Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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unendlichen Drehsystem, der absolute Stillstand innerhalb einer unsichtbaren, aber wilden Kreisbewegung der Todfeindschaft. Heute aber, da die Ochsenkarren, Packesel, Menschenhaufen von allen Seiten in das Tal der Bergdörfer strömten, war die Bewegung um den toten Punkt höchst sichtbar geworden. Was bedeutete diese Überflutung? Der Kaimakam, der die Stunde gekommen sah, sich durch eine vorbildliche politische Tat in die erste Reihe der Partei zu stellen, hatte einen neuen starken Faden in das Todesgeflecht des armenischen Schicksals gewirkt. Es handelte sich hierbei um die arabische Nationalbewegung, die seit einiger Zeit den syrischen Behörden viel zu schaffen machte. Weitverbreitete Geheimbünde, wie El Ahd, »Der Schwur« und »Die arabischen Brüder« betrieben eine feurig wirksame Propaganda gegen Stambul, mit dem Ziel, alle arabischen Stämme dereinst zu einem selbständigen und unabhängigen Staat zu vereinen. Hier wie überall in der Welt war der herrschende Nationalismus am Werke, um ideenerfüllte, ja religiöse Reichsgebilde in ihre armseligen biologischen Bestandteile aufzulösen. Das Kalifat ist eine Gottesidee, das Türken-, Kurden-, Armenier-, Arabertum aber nichts als eine irdische Tatsache. Die Paschas der alten Zeit wußten genau, daß der Gedanke der übergeordneten geistigen Einheit, der Gedanke des Kalifats, erhabener sei als der besessene Fortschrittswahn einiger Streber. In der verlästerten Trägheit des alten Reiches, in dem Geschehenlassen, in der verschlafenen Käuflichkeit lag eine behutsam weise und entsagende Staatsräson, die ein kurzsichtiger Westler, dem es um schnelle Wirkung ging, gar nicht begreifen konnte. Die alten Paschas wußten mit feinstem Gefühl, daß sich ein edler, aber verfallener Palast nicht allzu viele Verbesserungen gefallen lasse. Den Jungtürken aber gelang es, das Werk von Jahrhunderten in einem Atemzuge zu zerstören. Sie taten das, was gerade sie als Beherrscher eines Völkerstaates niemals hätten tun dürfen! Durch ihren eigenen Nationalwahn erweckten sie den der unterworfenen Völker. Doch nicht mit irdischen Toren sei gerechnet. Wie trüb ist das Auge, das hinter dem Drama den Autor nicht ahnen darf! Die Menschen wollen, was sie müssen. Die großen übernatürlichen Reichsbindungen sind zerrissen. Dies bedeutet nur, daß Gott wieder einmal die Schachpartie, die er mit sich selbst spielt, zusammengeworfen hat, um die Figuren neu aufzustellen.

      Der arabische Nationalismus war jedenfalls im Vormarsch. Vom Süden her durchdrang er das türkische Reich bis an die Linie Mossul, Mersina, Adana. In den syrischen Vilajets mußte man mit ihm gewaltig rechnen, denn schon verbreitete sich im Rücken und in der Flanke der Vierten Armee jene scheelsüchtige Aufsässigkeit, die für eine operierende Heeresmacht die höchsten Gefahren in sich schließt. Der Krawall gegen den armen Bimbaschi von Antakje stand bereits heimlich im Zusammenhang mit dieser Stimmung. Der Kaimakam hatte nun den guten Einfall, die immer unbotmäßigere arabische Bevölkerung seines Bezirkes auf Kosten der Armenier für sich zu gewinnen. Zugleich auch hoffte er, durch Neuentflammung des islamischen Fanatismus an sein Ziel zu kommen. Das armenische Eigentum war kraft des Verschickungsgesetzes samt und sonders dem Staate verfallen; so stand es wenigstens auf dem Papier. In Wirklichkeit aber blieb es dem Ermessen der Provinzbehörden überlassen, damit zu machen, was sie wollten. Der Kaimakam von Antakje schickte schon am ersten Tage nach der Niederlage der Truppen seine Beamten in alle Kreise mit starker arabischer Bevölkerung, die nicht allzu fernab vom Musa Dagh lagen. Dort ließ er verkünden, daß der fruchtbarste Landstrich Syriens zwischen Suedja und dem Ras el Chansir mit Wein- und Fruchtgärten, mit Raupen- und Bienenzucht, mit Wasser- und Holzreichtum, mit Häusern und Höfen an alle diejenigen unentgeltlich verteilt werden solle, welche sich am übernächsten Tage rechtzeitig in dem armenischen Tale einstellen würden. Die Müdirs deuteten geschickt an, daß man dem fleißigen arabischen Landwirt den Vorzug vor dem Türken geben werde.

      Dies war der Grund der überraschenden Völkerwanderung. Der Kaimakam traf höchstpersönlich ein und blieb bis auf weiteres in Yoghonoluk, um die Aufteilung zu überwachen und sich bei den arabischen Notabeln einzuschmeicheln. Er bezog die Villa Bagradian, nachdem man den Mohadschir und seine Sippe hinausgeworfen hatte. Nach achtundvierzig Stunden waren die Dörfer ebenso dicht bevölkert wie früher. Reich gewordene Araber und Türken verbrüderten sich. Niemals hatten sie schönere Häuser gesehen. Es war beinahe zu schade, darin zu wohnen. Aus den Kirchen hatte man im Handumdrehen Moscheen gemacht. Schon am ersten Abend fand ein Gottesdienst statt. Die Mollahs dankten Gott für den neuen herrlichen Besitz, den freilich ein Schatten trübe, das freche Leben der unreinen Christenschweine dort oben auf dem Berg. Es sei die Pflicht jedes Gläubigen, sie zu vertilgen. Dann erst würde man sich des üppigen Gutes in gerechter Frömmigkeit erfreuen dürfen. Die Männer verließen mit funkelnden Augen die Moscheen. Auch sie wünschten heiß, der beraubten Vorgänger schnell ledig zu sein, damit ein leises, recht unbehagliches Mißgefühl aus ihren anständigen Bauernseelen verschwinde.

