und bring’ von elf den Totenschein.

      Die Geschichte stammt allerdings aus einer älteren Zeit, wäre aber in jenen Tagen noch ebensogut möglich gewesen. Auch hochverehrte Lehrer wurden nicht geschont. So hatte einmal der berühmte Kliniker Niemeier, einer der wenigen norddeutschen Professoren, die es in Tübingen zu großer Volkstümlichkeit brachten, in der Neujahrsnacht, wo der Spuk am wildesten tobte, ein fettes Gänslein am Küchenfenster hängen, das beim morgigen Festschmaus prangen sollte. Da wurde er in der Nacht herausgeschellt, und als sein Kopf am Fenster erschien, rief eine näselnde Stimme hinauf: Prosit Neujahr, Herr Professor, und geben Sie acht auf Ihre Gans, daß sie nicht gestohlen wird. Der Angerufene verstand und machte gute Miene. Prosit, Herr Kepler, rief er zurück, ich habe Sie an der Stimme erkannt. Lassen Sie sich die Gans gut schmecken, aber stören Sie die Leute lieber nicht im Schlaf.

      Dieser selbe Kepler, der auch in meinem Elternhaus verkehrte und später als Arzt nach Venedig ging, führte überhaupt ein bewegtes Leben. Er war der Held einer Anekdote, die in Tübingen unvergeßlich bleibt. Als er einmal nahe der Neckarbrücke mit ein paar Freunden im Freien badete, erschien die Polizei, beschlagnahmte die Kleider und wollte die Übeltäter verhaften. Diese entsprangen und rannten splitternackt das Ufer entlang bis nach Kirchentellinsfurt, wo sie endlich festgenommen wurden. Da es aber keinen Paragraphen gegen das Nacktgehen gab, so verdonnerte sie eine weise Behörde „wegen Vermummung bis zur Unkenntlichkeit“.

      Zum Charakterbild des alten Tübingen gehört aber noch eine dritte dort lebende Menschengattung von urtümlichster Beschaffenheit, die weder dem Studenten noch dem Philister hold war, die man sich aber aus dem dortigen Leben nicht wegdenken kann: nämlich die in den malerischen Schmutzwinkeln der Unteren Stadt oder „Gôgerei“ wohnenden „Wingerter“ (Weingärtner), auch „Gôgen“ oder „Raupen“ genannt. Woher diese beiden Bezeichnungen kommen, weiß niemand, eine theologisch gefärbte Etymologie will die Gôgen auf das biblische Gog und Magog zurückführen. Was die Raupen betrifft, so soll der Name gar eine


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