      Finster, aber gleichgültig betrachteten die Verteidiger des Musa Dagh den Untergang ihrer Heimat.

      Was war mit der Zeit geschehen? Wieviel Ewigkeiten brauchte ein Tag, bis er sich in der Nacht verkrochen hatte? Und wie schnellfüßig war noch der Tag gegen die Schnecke Nacht? Wo war Juliette? Wohnte sie schon lange in diesem Zelt? Hatte sie überhaupt jemals in einem Hause gewohnt? Hatte sie einmal in Europa gelebt? Wer war Juliette? Dieses Wesen war sie gewiß nicht, das unter dem Bergvolk gefangen saß. Dieses Wesen war sie gewiß nicht, das allmorgendlich mit der gleichen entsetzten Verwunderung erwachte. Eine weiße müde Gestalt glitt vom Bett, trat auf den Teppich, nahm einen Schlafrock um und setzte sich auf den Klappstuhl vor den kleinen Spiegeltisch, um ein fahles und doch von der Sonne versehrtes Gesicht zu bestarren. War es denn möglich? Konnte dieses Gesicht mit den matten Augen, den ausgetrockneten Haaren und dem verbrannten Teint einem jungen Menschen gefallen? Seit einigen Tagen entließ Juliette ihre Mädchen schon am frühen Morgen. Dann begann sie mit angstvollen Händen, als begehe sie ein Verbrechen, sich mit den Resten ihres Essenzenschatzes ein wenig herzurichten. Endlich zog sie sich an, band eine große Schürze vor ihr Kleid und schlang ein weißes Tuch um den Kopf wie eine Haube. Seitdem sie im Lazarettschuppen arbeitete, trug sie keine andere Gewandung mehr. Haube und Schürze taten ihr moralisch wohl. Sie empfand sie wie eine Uniform, die ihrer Stellung auf dem Damlajik äußerlich am gemäßesten war.

      Ehe Juliette das Zelt verließ, warf sie sich vor ihrem Bett nieder und umarmte das Kopfkissen, noch einmal den wachen Tag von sich weisend. Früher, vor Tagen (Jahren?), war sie nur ganz verloren und unselig gewesen. Jetzt aber sehnte sie sich nach jener Unseligkeit ohne Schuld zurück. Noch nie, seitdem die Welt bestand, hatte sich eine Frau so niedrig benommen wie sie. Und eine ehrbare, eine selbstbewußte Frau, der in langer Ehe niemals ein »Erlebnis« nahegekommen war. Wären aber nicht hundert Erlebnisse und Liebesabenteuer in Paris läßliche Bagatellen gewesen gegen diesen allergemeinsten Verrat in Angesicht des Verzweiflungskampfes und sicheren Todes? Wie ein kleines Mädchen flüsterte Juliette ins Kissen: »Ich kann nichts dafür.« Doch was half ihr das? Sie war durch einen Machtspruch, den sie nicht kannte, in der unerbittlichen Fremde dem anheimgegeben, was ihr verwandt erschien. Wie um eine Gegenkraft in sich zu erzeugen, rief sie halblaut: »Gabriel!« Aber Gabriel war ebensowenig vorhanden wie Juliette. Sein wahres Bild konnte sie immer seltener aus dem verblaßten Photographienalbum ihrer Erinnerung hervorholen. Und der fremde, bärtig braune Armenier, der sich dann und wann zu ihr setzte, was hatte der mit Gabriel zu schaffen? Juliette erschrak über ihre Tränen, wusch die Augen sorgfältig und wartete, bis sie nicht mehr rot und häßlich waren.

      Bedros Altouni hatte alle Verwundeten, die nicht schwer fieberten, fortgeschickt oder in ihre Hütten tragen lassen. Wenn er diese Maßnahme auch nicht näher begründete, so lag doch ein heikler Anlaß dafür vor. Der armenische Sieg vom 14. August hatte sich blitzschnell in den Ebenen und Gebirgen Nordsyriens herumgesprochen. Insbesondere den Fahnenflüchtigen, die sich auf anderen Bergen ringsum noch versteckt hielten, war er sehr zu Herzen gegangen. Tatsächlich meldeten sich schon am nächsten Tage zweiundzwanzig neue Deserteure bei den vorgeschobenen Posten und verlangten Aufnahme in die Kämpferreihen. Gabriel Bagradian, der wegen Verrates und Spionage auf der Hut sein mußte, prüfte die Kandidaten eingehend. Da sie sich durchwegs als Armenier ausgaben, da jeder ein Mausergewehr und Munition besaß, da man ferner die Verluste ersetzen mußte, nahm er alle Zuzügler an. Unter ihnen befand sich auch ein sehr junger Mann, der einen verwirrten und benommenen Eindruck machte. Er behauptete, erst vor vier Tagen aus einer Infanteriekaserne von Aleppo geflohen zu sein und den beschwerlichen Fußmarsch schlecht überstanden zu haben. Am Abend bereits erschien der junge Mensch totenblaß im Lazarett bei Bedros Hekim und brach, nachdem er Unverständliches


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